Kopftuch

Welche Auswirkungen hat das EuGH-Urteil?

Das EuGH-Urteil entschied, dass das Kopftuch unter Umständen in Unternehmen verboten werden kann. Was sind diese „Umstände“ und was bedeutet das für die Einzelnen? Selma Öztürk Pinar hat die Antworten.

30
03
2017
Selma Öztürk-Pınar zum EuGH-Urteil © Selma Öztürk, bearbeitet by iQ.
Selma Öztürk-Pınar zum EuGH-Urteil © Selma Öztürk, bearbeitet by iQ.

Mit seiner jüngsten Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die langatmige Kopftuchdebatte ein weiteres Mal an den Tag gebracht. Das Urteil verbietet nicht nur unter bestimmten Umständen das Kopftuch in der Privatwirtschaft, es verwehrt auch jeder Art der sichtbaren Religiosität den Weg zu öffentlichen Räumlichkeiten. Der EuGH nimmt eine Abwägung zwischen der individuellen Religionsfreiheit des Arbeitnehmers und der unternehmerischen Freiheit des Arbeitgebers vor. Im Ergebnis wird dem Grundrecht der Religionsfreiheit – als eines der wichtigsten und elementarsten Grundrechte – weniger Gewicht beigemessen als dem Recht des Arbeitgebers. Letzterem wird von nun an Vorrang gewährt. Nachvollziehbar ist dieser Vorzug allerdings nicht wirklich. Denn sowohl die gegenseitige rechtliche Abwägungsfähigkeit als auch die Benachteiligung des Religionsgrundrechts ist rechtlich bedenklich.

Die Bindungswirkung des EuGHs

Auf europarechtlicher Ebene bedeutet das Urteil, dass sich die deutschen und alle Gerichte der EU-Mitgliedsstaaten bei der Beurteilung ihrer künftigen Entscheidungen an die Vorgaben des EuGHs als supranationales Organ halten müssen (sog. Bindungswirkung). Die Entscheidung der EuGH-Richter ist eine Richtschnur und schafft Rechtsklarheit für künftige inländische Verfahren. Wenn eine Streitigkeit vor nationalen Gerichten ausgetragen wird, müssen sich die Gerichte in ihrer eigenen Urteilsfindung auf dieses EuGH-Urteil berufen. Ob Arbeitgeber in Zukunft von solchen allgemeinen Verbotsregelungen Gebrauch machen und wie die Entscheidung nationaler Gerichte bei Streitigkeiten ausfällt, wird abzuwarten sein.

Neutralität oder Diskriminierung?

Das EuGH-Urteil gibt Arbeitgebern die Möglichkeit, mit einer allgemeinen Regelung alle sichtbaren religiösen und weltanschaulichen Zeichen in seinen Räumlichkeiten zu untersagen. Der Gerichtshof verlangt hier also eine Neutralitätsregel. Es dürfen nicht ausschließlich Kopftücher in Unternehmen verboten werden, sondern – wenn denn ein Verbot auf dem Arbeitsplatz gelten soll – sichtbare religiöse und weltanschauliche Zeichen aller Art. Der Arbeitgeber muss allen religiösen Bekundungen gegenüber auf gleiche neutrale Art und im gleichen ablehnenden Abstand auftreten. Mit dieser allgemeinen Verbotsregelung soll eine unmittelbare Diskriminierung kopftuchtragender Frauen vermieden werden. Problematisch ist an dieser Stelle allerdings, wie dieses allgemeine Verbot in der Lebensrealität angewendet werden und worauf sich neben dem Kopftuch ein Verbot im konkreten Fall noch beziehen soll.

Was fällt somit alles unter dem vom EuGH vorgegebenen, möglichen verbotenen Zeichen? Muss z.B. angelehnt an dieses Urteil eine Mitarbeiterin ihre Halskette mit einem Davidstern vor der Firmentür abnehmen oder sie mit einem Halstuch bedecken, damit dieses jüdische Zeichen für die anderen Mitarbeiter nicht sichtbar ist? Oder gar eine Kreuztätowierung an sichtbaren Körperteilen wie Arm oder Halsbereich entfernen lassen, weil es als christliches Zeichen gegen die Neutralitätspflicht des Unternehmens verstößt? Welcher Voll- oder Schnurbart eines Mitarbeiters ist religiös oder weltanschaulich und welcher nicht? Ungeklärt bleibt also, wo die Grenzlinie zwischen erlaubten und unerlaubten Zeichen zu setzen ist. Die Vermutung liegt nahe, dass bei der Vorgehensweise des Gerichts das sogenannte „Kopftuchproblem“ umgangen wird. Denn erfahrungsgemäß ist das, was als religiös, fremd, unzumutbar und unerwünscht empfunden wird, meist das Kopftuch, da dieses islamische Erkennungszeichen stets mit europäischen Werten als unvereinbar erklärt wird. Es darf in diesem Zusammenhang auch nicht außer Acht gelassen werden, dass Auslöser für den konkreten Rechtsstreit in beiden Fällen das Kopftuch gewesen ist und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass bei künftigen Rechtsstreitigkeiten der alleinige Verbotsgrund wiederum das Kopftuch sein wird.

