









Hanau war kein Einzelfall. Seit 1990 werden rassistische Gewalttaten in Deutschland erfasst. Mehr als 200 Menschen sind seitdem durch rechtsextremistischen Terror getötet worden. Manche sind bereits wieder in Vergessenheit geraten.
Die Liste der rechtsextremen und rassistischen Anschläge in Deutschland ist lang. Duisburg, Mölln, Solingen, Halle, Hanau, die NSU-Mordserie oder die Ermordung Marwa El-Sherbinis, um nur wenige zu nennen. Seit 1990 werden rassistische Gewalttaten in Deutschland statistisch erfasst. Mehr als 200 Menschen sind seitdem Opfer rechtsextremistischen Terrors geworden, doch nicht alle wurden so eingestuft. Noch immer gibt es keine Lösung. Zurecht stellt sich die Frage: Was muss noch passieren? Im Gedenken an alle Opfer des Rassismus.
Der Brandanschlag in Duisburg ist kaum bekannt. In der Nacht vom 26. auf den 27. August 1984 wurde in einem Wohnhaus in Duisburg-Wanheimerort, in dem überwiegend aus der Türkei Eingewanderte wohnten, Feuer gelegt. Döndü Satır, Zeliha und Rasim Turhan, deren Sohn Tarık Turhan, sowie Çiğdem Satır, Ümit Satır und Songül Satır starben. 23 Menschen wurden verletzt. Rukiye und Aynur, zwei weitere Töchter der Familie Satır, überlebten schwerverletzt durch einen Sprung aus dem Fenster. Ebenso der Vater Ramazan Satır, der zum Zeitpunkt des Brandes außer Haus gewesen war.
Nachdem die Täterin lange nicht ermittelt werden konnte, gestand Evelin D. 1994 im Rahmen der Ermittlungen zum Brandanschlag auf ein Flüchtlingswohnheim in Duisburg- Hamborn am 26. Januar 1993 auch die Tat in Wanheimerort. Als Tatmotiv wurde Pyromanie ermittelt, die Täterin wurde nach dem Urteil vom 30. Dezember 1996 in die Psychiatrie eingewiesen, wo sie 2010 starb. Obwohl sich beide Taten gegen Migranten richteten, wurde ein politisches Motiv der Täterin ausgeschlossen. 2018 wurde der Fall wieder publik gemacht, wodurch ein möglicher rassistischer Hintergrund der Tat in den Fokus geriet.
Am 21.Dezember 1985 wurde Ramazan Avcı Opfer eines rechtsextremen Angriffs. Er war mit seinem Bruder und einem Freund auf dem Nachhauseweg, als er an einer Haltestelle, vor einer für Rechtsextreme berüchtigte Gaststätte, wartete. Als eine Gruppe von Rechtsextremisten auf sie aufmerksam wurde, kam es zu einer kleinen Rangelei, in der Gegenstände wie Bierflaschen rumflogen. Als Avci und seine Begleiter die Flucht ergriffen, werden sie mit einem Auto verfolgt. Avcis Bruder und sein Freund haben den Bus noch bekommen, doch Avci schaffte es nicht mehr und wurde von den Rechtsextremisten überfahren. Später stiegen sie aus und prügelten auf Avci ein, bis er bewusstlos wurde. Avci erleidet schwere Brüche am Schädel, Becken und an den Beinen. Trotz Notoperation konnte er sich nur drei Tage am Leben festhalten. Am 24. Dezember 1985 erlag er seinen Verletzungen.
Am 23. November 1992 setzten Neonazis ein von türkeistämmigen Menschen bewohntes Haus in der schleswig-holsteinischen Stadt Mölln in Brand. Bei dem Anschlag starben Bahide Arslan, Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz. Neun weitere Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Ein Täter musste lebenslänglich in Haft, sein jugendlicher Komplize zehn Jahre.
Der Anschlag von Mölln erregte weltweit Aufsehen. Die „Eulenspiegel-Stadt“ wurde zum Sinnbild für mörderischen Rassismus. In ganz Deutschland protestierten Menschen mit Lichterketten gegen den wachsenden Rechtsradikalismus. An der Trauerfeier für die Opfer nahmen am 27. November 1992 in Hamburg mehr als 10.000 Menschen teil. Die Ermittlungen zu dem Brandanschlag zog die Bundesanwaltschaft an sich – ein Novum. Der Anschlag sei dazu bestimmt gewesen, „die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen“, begründete Generalbundesanwalt Alexander von Stahl die Entscheidung.
Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht verurteilte die Täter am 8. Dezember 1993 wegen dreifachen Mordes in Tateinheit mit versuchtem Mord an sieben Menschen. Der 19-jährige Täter wurde zu zehn Jahren Haft nach dem Jugendstrafrecht und der 25-jährige Mittäter zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Brandstifter sind inzwischen beide wieder auf freiem Fuß.
Der Brandanschlag in Solingen ist einer der folgenschwersten rassistischen Anschläge in der Geschichte der Bundesrepublik. In der Nacht auf den 29. Mai 1993 wurden Gürsün Ince (27), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4) getötet. 14 weitere Familienmitglieder erlitten zum Teil lebensgefährliche Verletzungen. Die Opfer waren Töchter, Enkelinnen und eine Nichte von Mevlüde und Durmuş Genç, die Anfang der 1970er Jahre mit drei Kindern aus der Türkei nach Deutschland eingewandert waren. In Solingen bekamen sie zwei weitere Kinder und fanden dort auch ihren Lebensmittelpunkt.
