Interview mit Prof. Dr. Stephan Muckel

„Das Kopftuch ist nicht neutralitätswidrig“

Kopftuchverbote werden mit der Neutralität des Staates begründet. Ein Kopftuch ist laut Bundesverfassungsgericht jedoch nicht pauschal neutralitätswidrig. Prof. Dr. Stephan Muckel erklärt im IslamiQ-Interview warum das Kopftuch nach wie vor zu Problemen führt und was Neutralität wirklich bedeutet.

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2018
Prof. Dr. Stephan Muckel im IslamiQ-Interview. © IslamiQ
Prof. Dr. Stephan Muckel im IslamiQ-Interview. © IslamiQ

IslamiQ: Was ist mit der „religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates“ im Kontext von Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten konkret gemeint?

Prof. Dr. Stephan Muckel: Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates steht nicht im Grundgesetz. Sie ist daher umstritten, vieldeutig und nicht eindeutig. Einigermaßen gesichert ist, dass der Staat sich nicht mit einer bestimmten Religion oder Religionsgemeinschaft identifizieren darf. Also er darf sich nicht als evangelischer, katholischer oder islamischer Staat darstellen.

IslamiQ: Warum ist das Neutralitätsgebot so umstritten?

Muckel: Das Neutralitätsgebot ist umstritten, erstmal weil es mehrdeutig ist, weil es nirgendwo gesetzlich definiert ist und weil es zur Ideologie anfällig ist. Was genau Neutralität bedeutet, kann ja schon außerhalb juristischen Sprachgebrauchs nur schwer gesagt werden. Darüber hinaus hat jeder ein Vorverständnis von Neutralität. Wenn dieses Vorverständnis noch politisch unterfüttert ist, dann ist das Ganze sehr komplex.

IslamiQ: Das Kopftuch und das Neutralitätsgebot. Immer wieder wird behauptet, dass sie nicht vereinbar seien. Kann man das so pauschal sagen?

Nein, ich glaube nicht an die Unvereinbarkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer früheren Entscheidung zum Ausdruck gebracht, dass der Gesetzgeber zum Schutze der Neutralität vorsehen kann, religiös-konnotierte Kleidungsstücke zu verbieten. In einer jüngeren Entscheidung von 2015, die immer noch gilt, hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass es keinen generellen Verstoß gegen das Neutralitätsgesetz darstellt, wenn eine Lehrerin ein Kopftuch trägt. Es kommt auf den Einzelfall an. Eine Lehrerin kann sich neutralitätswidrig verhalten, wenn sie versucht die Schüler zum Islam zu bekehren. Man kann aber nicht pauschal annehmen, dass ein Kopftuch Neutralitätswidrigkeit ausdrückt.

Prof. Dr. Stephan Muckel, 1961 in Eschweiler geboren, ist seit 1998 Professor für Öffentliches Recht und Kirchenrecht an der Universität zu Köln. Lehrveranstaltungen im „Öffentlichen Recht“ und „Religion, Kultur und Recht“ machen seinen Schwerpunktbereich aus.

IslamiQ: Sie haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Jahr 2015 angesprochen. In Folge dieses Urteils haben viele Bundesländer ihre Gesetze dann auch angepasst und das Neutralitätsgebot in den jeweiligen Bundesländern gekippt, aber vier Bundesländer nicht.  Warum leisten die Bundesländer nicht dem Urteil Folge?

Muckel: Das kann man so nicht sagen. Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht mit der Entscheidung im Jahre 2015 auch nur einen einzigen Satz aus der sehr komplexen Bestimmung des Schulgesetzes von NRW für verfassungswidrig erklärt und im Übrigen gemeint, die Regelung könne verfassungskonform ausgelegt werden. Wenn beispielsweise ein Kopftuch aus Gründen der Neutralität untersagt wird, kann es so verstanden werden, dass religiös-konnotierte Kleidung untersagt werden kann, wenn die betreffende Person die Neutralität durch ihr gesamtes Verhalten gefährdet. Diese Interpretation die zwar sehr weit geht aber die ja durchaus möglich ist, wird in den Ländern als eine Möglichkeit gesehen. 