Um das Urteil des EuGH in einer einfachen Sprache wieder zu geben, wird im Grunde genommen nichts anderes gesagt als: Wenn sich Arbeitgeber in Europa in ihrer Arbeitsatmosphäre von einer kopftuchtragenden Mitarbeiterin ungeachtet ihrer Qualifikationen oder fachlichen Kompetenz gestört fühlen oder sie das Gefühl haben, dass ihre kopftuchtragende Mitarbeiterin allein mit ihrem äußerlichen Erscheinungsbild ihr Arbeitsklima „vergiftet“, dürfen sie eine allgemeine Regelung treffen, mit der sie theoretisch alle religiösen Symbole verbieten können, aber mit derselben Regelung praktisch und eigentlich nur das Kopftuch verbieten wollen. Es ist eine Art allgemeine Diskriminierungsregelung gegen alle Religionen mit einem mittelbaren Diskriminierungsgehalt gegen kopftuchtragende Frauen.

Der erschwerte Weg in das Berufsleben

Im Ergebnis wird die Entscheidung des EuGHs Kopftuchträgerinnen den ohnehin schweren Weg in die Arbeitswelt mehr denn je erschweren. Es werden immer höhere Barrieren aufgestellt und die Berufsausübung ist mit immer höheren Risiken verbunden. Betroffene Frauen werden in Konfliktfällen weniger Chancen auf einen Klageerfolg haben. Ein primärer Anspruch auf den Arbeitsplatz oder sekundär auf Schadensersatz wird entfallen. Die erste Anwendungsproblematik des Urteils ist jüngst in Dänemark aufgetreten. Kopftuchtragenden Frauen, die aufgrund ihrer Verweigerung das Tuch abzulegen, nicht eingestellt werden oder ihnen gekündigt wird, soll in Zukunft das Arbeitslosengeld gekürzt oder gar nicht ausgezahlt werden. Den Frauen wird auf diesem Weg die Existenzgrundlage entzogen. Hier ist eine eindeutig widersprüchliche Haltung zu erkennen. Denn auf der einen Seite wird für die Selbstbestimmung der Frau plädiert, auf der anderen Seite lässt man die Frau aber nicht selbst bestimmen.

Das Urteil kann sowohl aus grundrechtlicher, als auch aus religionsrechtlicher Perspektive so nicht akzeptiert werden. Es kann nicht von Rechten sein, wenn kopftuchtragende Frauen derart unter Zugzwang gestellt werden und ihnen kein Handlungsspielraum mehr eingeräumt wird. Es stellt einen Unrechtgehalt dar, wenn Frauen sich zwischen Religion und Beruf entscheiden müssen. Das Urteil stellt in Verbindung mit dem Arbeitsrecht eine Aushöhlung des Religionsausübungsrechts dar, aberkennt die Religionsbekenntnisfreiheit, minimiert die individuelle Religionsfreiheit und verkennt die religiöse Bedeutung des Kopftuchs für betroffene Frauen im Einzelfall.

Sichtbare Religiosität ist und bleibt für Europa nach wie vor ein ernsthaftes Problem. „Religion müsse am Arbeitsplatz nicht toleriert oder akzeptiert werden“. So offen ist Europa, mit seinen europäischen Werten, die für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit stehen, eben noch nicht. Letztendlich verhindern religionsfeindliche Urteile jeglicher Art die religiöse Entfaltungsmöglichkeit aller Menschen, die Religion als ein essentielles und unverzichtbares Element ihrer gesamten Lebensführung sehen. Dazu gehört eben auch der Arbeitsplatz. Anstatt Religionsverboten zunehmend eine rechtliche Basis zu schaffen, wäre es wünschenswert, wenn der EuGH in Zukunft für mehr Religiosität statt Säkularisierung der öffentlichen Arbeitsräume urteilt. Arbeitgeber sollten nicht über die religiöse Erscheinung ihrer Mitarbeiter entscheiden dürfen; Religion sollte nicht der Willkür des Arbeitgebers ausgesetzt sein. Ein so vehementer Eingriff in das Grundrecht des Arbeitnehmers ist weder mit dem Grundgesetz vereinbar noch im Allgemeinen tragbar. Anstatt der Möglichkeit den Weg zu öffnen, Religion aus der Öffentlichkeit zu verbannen, sollten die Gerichte den Mut aufweisen, den Rahmen für sichtbare Religion zu setzen und somit der deklarierten Vielfalt, Verschiedenheit und Pluralität im 21.Jahrhundert Europas gerecht zu werden.