Schon wenige Tage nach dem Anschlag wurden die Täter festgenommen: Vier männliche Jugendliche aus der Solinger Nachbarschaft, zwischen 16 und 23 Jahre alt. Alle vier waren schon zuvor mit rechtsextremen Sprüchen aufgefallen. Der international beachtete Prozess gegen die vier Angeklagten begann im April 1994 vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf. Nach 127 Verhandlungstagen wurden die Täter im Oktober 1995 wegen fünffachen Mordes, 14-fachen Mordversuchs und besonders schwerer Brandstiftung zu Jugend und Haftstrafen zwischen zehn und 15 Jahren verurteilt. In der Urteilsbegründung heißt es, dass die Morde aus niederen, rassistischen Beweggründen begangen wurden. Inzwischen haben die Täter ihre Strafen verbüßt und sind wieder auf freiem Fuß.
Am 9. September 2000 wurde Enver Şimşek auf offener Straße anschossen. Zwei Tage später stirbt er in einem Krankenhaus. Einen rechtsextremen Hintergrund erwägen die Beamten zunächst nicht. Erst elf Jahre nach dem Mord, als Fotos des schwer verletzten Şimşek in dem von Beate Zschäpe veröffentlichten Bekennervideo des „Nationalsozialistischen Untergrund (NSU)“ auftauchen, wird sein Tod aufgeklärt. Bis dahin hatten die Beamten auch in den darauffolgenden NSU-Mordfällen einen rechtsextremen Hintergrund der Verbrechen ausgeschlossen und im Umfeld der Opfer nach den Tätern gesucht.
Im November 2011 wurden die Leichen der Mittäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem Banküberfall in einem abgebrannten Wohnmobil aufgefunden. Mit der Identifizierung der Täter wird klar: Şimşek wurde aus einer rassistischen, islamfeindlichen Motivation heraus getötet. Nach Enver Şimşek tötet das NSU-Netwerk mindestens neun weitere Menschen: Abdurrahim Özüdoğru (13. Juni 2001, Nürnberg), Süleyman Taşköprü (27. Juni 2001, Hamburg), Habil Kılıç (29. August 2001, München), Mehmet Turgut (25. Februar 2004, Rostock), Ismail Yaşar (9. Juni 2005, Nürnberg), Theodoros Boulgarides (15. Juni 2005, München), Mehmet Kubaşık (4. April 2006, Dortmund), Halit Yozgat (6. April 2006, Kassel), Michèle Kiesewetter (25. April 2007, Heilbronn) Am 11. Juli 2018 endete in München der NSU-Prozess nach 438 Verhandlungstagen. Beate Zschäpe wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Im August 2008 wurde die ehemalige Handballerin und Apothekerin Marwa El-Sherbini von ihrem späteren Mörder auf einem Dresdner Spielplatz als „Islamistin“ und „Terroristin“ beschimpft. Nach einer Anzeige bei der Polizei kam es am 1. Juli 2009 zur Gerichtsverhandlung im Dresdner Landgericht, bei der die schwangere El-Sherbini als Zeugin aussagen sollte. Als sie den Gerichtssaal verlassen wollte, wurde sie vom Angeklagten mit 16 Messerstichen getötet – im Gerichtssaal, vor den Augen ihres Ehemanns und ihres Kindes. Auch ihr Mann wurde bei dem Angriff schwerverletzt.
Der dreijährige Sohn wurde Zeuge, wie seine Mutter verblutete. Der Angeklagte trug in seinem Rucksack unbemerkt ein Kampfmesser ins Gerichtsgebäude. Der Täter wurde wegen Mordes zu einer lebenslangen Haft verurteilt; die besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt. Im Prozess gegen Marwa El-Sherbinis Mörder benennt die Staatsanwaltschaft erstmals antimuslimischen Rassismus als zentrales Tatmotiv. Der 1. Juli ist in Deutschland, seit 2015 der „Tag gegen antimuslimischen Rassismus“ – in Gedenken an Marwa El-Sherbini.
Ein 28-jähriger Rechtsextremist hat versucht am 09. Oktober 2019, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, die Synagoge von Halle zu stürmen und ein Massaker anzurichten. Er warf Brand- und Sprengsätze und schoss auf die Zugangstür, gelangte aber nicht auf das Gelände.
Vor der Synagoge ermordete er dann die 40 Jahre alte Passantin Jana L. und in einem nahe gelegenen Döner-Imbiss den 20-jährigen Kevin S, weil er dachte er sei ein Muslim. Auf seiner Flucht schoss der Mann auf Polizisten, fuhr mit dem Fluchtwagen davon. Anschließend wurde er festgenommen. Ende Dezember wurde er zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Der 19.02.2020 wird als ein Tag des Schreckens in die Geschichte Deutschlands eingehen. An jenem Abend wurden Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kalojan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi und Fatih Saraçoğlu in Hanau von einem rechtsextremistischen Attentäter erschossen. Die Polizei findet den Attentäter später tot in der Wohnung seiner Eltern in der Nähe des letzten Tatortes. Auch seine eigene Mutter hat er getötet. Vor dem Anschlag hatte er Pamphlete und Videos mit Verschwörungstheorien und rassistischen Ansichten im Internet veröffentlicht.
Der 43-jährige Attentäter war aktiver Sportschütze und seit 2012 Mitglied im Frankfurter Schützenverein Diana Bergen-Enkheim. Warum er trotz einer psychischen Krankheit ein Waffenschein besitzen durfte, bleibt weiterhin ungeklärt.