IslamiQ: In Berlin wird das Neutralitätsgebot immer wieder auf die Probe gestellt. Aktuell wieder von einer Grundschullehrerin, die an eine Berufsschule versetzt wurde, weil sie ihr Kopftuch nicht ablegen wollte. Wie schätzen sie das Neutralitätsgebot in Berlin generell ein?

Muckel: Das Neutralitätsgebot, so wie es auf dem Papier steht, ist mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht vereinbar. Denn da steht klar drin, dass in bestimmten Tätigkeiten Staatsbediensteten bestimmte Kleidungsstücke generell untersagt sind. Das ist genau das wovon sich das Bundesverfassungsgericht 2015 verabschiedet hat und hat gemeint, es kommt auf den Einzelfall an. Wenn jemand sich neutralitätswidrig verhaltet, dann kann es untersagt werden. Und auch die Bestimmungen des Berliner Neutralitätsgesetzes müssen dem gemäß interpretiert werden, also verfassungskonform ausgelegt werden. Das Kopftuch kann nur dann untersagt werden, wenn im Einzelfall neutralitätswidrig gehandelt wird.

Neutralität vs. Kopftuch?! Was sagen Experten und Betroffene dazu? Wir haben nachgefragt, die Antworten sind im #IslamiQfragt Video:

IslamiQ: Nach ihrer Auffassung fällt das alleinige Tragen eines Kopftuchs also nicht unter neutralitätswidriges Handeln?

Muckel: Exakt. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, allein das Kleidungsstück reicht nicht aus. Es ist nun mal so, dass eine Lehrerin im staatlichen Schuldienst nicht nur den Staat repräsentiert sondern auch Grundrechtsträgerin ist. Das gilt auch für jeden, der ein Kreuz am Hals tragen oder religiösen Symbole zum Ausdruck bringen möchte. Jede/r hat ein Anspruch drauf die Glaubens- und Religionsfreiheit leben zu dürfen. Auch im staatlichen Raum. Deshalb müssen die Dinge miteinander in Einklang gebracht werden. Aus diesem Grund scheint es mir richtig zu sagen, dass das Bundesverfassungsgericht sagt, dass es auf den Einzelfall ankommt. Wenn also eine Lehrerin zu Missionieren beginnt, kann man sagen, dass es zu weit geht.

„In den nächsten Jahren wird sich auch in Berlin die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durchsetzen. Nämlich des Inhalts, dass pauschale Verbote gegen die Religionsfreiheit und gegen die Diskriminierungsgebote des Grundgesetzes verstoßen.“

IslamiQ: Was würden Sie Frauen, die von dem Kopftuchverbot an Schulen betroffen sind, raten?

Muckel: Den Rechtsweg zu bestreiten ist natürlich immer eine Frage, die jeder mit sich selber ausmachen muss. Es kostet Zeit und Geld. Beispielsweise eine Studentin in Berlin, die sich im Moment im zweiten oder dritten Semester befindet und noch vier bis sechs Jahre in der Ausbildung ist, braucht sich vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Sorgen zu machen. In den nächsten Jahren wird sich auch in Berlin die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durchsetzen. Nämlich des Inhalts, dass pauschale Verbote gegen die Religionsfreiheit und gegen die Diskriminierungsgebote des Grundgesetzes verstoßen.

IslamiQ: Weg von Berlin, hin zu dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Dieser hat letztes Jahr entschieden, dass das Tragen des Kopftuchs am Arbeitsplatz unter Umständen verboten werden darf, wenn es „gute Gründe“ gibt. Viele Musliminnen haben nun die Sorge, dass Arbeitgeber willkürlich handeln können. Ist diese Sorge begründet?

Muckel: Zunächst einmal richten sich die zwei Entscheidungen nicht unmittelbar an alle Muslime. Da es sich um einen belgischen und einen französischen Fall handelt, hat es für Deutschland ohnehin nur eine mittelbare Bedeutung. Es betrifft die Interpretation der Antidiskriminierungsrichtlinie. Der Gerichtshof hat verhältnismäßig zurückhaltend entschieden. Er hat gesagt, da wo Kundenkontakt besteht, kann es in Betracht gezogen werden, dass Verbote ausgesprochen werden, etwa wenn Kunden Anstoß nehmen. Außerdem hat er großen Wert draufgelegt, dass in einem Unternehmen eine Neutralitätspolitik korrekt und systematisch durchgeführt wird. Schließlich hat der EuGH in diesem Fall gesagt, dass es entscheidend darauf ankommt, ob die betreffende Person an einer anderen Stelle, etwa ohne Kundenkontakt, im Unternehmen noch verwendbar ist.

