Der Begriff „Genozid“ beschreibt die absichtliche Vernichtung ganzer Bevölkerungen. Doch warum bleibt die Anerkennung als Genozid oft aus – besonders im Gaza-Krieg? Von Kübra Layik.
Genozid – ein Wort, das kalte Schauer auslöst und die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschreibt. Doch wie wird der Begriff „Genozid“ tatsächlich definiert, wann wird er anerkannt, und warum ist es so schwierig, ihn in aktuellen Konflikten zu benennen? Die Geschichte zeigt, dass Genozide bis heute nicht nur extreme Grausamkeit und systematische Vernichtung nach sich ziehen, sondern auch die Tendenz der internationalen Gemeinschaft, oft erst zögerlich oder widerwillig zu reagieren.
Besonders aktuell und brisant: der Krieg in Gaza. Zahlreiche internationale Stimmen und sogar Gerichte argumentieren, dass die andauernden Gewaltakte gegen Palästinenser Genozid-Charakter haben. Doch warum bleibt die Anerkennung als Genozid politisch so heikel?
Der Begriff „Genozid“ wurde 1944 von dem polnischen Juristen Raphael Lemkin geschaffen, der damit die systematische Vernichtung von Bevölkerungsgruppen benennen wollte. Die UN-Genozidkonvention von 1948 definiert Genozid als Handlungen, die darauf abzielen, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten“.
Zu den Handlungen eines Genozids zählen systematisches Töten, schwere körperliche oder psychische Schädigung, unmenschliche Lebensbedingungen, Verhinderung von Geburten und das gewaltsame Entführen von Kindern. Entscheidend ist das „genozidale Motiv“ – also die Absicht, eine Gruppe gezielt zu zerstören. Dieses Motiv ist oft schwer zu beweisen und führt daher zu vielen juristischen und politischen Auseinandersetzungen, gerade bei aktuellen Konflikten.
Wenn wir über Genozide sprechen, denken viele zuerst an die Shoah, bei dem das nationalsozialistische Deutschland während des Zweiten Weltkriegs etwa sechs Millionen jüdische Menschen systematisch ermordete. Die Shoah gilt als Prototyp des Genozids und brachte die Völkermord-Konvention überhaupt erst in Bewegung. Doch auch andere historische Ereignisse verdeutlichen, wie brutal Genozide ablaufen – und wie oft die internationale Gemeinschaft nur zögerlich reagiert:
1. Der Genozid an den Herero und Nama (1904-1908): Im heutigen Namibia verübten deutsche Kolonialtruppen die ersten modernen Genozide, als sie die Volksgruppen der Herero und Nama nach einem Aufstand systematisch verfolgten und ermordeten. Zehntausende wurden in die Wüste getrieben, wo sie verdursteten oder in Lager eingesperrt wurden. Die deutsche Regierung erkannte dieses Verbrechen erst 2021 offiziell als Genozid an und bot finanzielle Unterstützung, die jedoch nicht als „Entschädigung“ bezeichnet wird – ein symbolträchtiges Detail, das die Sensibilität und Machtpolitik rund um die Genozidfrage zeigt.
2. Die Shoah (1933-1945): Die Shoah oder auch bekannt als der Holocaust, ist wohl das bekannteste Beispiel eines Genozids. Im Dritten Reich verfolgten und ermordeten die Nazis rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden sowie Millionen andere Menschen, darunter Sinti und Roma, Homosexuelle und Menschen mit Behinderungen. Diese Verbrechen brachten das Konzept des Genozids nach dem Zweiten Weltkrieg in den internationalen Diskurs und führten zur UN-Genozidkonvention, die den Genozid offiziell zu einem Verbrechen erklärte.
3. Der Genozid an den Tutsi in Ruanda (1994): In nur 100 Tagen wurden in Ruanda bis zu einer Million Tutsi von extremistischen Hutu-Milizen ermordet. Die UN erkannten diesen Völkermord relativ schnell an – allerdings erst, nachdem das Morden längst geschehen war und die internationale Gemeinschaft praktisch tatenlos zugesehen hatte. Der Genozid in Ruanda zeigt auf tragische Weise, wie oft die Welt auf das Prinzip „Nie wieder“ nur reagiert, anstatt präventiv zu handeln.
