Während die Welt diskutiert und wegschaut, sterben in Gaza täglich Kinder – systematisch und unaufhaltsam. Fast die Hälfte wünscht sich den Tod. Die Zahlen und unser Schweigen sprechen für sich.
„Die Hälfte der Kinder in Gaza wünscht sich den Tod“ – so lautet die Überschrift eines kürzlich erschienenen Artikels in der Zeitung „der Freitag“. Ich lese den Text, während ich gleichzeitig hastig eine Nachricht verfasse, die in zehn Minuten veröffentlicht werden muss. Es geht um Mouhamed Dramé, einen 16-jährigen Geflüchteten aus dem Senegal, der im August 2022 in Dortmund von der Polizei erschossen wurde. Die Polizisten wurden freigesprochen.
Ich lese, dass bisher 44 Prozent der Opfer im Gaza-Genozid Kinder waren. Währenddessen tippe ich weiter. Die Nachricht über Dramé ist fertig. Schnell abspeichern, ein Titelbild hinzufügen, die SEO-Einstellungen optimieren und auf „Veröffentlichen“ klicken. Die Nachricht ist online.
„Angst, Albträume, Schlafstörungen, Essstörungen: Die Folgen der Traumatisierung der Kinder in Gaza sind vielfältig“, lautet eine Zwischenüberschrift im Artikel. Schaffe ich es noch rechtzeitig zum Meeting? Wo sind meine Notizen? Gefunden.
Im Meeting besprechen wir das bevorstehende Seminar, das ich leiten werde: „Empowerment und rassismussensible Arbeit mit jungen Erwachsenen“. „Haben wir genug zu essen für den Tag?“, fragt ein Kollege. „Das Catering ist organisiert“, entgegnet ein anderer.
Feierabend. Ich laufe zum Parkplatz und lese weiter: Rund 1,9 Millionen Palästinenser in Gaza wurden bereits vertrieben, die Hälfte von ihnen sind Kinder. Ich schließe mein Auto auf, setze mich hinein und …
Kinder in Gaza wünschen sich den Tod. Sie wissen, was es bedeutet zu sterben. Denn 44 Prozent der Opfer im Gaza-Genozid sind Kinder. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der War Child Alliance zeigt, wie tief dieser Genozid die Seelen der jüngsten Bewohner Gazas verletzt hat: 96 Prozent der Kinder fürchten, dass ihr Tod unmittelbar bevorsteht, und fast die Hälfte wünscht sich, nicht mehr leben zu müssen. Diese Zahlen sind nicht nur alarmierend, sie machen sprachlos. Vollkommen sprachlos.
Ich frage mich nicht mehr, warum Menschen weiterhin versuchen, Rechtfertigungen zu finden. Ich suche nicht mehr nach den Gründen, denn die Ignoranz der Weltgemeinschaft ist längst entlarvt.
Rund 17.000 Kinder in Gaza leben mittlerweile ohne Eltern. Mehr als 90 Prozent der Menschen in Gaza wurden mindestens einmal vertrieben, die Hälfte davon Kinder. 79 Prozent der befragten Kinder leiden unter ständigen Albträumen.
Die psychologischen Auswirkungen gehen weit über das Hier und Jetzt hinaus. Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn eine ganze Generation ohne Vertrauen in die Welt aufwächst? Helen Pattinson von War Child bringt es auf den Punkt: „Gaza ist einer der schrecklichsten Orte der Welt, um ein Kind zu sein.“ Diese Worte klingen fast banal angesichts von Geschichten wie jener eines palästinensischen Jungen, der erzählte, wie er seine gesamte Familie verlor. Sein Fazit: „Es wäre besser, wenn ich nicht mehr da wäre.“
„Ihr habt zugesehen“, werden Gazas Kinder sagen. Und sie werden recht haben. Wie erklären wir einem Kind, das unter ständigem Beschuss aufwächst, warum niemand etwas getan hat? Wir schreiben mit den klügsten und ausdrucksstärksten Worten, diskutieren mit Akademikern, sammeln Studien, die unsere Argumente untermauern, setzen uns vor Kameras und beklagen das Leid. Aber wir sagen nichts. Und wenn wir etwas sagen, hören wir nicht.
Ich möchte keine klugen Worte mehr schreiben. Ich will keine Synonyme suchen, um das Gesagte kraftvoller klingen zu lassen. Denn seien wir ehrlich: Kein Synonym der Welt kann das Ausmaß unseres Versagens ausdrücken. Es sind die ehrlichen Worte, die Gerechtigkeit verlangen – und für Gerechtigkeit braucht es keine großen Worte.
Leere Phrasen wie „Nie wieder“ oder „Wir müssen aus der Geschichte lernen“ sind längst bedeutungslos geworden. Das wissen wir alle. Und wir müssen dieses Wissen verantworten – wenn wir können.
„Matthäus 6:12. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Im evangelischen Religionsunterricht musste ich das einmal vor der ganzen Klasse vortragen. Ich kann es bis heute auswendig. Als Muslimin sind mir diese Worte nicht fremd. Auch wir bitten Allah um Vergebung und sehen uns in der Pflicht, zu vergeben.
Aber es fällt mir schwer. Es fällt mir schwer, das Schweigen, die Ignoranz und die Kälte von so vielen Herzen zu vergeben. Und es ist irgendwie paradox, um Vergebung zu bitten, während ich selbst Mühe habe, zu vergeben. Noch schwerer wiegt die Befürchtung, dass die Menschen in Gaza – Mütter, Väter, Kinder – uns vielleicht niemals vergeben werden. „Nicht jeder verdient Vergebung, denn manche nutzen sie nur, um erneut zu verletzen“, sagte mir einmal Hasan Hasanović, ein Überlebender des Genozids in Bosnien 1992-1995. Hasan wusste, was er sagte. Er weiß es bis heute.
Ist das so? Ist unsere Hoffnung unser letzter Widerstand? „Die größte Gefahr ist nicht der Genozid allein. Es ist das Sterben der Hoffnung.“ Hasan hat im Gegensatz zu mir viele weise und kluge Worte. Weil er weiß, was die Menschen in Gaza durchmachen. Er hat es selbst erlebt – vor 30 Jahren. In einem anderen Land, auf einem anderen Kontinent, aber es war dasselbe Grauen.
Wäre mein Dede (Großvater) noch am Leben, würde er sagen: „Kuru kuru gözyaşlarıyla bir şey değişmez“, was so viel bedeutet wie: „Mit trockenen Tränen wird sich nichts verändern.“ Und auch mein Dede hätte recht.
Also machen wir weiter. Wir schreiben, auch wenn unsere Worte nicht die klügsten sind. Wir sprechen, wissend, dass uns nicht alle hören werden. Wir setzen Zeichen an Orten, die noch nicht bereit dafür sind. Und wir wissen, dass es nicht genug ist.
Was bleibt uns auch für eine andere Wahl? Wenn wir nicht wollen, dass uns die Kinder in Gaza – und der Welt – mit ihren Augen, ihrer Wut und ihrem Schmerz konfrontieren, müssen wir aufhören, nur zuzuschauen. Wir müssen schreien, handeln, uns erheben. Denn sie werden recht haben. Und wir werden schuldig sein.