IslamiQ: Der Arbeitgeber kann und soll also zunächst einmal eine Umpositionierung des Arbeitnehmers innerhalb des Unternehmens in Betracht ziehen.

Muckel: Ganz genau. Das war in dem einen konkreten Fall nicht überprüft wurden, deshalb musste dieser nochmal vom Gericht aufgearbeitet werden. Mir scheint es, dass ziemlich klare rote Linien gezogen wurden sind, so dass ich für Willkür keinen Anwendungsbereich finde.

Das Interview führte Esra Ayari.

Leserkommentare

Prinzessin Rosa sagt:
Wer möchte bitteschön Kunden die Anstoß an einem Kopftuch nehmen?
03.03.18
21:08
Ute Fabel sagt:
Die Institute für Kirchenrecht an den juristischen Fakultäten sind völlig unzeitgemäße Relikte aus jenen traurigen Zeiten, wo den Deutschen die katholische oder evangelische Konfession als Staatsreligionen aufgezwungen wurde. Weg damit! Warum soll sich das staatliche Bildungsystemm mit dem Rechtsverständniis von Gesinnungsgemeinschafren befassen? Doktor Muckel kann gar nicht anders als in der Kopftuchfrage herunzueiern, sonst würde er an seinem eigenen Ast sägen. Um unsachliche christliche Sonderprivillegien im Bildungsbereich in Form von eigenen Instituten besser abzusichern, ist es besser, islamische Sonderwünsche schönzureden. Die eine Hand wäscht die andere!
03.03.18
23:11
Manuel sagt:
@Prinzessin Rosa: Vielleicht gibt es Leute, die dieses sexistische Symbol nicht so toll finden?
04.03.18
10:16
Johannes Disch sagt:
@Prinzessin Rosa (Ihr Post vom 03.03.18, 21:08) Sie stellen genau die richtige Frage. Die Intoleranz liegt vor allem auf Seiten der Kopftuch-Gegner. Prima, dass mit Prof. Dr. Muckel hier nun bereits der zweite Staatsrechtler erläutert, dass das Kopftuch nicht zwingend gegen das Neutralitätsgebot verstösst. Der erste war Dr. Heinig hier am 08.01.18.
04.03.18
13:58
Thomas sagt:
@Prinzessin Rosa: Der Kunde ist König! Also bestimmt er auch, bei wem er einkaufen möchte. Und man muss nicht hinnehmen, dass eine vollkommen verhüllte Frau einen bedient. Moslems in Deutschland regen sich permanent über eine vermeintliche Diskriminierung auf, wenn sie ihre Frauen nicht unter Kopftüchern verstecken können. Dagegen hält sich die Aufregung in Grenzen, wenn in islamischen Staaten Frauen ohne Kopftuch herabgewürdigt werden (wenn ihnen nicht gar per Gesetz das Kopftuch aufgezwungen wird). Wie soll man denn da die Aufregung von Moslems hierzulande ernst nehmen?
06.03.18
10:37
Ute Fabel sagt:
@Johannes Disch: Doktor Muckel und Doktor Heinig sind beide Kirchenrechtler. Anders ausgedrückt sind sie Religionslobbyisten auf Staatskosten. Um überkommene christliche Privilegien wie die staatliche Finanzierung der Kirchenrechtsinstitute besser abzusichern, kann es sich als die weit klügere taktische Strategie erweisen den Islam mit ins Boot zu holen und für Sonderbefindlichkeiten anderer Religionsanhänger eine Lanze zu brechen. In diesem Lichte sind die Aussagen der beiden Herren zu bewerten. Selbstverständlich verstößt das Kopftuch im Schuldienst gegen das Neutralitätsgebot, und zwar in genau dem selben Ausmaß als es ein Lehrer täte, der mit rechter Burschenschafterkappe, kommunistischem Blauhemd oder atheistischem "Gottlos Glücklich" - Anstecker unterrichten möchte. Die EuGH-Urteile, die einen belgischen und einen französischen Fall betrafen, haben für Deutschland unmittelbare Bedeutung, da die Antidiskriminierungsrichtlinie in gleicher Form gilt. Ein konsequentes optisches Neutralitätsprinzip wurde als zulässig erachtet und als nicht diskriminierend bewertet.
