Zum Koalitionsvertrag

Deutschlands Zukunft gestalten?

Was können die Menschen von einer schwarz-roten Koalition erwarten? IGMG-Generalsekretär Oğuz Üçüncü wirft einen kritischen Blick auf den Koalitionsvertrag. Ernüchternd ist seine Prognose in Bezug auf Muslime und den Islam.

10
12
2013
0

Die Jusos sind gegen sie und auch der Wirtschaftsflügel der CDU. Nein, wirkliche Begeisterungsstürme löst die „Große Koalition“ wohl nicht aus. Tatsächlich hätten fünf weitere Mandate für Angela Merkel und Horst Seehofer oder weitere 100.000 Stimmen für die nun „außerparlamentarische“ FDP uns die Neuauflage dieser Koalitionsvariante erspart.

Erspart ist in diesem Sinne wohl dann doch nicht die richtige Wortwahl. Denn weder die Kanzlerin noch der bayrische Ministerpräsident und nicht einmal der SPD Vorsitzende Gabriel machen einen besonders unglücklichen Eindruck. Ganz im Gegenteil, bereits vor der endgültigen Abstimmung über den Koalitionsvertrag üben sich die Parteigranden in gegenseitiger Solidarität und nehmen sich vor vorgeblichen Anfeindungen aus dem Medienlager in Schutz oder bescheinigen dem Koalitionspartner größere Verfassungstreue als der ungeliebten „linken“ Konkurrenz.

Vergessen scheinen der Wahlkampf und auch die Anfeindungen aus der zurückliegenden Legislaturperiode und alle scheinen entschlossen, an die Glanzzeiten der letzten „Großen Koalition“ nahtlos anzuknüpfen. Nach wie vor hält sich bei den großen Volksparteien der Mythos, dass das Tandem Merkel-Steinbrück Deutschland vor dem Sturz in den Abgrund der globalen Finanzkrise bewahrte. Aber Mythos hin oder her, nun steht die neue Legislaturperiode an und mal vorausgesetzt, dass die SPD-Mitglieder ihrer Parteiführung keinen Strich durch die Rechnung machen, wird die neue Regierung ihre Arbeit aufnehmen.

Keine Überraschungen

Wie regiert werden soll und vor allem mit wem, wissen wir noch nicht, aber die Leitlinien der Regierungspolitik sind im Koalitionsvertrag festgehalten. Da alle Parteien mit vollmundigen Aussagen in die Verhandlungen gegangen sind, müssen sie sich nunmehr am Ergebnis messen lassen. Richtig Überraschendes ist nicht herausgekommen, denn ohne den flächendeckenden Mindestlohn und die Korrektur des Optionsmodells beim Staatsbürgerschaftsrecht hätte man die Verhandlungen mit der SPD zu keinem Erfolg führen können. Und das Steuern nicht erhöht werden und somit ein solider Staatshaushalt betont wird, war die CDU/CSU ihrer eigenen Klientel schuldig. Es lohnt sich also, einen näheren Blick auf die Vereinbarung zu werfen, um zu prüfen, ob man dem hochtrabenden Anspruch die Zukunft Deutschlands zu gestalten, gerecht wird.

Zunächst einmal sind Mindestlohn und die Aufhebung der Optionsregelung beim Staatsbürgerschaftsrecht schon für sich Aushängeschilder eines bemerkenswerten Paradigmenwechsels in der Gesellschaftspolitik. Auch wenn Herr Friedrich es ein letztes Mal geschafft hat, eine weitergehende Regelung zur Hinnahme der Mehrstaatlichkeit zu verhindern, ist die Hinnahme dennoch Fakt. Somit müssen nach 1990 geborene Kinder und Enkel insbesondere türkischer Staatsbürger nicht mehr entscheiden, welchen Pass sie endgültig an ihrer Brust mit sich führen wollen. Zur Stärkung der Willkommenskultur, wie sie im Vertrag immer wieder beschworen wird, hätte eine allgemeine Regelung zweifellos mehr beigetragen als alle Programme und nationalen Integrationspläne. Insbesondere die erste Generation hätte eine solche Anerkennung ihrer Lebensleistung verdient. Somit stellt die neue Bundesregierung die künftigen Generationen in den Mittelpunkt.