4. Der Genozid in Bosnien (1992-1995): Während des Genozids in Bosnien ermordeten serbische Truppen in ganz Bosnien ca. 100.000 muslimische Bosnier (Bosniaken). In der Stadt Srebrenica 1995 wurden innerhalb weniger Tage mehr als 8.000 muslimische Männer und Jungen ermordet. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und der Internationale Gerichtshof (IGH) haben diese Gräueltat offiziell als Genozid anerkannt. Bis heute bleibt diese Anerkennung jedoch umstritten, insbesondere in Serbien, wo der Genozid teilweise geleugnet oder als Kriegsfolge relativiert wird – obwohl der Genozid ebenfalls einer der bekanntesten Genozide der Geschichte ist.
5. Der Genozid im Sudan (seit 2003): Im Sudan, insbesondere in der Region Darfur, wurden seit 2003 Hunderttausende Menschen getötet, Millionen vertrieben und gezielt angegriffen. Die sudanesische Regierung und verbündete Milizen, bekannt als Janjaweed, verübten systematische Angriffe auf ethnische Gruppen wie die Fur, Masalit und Zaghawa. Der Internationale Strafgerichtshof hat einen Haftbefehl gegen den ehemaligen Präsidenten Omar al-Bashir wegen Genozids ausgestellt.
6. Der Genozid an den Uiguren (seit 2014): Die muslimische Minderheit der Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang wird Berichten zufolge systematisch unterdrückt. Menschenrechtsorganisationen werfen der chinesischen Regierung vor, Internierungslager, Zwangsarbeit, erzwungene Sterilisationen und kulturelle Assimilation einzusetzen, um die Uiguren als ethnische Gruppe zu zerstören. Viele Expertinnen und Experten klassifizieren diese systematische Unterdrückung als Genozid.
Seit Jahren ist der Krieg in Gaza einer der umstrittensten und brutalsten der Welt, und die Frage, ob die Gewalt an Palästinensern als Genozid bezeichnet werden kann, steht im Raum. Tatsächlich haben internationale Expertinnen und Organisationen, darunter das Russell Tribunal, die Situation als Genozid klassifiziert – und es handelt sich nicht nur um symbolische Aussagen. Zwei internationale Gerichtsurteile kamen bereits zu dem Schluss, dass die Gewalt gegen Palästinenser den Tatbestand eines Genozids erfüllt. Die Gründe sind umfassend: gezielte Bombardierungen ziviler Infrastruktur, massenhafte Vertreibungen, die fast vollständige Abriegelung des Gebiets und das gezielte Schaffen von katastrophalen Lebensbedingungen. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International sprechen von systematischem Unrecht, das in seiner Brutalität die Anforderungen der UN-Genozidkonvention erfüllt.
Gerade die Berichte über Angriffe auf Krankenhäuser, Schulen und dicht besiedelte Wohngebiete zeigen, dass die Zivilbevölkerung gezielt ins Visier genommen wird. Die Bedingungen sind derart lebensbedrohlich, dass UN-Vertreterinnen von einer „ethnischen Säuberung“ sprachen. Gaza ist abgeriegelt, und die wenigen Ressourcen, die durchkommen, reichen längst nicht aus – viele Beobachterinnen und Institutionen betrachten diese Gewalt als „ethnische Vernichtung“ und bezeichnen die Politik Israels gegen die Palästinenser offen als Genozid.
Die Sonderberichterstatterin für die Menschenrechtslage in den Palästinensergebieten, Francesca Albanese, hat in ihrem jüngsten Bericht „Anatomie eines Völkermordes“ bekannt gegeben, dass sie „vernünftige Gründe“ für die Annahme eines israelischen Völkermordes im Gazastreifen sieht.