06.03.18
13:30
Der Hammer sagt:
Klar ist, dass wir hier ein islamische Machtdemonstration begutachten dürfen. Das Kopftuch ist natürlich nur ein Symbol. Es ist aber ein mächtiges wie man jetzt im Iran sieht. Frauen wollen sich dort dieses Symbols entledigen. Die vermieften Männermachtstrukturen in arabischen Ländern haben nur Unheil und Armut erzeugt. Generell kann man sich aber folgende Fragen stellen: 1. Legt Gott- der Schöpfer des Universums und Erschaffer allen Lebens auf der Erde Wert darauf das Frauen Kopftuch tragen ? Oder kann er nicht sehen wie ernst es jede einzelne Mensch seinen Glauben nimmt und ein guter Muslim ist? Ich glaube, dass alle Muslime diese Sichtweise ablehnen, da Gott allmächtig ist. Er braucht demnach keinen irdischen Beweis´. 2. Wieso wird bei der großen und immer zu stets wachsenden Zahl von Moscheen und allgemeiner Rücksicht und diversen Freiräumen für Muslime. z.B. Halal schlachten etc. immer noch von Behinderung der Religionsfreiheit gesprochen. Darum kann es ja nicht mehr wirklich gehen, also worum geht es dann? 3.Sehen diese Menschen nicht, dass das Kopftuch durch die Mehrheit als genau das gesehen wird was es ist ? Nämlich ein Machtsymbol. Meine Kinder und ich habe zum Glück welche, werden nicht von Menschen unterrichtet die streng religiös sind. Und welche nicht in der Lage sind über Ihren Schatten zu springen. 4. Was ist denn mit den 5 Pflichtgebeten. Muss der Stundenplan angegelichen werden um auch dieser Marotte gerecht zu werden.? Oder ist das dann doch nicht so wichtig.
06.03.18
15:51
Johannes Disch sagt:
@Thomas (Ihr Post vom 06.03.18, 10:37) Eine vollkommen verhüllte Frau habe ich noch hinter keiner Kasse gesehen. Was man sieht, das sind Frauen mit Kopftuch. Und damit haben sämtliche Supermarkt-Ketten ("Aldi", "Rewe", "Lidl", "Penny", etc.) Gott sei Dank kein Problem. Und die Kunden ganz offensichtlich auch nicht. Es ist jedenfalls nicht bekannt, dass der Umsatz dieser Märkte wegen Kassiererinnen mit Kopftuch eingebrochen wäre. Richtig, der Kunde ist König. Und er ist offenbar wesentlich vernünftiger und toleranter, als manche Leute hier bei "slamiq."
07.03.18
10:26
Lutz sagt:
@Ute Fabel Habe ich nicht in mindestens einem Ihrer Kommentare irgendwann einmal gelesen, dass Sie Österreicherin sind? Was geht Sie also an, ob wir in Deutschland Institute für Kirchenrecht an den juristischen Fakultäten haben? Oder träumen Sie von einer Heimkehr ins Reich?
07.03.18
15:45
Ute Fabel sagt:
@Johannes Disch: Wäre es nach Ihrer Logik dann nicht auch ein guter Beitrag zur Pflege der Vielfalt und Ausdruck der Toleranz, wenn Supermärkte Kassiere mit Burschenschafterkappe einstellen würden. Etwa ein Viertel der Österreicher hat vor kurzem die FPÖ gewählt. 40 % der Parlamentarier dieser Partei sind bei solchen nationalen Verbindungen. Oder wie wär´s mit Hammer-Und-Sichel- Abzeichen an der Supermarktskassa? Die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) erfreut sich in Graz derzeit eines Wählerzuspruchs von 20 %. Ich bin für das konsequente optische Neutralitätsprinzip gerade bei Mitarbeitern im Kundenkontakt. Nichts drückt Wertschätzung für Andersdenkende besser aus, als sich selbst mit dem auffälligen Sichtbarmachen der eigenen Gesinnung auch einmal etwas zurückzunehmen.
08.03.18
12:28
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