









Christine Schmitz war zum Zeitpunkt des Genozids in Srebrenica als Krankenschwester bei Ärzte ohne Grenzen tätig. Im IslamiQ-Interview erzählt sie über ihren Einsatz zu Beginn des Genozids und wie es ihr Leben danach prägte.
IslamiQ: Frau Schmitz, können Sie uns schildern, wo genau Sie damals im Einsatz waren
und welche Aufgaben Sie übernommen hatten?
Christine Schmitz: Wir lebten direkt neben dem Krankenhaus in Srebrenica. Meine Aufgaben waren nicht die einer Pflegekraft, sondern die Projektkoordination. Ärzte ohne Grenzen hat seit 1993 das Krankenhaus mit Medikamenten, medizinischem Material und zwei Ärzten unterstützt. Ein Pflegeheim und mehrere Außenposten, die Ambulantas, gehörten zum Projekt dazu. Ich war u.A. für die Sicherheit des Teams zuständig, die Kontakte mit anderen Organisationen, die UNPROFOR (United Nations Protection Force, Schutztruppe der Vereinten Nationen), die Autoritäten. Ich regelte den Ablauf der Versorgung im Krankenhaus sowie die medizinischen Vorräte.
IslamiQ: Wie hat sich Ihr Alltag während des Völkermords verändert?
Schmitz: Als die Bombardierungen früh am Morgen am 6. Juli begannen, sind mein Kollege Daniel und ich in unseren Bunker mit unserem Funkgerät umgezogen. Sicherheit steht immer an erster Stelle und dazu gehört natürlich auch die Kommunikation mit unseren Kolleg:innen in Belgrad. Wir haben unsere Bewegungen in der Stadt sehr eingeschränkt und im Krankenhaus konzentrierte man sich vor allem auf die akuten Kriegsverletzten. Da es ab jetzt keine Möglichkeit mehr gab, Medikamente von außen zu bekommen, musste rationiert werden. Wir haben überlegt, unseren Notvorrat für 200 Verletzte anzugreifen, aber dazu kam es nicht mehr. Auch wurde überlegt, den Operationssaal, der im ersten Stock war, zu verlegen.
IslamiQ: Gab es einen bestimmten Moment, in dem Ihnen bewusst wurde, dass Sie sich inmitten eines Genozids befinden?
Schmitz: Nein, es gab für mich keinen konkreten Moment, wo mir bewusst wurde, das alle Männer umgebracht wurden. Ich glaube auch, dass ich die Dimension des Verbrechen nicht erkennen konnte, denn wahrscheinlich hätte ich dann nicht weiter funktionieren können.
IslamiQ: Vor welchen medizinischen und menschlichen Herausforderungen standen Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen? Und wie sind Sie mit der enormen Belastung umgegangen?
Schmitz: Die schwierigste Situation war, dass es so viele Verletzte gab, dass Ilijaz, der Chirurg, diese nicht mehr alle versorgen konnte. Ich habe die holländischen Blauhelme per Telex um Hilfe gebeten, aber die Antwort war ein Nein. Obwohl sie vorher Patienten versorgt haben, lehnten sie jetzt ab. In akuten Kriegssituationen, wo eigene Verletzte erwartet werden, darf nicht mehr geholfen werden. Daran erkennt man, dass humanitäre Hilfe der Armee nie bedarfsorientiert ist! Das medizinische Team der Blauhelme befand sich genau zu diesem Zeitpunkt in der Übergabe, das bedeutete, dass es sogar zwei Teams in Potočari gab. Somit hätte ein Chirurg nach Srebrenica kommen können. Mein Kollege Daniel, ein Allgemeinmediziner aus Australien, befand sich auf seinem ersten Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen. Er wollte evakuiert werden, doch aufgrund der sehr schlechten Sicherheitslage war dies nicht möglich. Er musste bleiben, war später aber froh darüber. Am 12. Juli gab es einen Moment, wo ich das Gefühl hatte – ich kann nicht mehr! Ich konnte nicht glauben, dass von Außen nichts getan wurde, um die Deportation der Frauen und Kinder und die Trennung der Männer von ihren Familien zu stoppen. Ich habe meinen Kollegen in Belgrad geschrieben, dass sie uns doch bitte zur Hilfe kommen sollen. Das war natürlich nicht möglich, aber mit dem Bekenntnis meiner Verzweiflung hab ich dann auch wieder genug Kraft gewonnen, um weiterzumachen.