Albanese hebt hervor, dass Israels Maßnahmen nicht nur Tötungen umfassen, sondern auch solche, die darauf abzielen, die palästinensische Bevölkerung physisch zu zerstören – sowohl im Gazastreifen als auch in den übrigen palästinensischen Gebieten unter israelischer Kontrolle. Sie verweist auf systematische Handlungen wie Massenmorde, erzwungene Vertreibungen und die absichtliche Unbewohnbarkeit des Gazastreifens als zentrale Beweise für die Absicht, einen Völkermord zu begehen
Renommierte Völkerrechtler wie Richard Falk, der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechtslage in den Palästinensischen Gebieten, haben die israelische Politik im Gazastreifen wiederholt als genozidal beschrieben. Falk argumentiert, dass die Kombination aus militärischen Angriffen, einer umfassenden Blockade und systematischer Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung auf eine Absicht hinweist, diese Gruppe langfristig zu zerstören.
In juristischen und akademischen Kreisen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die anhaltende Blockadepolitik und die gezielte Zerstörung ziviler Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Wasseranlagen in Gaza nicht nur völkerrechtswidrig sind, sondern auch die Kriterien für einen Genozid erfüllen könnten. Dabei wird insbesondere auf Artikel II der UN-Genozidkonvention verwiesen, der die „vorsätzliche Schaffung von Lebensbedingungen, die geeignet sind, die physische Zerstörung einer Gruppe ganz oder teilweise herbeizuführen“ als genozidale Handlung beschreibt.
Auch der Historiker und Holocaust-Forscher Amos Goldberg, der am Institut für jüdische Geschichte und zeitgenössisches Judentum an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrt, ist einer der wenigen, die innerhalb der israelischen Debatte eine Gegenposition beziehen. Im April erschien in der hebräischen Zeitschrift Sikha Mekomit ein Artikel von ihm, in dem er resümiert, dass Israels Vorgehen in Gaza genozidal sei. „Ich habe in meinem Artikel geschrieben: Ja, es ist ein Völkermord. Ich bin mir bewusst, dass es sich hierbei um einen schwerwiegenden Vorwurf handelt, und ich nehme ihn nicht auf die leichte Schulter. Es fiel mir sehr schwer, diesen Beitrag zu verfassen, da es auch um mein Volk und meine Gesellschaft geht. Als Teil dieser Gesellschaft trage auch ich eine Verantwortung für das, was geschieht“, so Goldberg in einem Interview.
Der internationale Haftbefehl gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Joav Galant wegen mutmaßlicher Völkermordverbrechen markiert eine bedeutende Entwicklung in der internationalen Rechtsprechung. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) stützt seine Entscheidung auf zahlreiche Berichte, die eine gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur und die Schaffung lebensbedrohlicher Bedingungen in Gaza dokumentieren. Diese Handlungen werden als mögliche Verstöße gegen die UN-Genozidkonvention bewertet, die Handlungen wie die absichtliche Schaffung unmenschlicher Lebensbedingungen und die gezielte Tötung von Mitgliedern einer nationalen oder ethnischen Gruppe als Völkermord definiert
Der politische Kontext ist entscheidend: Während Genozide wie in Ruanda oder Bosnien mit größerer internationaler Einstimmigkeit als solcher anerkannt wurden, bleibt der Genozid in Gaza aus verschiedenen Gründen eine heiß diskutierte Ausnahme. Viele Länder, insbesondere die USA und einige EU-Staaten wie Deutschland, haben enge politische und wirtschaftliche Beziehungen zu Israel und meiden es, den „Genozidvorwurf“ zu unterstützen. Das führt zu der Frage, ob Genozid-Anklagen tatsächlich konsequent an der Definition des Verbrechens festgemacht werden – oder vielmehr an politischen Interessen und diplomatischen Allianzen.
Gaza zeigt, wie schwierig es ist, mit dem Begriff des Genozids konsequent und ohne politische Einflüsse umzugehen. Die historischen Beispiele – von den Herero und Nama über die Shoah bis hin zu Bosnien – lehren uns, wie dringend notwendig ein konsequentes Vorgehen gegen Genozid ist. Der Genozid in Gaza wirft die Frage auf, ob die Welt das „Nie wieder“ tatsächlich ernst meint oder ob politisches Kalkül den Schutz von Menschenleben überlagert.
Die grausamen Ereignisse und das Leiden der Bevölkerung erinnern uns daran, dass der Genozid-Begriff nicht nur ein juristischer, sondern auch ein moralischer Maßstab ist. Er sollte eine unbedingte Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft darstellen, unabhängig davon, welche politischen Interessen auf dem Spiel stehen.