Genau hier bleibt der Koalitionsvertrag relativ vage. Dabei wäre die Regierung gut beraten, im Sinne einer verantwortungsvollen Zukunftspolitik ganzheitliche Konzepte zu entwickeln und nicht vordergründig Themengebiete getrennt zu bearbeiten. So sind demografischer Wandel, Fachkräftebedarf, die Reform des laut PISA-Studie ungerechten Bildungssystems nicht von einer zukunftsweisenden Integrations- und Zuwanderungspolitik zu trennen.

Lobenswert ist, dass mit der Mindestlohnregelung sich auch bei den Unionsparteien die Binsenweisheit durchgesetzt hat, dass Menschen, die den ganzen Tag arbeiten auch von dieser leben können müssen. Auch ist es dankenswert, dass die Erziehungsleistung von Müttern, die Kinder vor 1992 auf die Welt gebracht haben, bei den Rentenansprüchen besser berücksichtigt werden.

Sprachgebrauch der Union wurde übernommen

Bleiben viele Politikbereiche, die schon mit der Art und Weise wie sie im Koalitionsvertrag aufgeführt werden, Stoff für intensive Debatten liefern. So ist es beispielsweise erstaunlich, dass die SPD zugestimmt hat, die Deutsche Islamkonferenz fortzuführen, obwohl sie 2011 den Muslimen noch zugerufen hat, die Veranstaltung zu boykottieren und noch vor Monaten dem zuständigen Minister Verhöhnung der Muslime vorgeworfen hat.

Interessanterweise spricht der Vertrag beim Thema Islam und Muslime nicht von Religionsgemeinschaften und folgt wohl christdemokratischen Prämissen. Wie sich das Verhältnis von Staat und Muslimen normalisieren soll, wenn sich noch nicht einmal der Sprachgebrauch ändert, sei dahingestellt. Dabei wäre es ehrlicher gewesen, die bisherige Islam- und auch Integrationspolitik zu evaluieren und beide Politikfelder inhaltlich und auch personell neu auszurichten.

Erstaunlich ist auch, dass der Sprachgebrauch in für Unionspolitiker heiklen Themengebieten deren Sensibilitäten entgegenkommt. Warum aber die Verhandlungsführer der SPD Wendungen wie z. B. Armutszuwanderung, Missbrauch sozialer Sicherungssysteme, Rückführung in sichere Drittstaaten gebilligt haben, ist nicht nachzuvollziehen. Will man aus Sicht der tagtäglichen Anfeindungen, denen Sinti und Roma in den Ländern, in denen sie leben, ausgesetzt sind, tatsächlich von sicheren Herkunftsländern sprechen?

Illusorische Hoffnung

Nur eines von zahllosen Beispielen eines Vertrages, der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Reicht es tatsächlich, die Verwaltung und Behörden kulturell zu öffnen, um ein neuerliches Behördenversagen wie bei der Mordserie der NSU-Terrorzelle zu verhindern? Schützt man seine Bürger vor der Datensammelwut seiner Verbündeten durch Absichtserklärungen? Wird man seinem Anspruch nach Rechtsstaatlichkeit gerecht, indem man selbst zwar bewaffnete Drohnen ablehnt, aber das Steuern und Befehligen selbiger vom deutschen Boden nicht ächtet? Gibt es keine Islamfeindlichkeit in der Gesellschaft, wenn man sie nicht beim Namen nennt? Verdient die Bewahrung von Sprache und Kultur der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte nicht den gleichen Stellenwert wie Sprache und Kultur der sorbischen Minderheit?

Selbstverständlich implizieren die Fragen schon die Antworten und so wird unsere eigentliche Aufgabe sein, auf die Schwächen und Defizite des Vertrages bereits jetzt hinzuweisen. Ansonsten bleibt nur die illusorische Hoffnung, dass das Regierungsprogramm und auch das Handeln einer neuen Regierung das hält, was zumindest der Titel für den Koalitionsvertrag verspricht! Denn wie sagt der muslimische Volksmund: Die Hoffnung stirbt niemals!