Genozid in Gaza

„Kein Grund zur Entwarnung“ – Muslime zum Waffenstillstand in Gaza

Nach fast zwei Jahren Genozid herrscht in Gaza erstmals Waffenruhe – doch Hoffnung mischt sich mit Misstrauen. Drei Muslime sprechen über Solidarität und die Frage, ob unter echter Frieden möglich ist.

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2025
Gaza - Genozid 2023
Gaza - Genozid 2023 © Anadolu Images Photographer: Belal Khaled, bearbeitet by iQ

Nach fast zwei Jahren Genozid und Zerstörung in Gaza wurde vergangene Woche ein Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas verkündet. Während internationale Medien von einem „Schritt in Richtung Frieden“ sprechen, zeigen sich viele Muslime in Deutschland skeptisch. Drei von ihnen – Talha Taşkınsoy, Enise Yılmaz und Selçuk Çiçek – teilen im Gespräch ihre Eindrücke, Hoffnungen und Sorgen

Für Talha Taşkınsoy, Imam, Pädagoge und Aktivist, steht fest: Der sogenannte Waffenstillstand ist kaum mehr als ein trügerischer Begriff. „Ganz offen gesprochen denke ich, dass uns privilegierten Menschen gar keine aktive Meinung bezüglich eines bisher vermeintlichen ‚Waffenstillstandes‘ zusteht“, sagt er. „Wie wir sehen, wird der sogenannte Waffenstillstand ständig von Israel gebrochen.“

Er fordert stattdessen mehr Solidarität mit den Menschen vor Ort: „Wir sollten immer unsere Plattformen und Stimmen den betroffenen Geschwistern in und aus Gaza – aber auch aus Sudan, Jemen, Ostturkestan – schenken. Was denken sie? Wie fühlen sie sich seit dem? Wie geht es ihnen?“

Taşkınsoy sieht die Befreiung Palästinas als unausweichlich, aber auch als Prüfstein für das eigene Handeln: „Eins ist klar: Gaza wird frei sein! Palästina wird frei sein! Das Heilige Land wird frei sein! Die Frage, die wir uns hier im Westen stellen müssen, lautet: Was ist unser Anteil an der Befreiung?“

„Ein Moment des Aufatmens – aber kein Grund zur Entwarnung“

Enise Yılmaz, angehende Juristin, beschreibt den Waffenstillstand als ambivalentes Signal. „Ich begrüße den Waffenstillstand grundsätzlich, weil er den Palästinenserinnen und Palästinensern im Gazastreifen nach langer Zeit endlich die Möglichkeit gibt, durchzuatmen, ihre Toten zu betrauern und vielleicht einen Moment der Ruhe zu finden“, sagt sie.

Gleichzeitig bleibe die Sorge groß, „dass dieser Waffenstillstand – wie schon in der Vergangenheit – von israelischer Seite gebrochen werden könnte.“ Sie zeichnet ein düsteres Bild der Lage im Gazastreifen: „Der Gazastreifen liegt nach fast zwei Jahren eines andauernden Genozids in Trümmern. Die zivile Grundversorgung ist zusammengebrochen, Häuser, Krankenhäuser und Schulen sind zerstört. Ganze Familien wurden ausgelöscht, und ein normales Leben ist dort kaum mehr vorstellbar.“

Für Yılmaz ist entscheidend, wie es nach dem Waffenstillstand weitergeht: „Kann unter den aktuellen politischen Bedingungen überhaupt ein dauerhafter Frieden entstehen?“ Sie verweist auf die israelische Regierung, die von „rechtsextremen und offen genozidalen Kräften geprägt“ sei, und kritisiert zugleich die Rolle Deutschlands scharf: „Deutschland wird in die Geschichte eingehen als zweitgrößter Waffenexporteur nach Israel – und muss sich die Frage gefallen lassen, inwieweit es Mitschuld an einem andauernden Genozid trägt.“

„Frieden ohne Gerechtigkeit ist eine Illusion“

Auch Selçuk Çiçek, Historiker , betrachtet den Waffenstillstand mit Vorsicht. „Der Nahe Osten sehnt sich seit über einem Jahrhundert nach Frieden“, sagt er. „Der aktuelle Schritt in Richtung Frieden ist zwar ein hoffnungsvolles Signal, doch Vorsicht ist geboten.“

Für Çiçek kann ein echter, nachhaltiger Frieden nur auf einer klaren rechtlichen Grundlage entstehen: „Ein nachhaltiger Frieden kann nur entstehen, wenn das Völkerrecht durchgesetzt, die Verantwortlichen für den Völkermord juristisch belangt und Palästina endlich als unabhängiger Staat anerkannt wird.“

Er stellt die entscheidende Frage: „Wie kann man von Frieden sprechen, solange die völkerrechtswidrige Besatzung andauert, die systematische Enteignung palästinensischen Landes fortgesetzt und die Blockade des Gazastreifens nicht beendet wird?“

Zwischen Erleichterung und Ernüchterung

Die Stimmen von Taşkınsoy, Yılmaz und Çiçek zeigen ein gemeinsames Gefühl: Erleichterung über eine kurzzeitige Pause der Gewalt – und gleichzeitig tiefe Skepsis gegenüber den politischen Rahmenbedingungen, die einen echten Frieden bislang unmöglich machen. Ob der Waffenstillstand in Gaza Bestand haben wird oder erneut in Bombardements endet, bleibt ungewiss. Sicher ist nur eines: Für viele Muslime in Deutschland ist Gaza nicht fern – sondern ein Spiegel ihrer eigenen Fragen nach Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung.

Leserkommentare

Cumali Mol sagt:
Nicht das sog. Völkerrechtlich, welches die Großmächte willkürlich auslegen muss durchgesetzt werden, sondern der heilige قرآن nach dem Verständnis der Sahaba. Man kann eine Person mit Krebs nicht mit Hustensaft behandeln. Aber ich befürchte spätestens nach diesem wahrheitsliebenden Artikel werden die Behörden in Deutschland diese Plattform verbieten. Namentlich der Innenminister.
19.10.25
21:47