Das EuGH-Urteil mag zwar auf rechtlicher Ebene scheinbar eine Lösung gefunden zu haben, aber ob auch auf gesellschaftlicher Ebene von einer Lösung gesprochen werden kann, ist fraglich und mag zu bezweifeln sein.

Leserkommentare

Ute Fabel sagt:
Dem Gleichbehandlungsrecht entspricht entweder"Gleich Viel" an sichtbarer Religion, Weltanschauung, politischer oder philosopher Überzeugung oder "Gleich Wenig" am Arbeitsplatz. Für welche dieser beiden diskriminierungsfreien Varianten sich der Staat oder das Unternehmen entscheidet, obliegt dem freien Entscheidungsspielraum. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht in der Rechtssache Dogru/Kervanci bereits im Jahr 2008 bereits erkannt, 2017 in der Rechtssache Achbita nun auch der EuGH. "Arbeitgeber sind angewiesen, eine Abwägung zwischen unterschiedlichen Interessen vorzunehmen und eine Lösung zu finden, die den (Grund)Rechten aller genüge trägt" ist eine vornehmlich für Sonntagsreden geeignete, sehr wohlklingende Floskel, die aber keine verallgemeinerbare, brauchbare Lösungsansätze für diskriminierungsfreies Verhalten von Firmen liefert.
11.04.17
10:25
Johannes Disch sagt:
@Uter Fabel Sie lassen wirklich keine Möglichkeit aus, sich zu blamieren. Auch wenn man Ihnen wiederholt deutlich macht, warum ihre Argumente und die dazu gebrachten Beispiele falsch sind, werden diese papageienhaft wiederholt. Das ist mit "borniert" noch sehr nett umschrieben. Zum x-ten Mal bringen Sie ein Beispiel aus Frankreich, das zudem nicht den privaten Sektor betrifft, sondern den öffentlichen (Schule) und übertragen diesen auf den privaten Sektor. Das ist in etwa so, als würde man die Regeln des Volleyball auf den Fußball anwenden. Der Fall "Doglu/Kervanci" aus dem Jahre 2008 ist nicht auf Deutschland übertragbar. Frankreich ist laizistisch und kann deshalb religiöse Symbole an öffentlichen Schulen verbieten. Das säkulare Deutschland hingegen kann das nicht. Das hat das Bundesverfassungsgericht 2015 eindeutig festgestellt. Und das aktuelle Urteil des EuGH berührt den öffentlichen Sektor nicht. Sie vergleichen also wiederholt Äpfel mit Birnen und sind nicht in der Lage, grundlegende juristische Sachverhalte auseinanderzuhalten. -- Das Gleichbehandlungsgesetz verlangt entweder Gleich viel oder gleich wenig...für welche Variante ein Unternehmen sich entscheidet, obliegt dem freien Entscheidungsspielraum" (Ute Fabel) Dieser Unfug ist nicht einlassungsfähig. So ist es eben nicht. Ein bisschen komplexer ist die Sache schon.
11.04.17
15:39
Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel So, dass Arbeitnehmer eine Abwägung zwischen den verschiedenen Interessen vornehmen müssen, das ist für Sie nur eine wohlklingende Floskel, die keine praktischen Lösungsmöglichkeiten bietet) (Ute Fabel, 11.04.2017, 11:25). Ein weiterer Offenbarungseid, die behauptet ,sie wäre Juristin. Ein weiterer Beleg dafür, dass Sie von der Materie nicht den blassesten Schimmer haben. Das wäre, als würde jemand die Stellung der Elemente Schwefel und Sauerstoff im Periodensystem der Elemente verwechseln und dann behaupten, er wäre Chemiker. Sonst wäre Ihnen nämlich bekannt, dass dieses Abwägungsprinzip in Deutschland in der Praxis schon seit Jahren obligatorisch ist und glänzende Ergebnisse zeigt.
11.04.17
15:49
Andreas sagt:
@Ute Fabel: Wir lassen uns gerne unsere Diskriminierung von obersten Gerichten bestätigen. Darin unterscheiden wir uns nicht von den Diktaturen, die wir so sehr kritisieren. Für Christen z.B. gibt es keine religiöse Pflicht, eine bestimmte Kleidung zu tragen oder ein Kreuz sichtbar mit sich zu führen. Für Muslimas hingegen gibt es die religiöse Pflicht, ihre Kopfhaare zu bedecken. Damit haben wir ein Problem und eben doch faktisch eine Diskriminierung. Dabei ist es unerheblich, dass es auch Muslime gibt, die der Auffassung sind, dass ein Kopftuch nicht nötig ist. Entscheidend ist die Überzeugung der einzelnen Frau, da es um ihre ganz persönliche Religionsfreiheit geht. Da mag ein Gerichtsurteil juristisch zwar sauber sein, eine Diskriminierung kommt am Ende trotzdem heraus. Denn es macht einen Unterschied, ob ich aufgrund meiner religiösen Überzeugung ein religiöses Symbol problemlos ablegen kann oder ob ich mich meinem Gott gegenüber zum Bedecken der Kopfhaare verpflichtet fühle und entsprechend ein Kleidungsstück nicht ablegen kann.
11.04.17
16:15
grege sagt:
@Herr Disch Sie haben mal wieder am Thema vorbeigeschrieben. Hier wurde das "Grundrecht" auf Tragen eines Kopftuches damit begründet, dass es für eine Muslima ein Gebot darstellt. Muslime und Geleherte sind sich uneins darüber, ob eine Muslima ein Kopftuch tragen muss. Wie soll dann bitte schön Bäckermeister Otto Schulze von der Backstube nebenan entscheiden, ob das Tragen eines Kopftuches für seine muslimische Verkäufter verpflichtend ist oder nicht. In Hinblick auf die Kopftuchdebatte ist es daher müßig zu urteilen, ob das Kleidungsstück für Frauen verpflichtend ist oder nicht. Die Symbolträchtigkeit von Objekten kann auch hier von deren Besitzern und dem wahrnehmenden Umfeld unterschiedlich gedeutet werden. Anhand des Kopftuches in Verbindung mit der Art und Weise, wie es umgebunden wird, kann ich die Religionszugehörigkeit der betreffenden Person erkennen. Schon allein aus diesem Grund besitzt dieses Objekt für mich Symbolkraft. Ebenso stellt die Swastika für einen Hindu ein Symbol des Glücks dar, für uns Europäer steht diese Abbildung für Abgrund der Menschheit. Dieses Beispie verdeutlicht, dass die Symbolträchtigkeit eines Objektes auch von der Wahrnehmung und den Empfindungen des Umfelds abhängig ist.
11.04.17
22:30
Andreas sagt:
@grege: Das Recht auf Religionsfreiheit ist ein individuelles Grund- und Menschenrecht. Insofern muss der Bäckermeister Otto Schulze gar nicht entscheiden, ob das Tragen eines Kopftuches für seine muslimische Verkäuferin verpflichtend ist oder nicht. Das entscheidet ganz allein seine Verkäuferin. Wenn sie mit Kopftuch kommt, scheint sie es für verpflichtend zu halten. Dem kann der Bäckermeister dann einfach folgen.
12.04.17
14:06
Johannes Disch sagt:
@grege Wir sind da einfach unterschiedlicher Meinung. Sie sind der Ansicht, ich würde am Problem vorbei schreiben. Ich bin der Meinung, dass Ihnen die Problematik nicht einmal im Ansatz klar ist und sie Äpfel (Kopftuch) mit Birnen (Rockerkluft) vergleichen. Kein Beinbruch, wenn man nicht auf einen Nenner kommt. Lassen wir es einfach dabei.
12.04.17
14:11
Johannes Disch sagt:
@Andreas (Ihr P vom 11.04.2017, 16:15) -- "Wir lassen uns gerne unsere Diskriminierung von obersten Gerichten bestätigen. Darin unterscheiden wir uns nicht von den Diktaturen, die wir so sehr kritisieren." (Andreas) Ein wunderbares Bonmot.
12.04.17
14:14
grege sagt:
@ Herr Disch Sie treten energisch für die Diskriminierung von nichtreligiösen Arbeitnehmern ein, dann gestatten Sie unseren fleißigen Richtern in Straßburg doch auch ein gewisses Maß an Diskriminierung. Jetzt haben wir Gleichstand :-).
12.04.17
22:25
Ute Fabel sagt:
@Andreas, Johannes Disch. In dem EuGH-Urteil, um das es hier geht, wurde ja das Vorliegen einer behaupteten Diskriminierung gerade nicht bestätigt sondern im Gegenteil klar verneint. Laut EuGH besteht kein Grundrecht in der privaten Arbeitswelt immer und überall seine Religion, Weltanschauung, politische und philosophische Überzeugung nach Belieben auffällig sichtbar zu machen.
13.04.17
10:43
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