IslamiQ: Gab es Situationen, in denen Sie sich besonders hilflos oder überfordert gefühlt haben?
Schmitz: Am 10. Juli ist eine Bombe genau gegenüber von unserem Bunker gefallen. Ich habe mich erschrocken und Angst bekommen. Wir waren nicht gezielt bedroht, aber natürlich hätte auch eine Bombe genau vor unsere Bunkertür fallen können. Ansonsten hatte ich die ganze Zeit keine Angst um mich, aber um die Bevölkerung und vor allem um die Männer.
IslamiQ: Welche Spuren hat das Erlebte in Ihrem Leben hinterlassen – beruflich wie persönlich?
Schmitz: Es gibt für mich ein Leben vor Srebrenica und ein Leben nach Srebrenica. Es begleitet mich mehr denn je. Direkt danach war ich sehr traumatisiert und habe psychologische Hilfe in Anspruch nehmen müssen, um zu lernen, mit dem Trauma zu leben. Ich hatte große Schuldgefühle, dass ich die Morde nicht stoppen konnte. Dieses Gefühl hat sich im Laufe der Jahre gewandelt. Ich bin zutiefst dankbar, dass ich in dieser furchtbaren Zeit in Srebrenica sein durfte, mit den Menschen gemeinsam sein konnte, um einen kleinen Unterschied machen zu können. Die sieben bosnischen Kollegen durften am Ende mit uns Srebrenica verlassen, die Patienten haben überlebt und ich habe im Tribunal in Den Haag aussagen können. Beruflich hat dieser Einsatz mich nur noch mehr motiviert, für andere da zu sein. Bis 2007 habe ich mit Ärzte ohne Grenzen gearbeitet, danach neben meiner palliativen Tätigkeit eher an den (Außen)Grenzen von Europa, in der Seenotrettung, in Calais sowie in Bosnien an der kroatischen Grenze.
IslamiQ: Warum ist es aus Ihrer Sicht so wichtig, dass der Genozid von Srebrenica nicht in Vergessenheit gerät?
Schmitz: In Vergessenheit geraten würde bedeuten, keine Bedeutung mehr zu haben. Wir dürfen nicht vergessen, was Menschen anderen Menschen antun können. Und Genozid ist das schlimmste Verbrechen überhaupt. Es darf nicht normal werden.
IslamiQ: In diesem Jahr jährt sich der Genozid von Srebrenica zum 30. Mal. Was bedeutet dieses Gedenken für Sie – gerade auch vor dem Hintergrund des Genozids im Gazastreifen?
Schmitz: Mir persönlich ist es sehr wichtig, dass Srebrenica und der Völkermord nicht vergessen wird. Mehr denn je möchte ich darüber sprechen und aufklären und erinnern. Ich werde erneut am Marš Mira teilnehmen um Menschen zu treffen und mit ihnen ihren Schmerz zu tragen. Mir fehlen wirklich Worte, um mein Entsetzen darüber auszudrücken, dass nichts gelernt wurde aus den kürzlichen Genoziden – Ruanda, Srebrenica und jetzt Palästina. Und wahrscheinlich gibt es auch noch Genozide, die nicht erkannt und benannt wurden wie beispielsweise der „Darfur-Konflikt“ im Sudan. Die Redewendung „Nie wieder“ hat all ihre Bedeutung verloren. Ich spüre keine Scham vor allem bei Politikern, die es geschehen lassen und zuschauen, im Falle von Palästina auch noch Waffen an den Agressor Israel zu liefern. Und Israel – eine Bevölkerung, deren furchtbares Erbe der Völkermord an Millionen Juden ist – wäre diese Bevölkerung nicht die erste, die sagt, dass es nie wieder geschehen darf?
IslamiQ: Zum Schluss: Gibt es eine Botschaft, die Ihnen besonders am Herzen liegt?
Schmitz: Ich wünsche mir so sehr Frieden für alle. Wir können damit beginnen, dass in jedem Einzelnen von uns Frieden entsteht und dass jeglicher Hass und jegliche Wut verschwindet. Darauf kann man nicht aufbauen. Wir brauchen eine Kultur des Mitgefühls. Und wir müssen unserer jetzigen Regierung nochmal bewusst machen, wofür das C steht, nämlich christlich. Und ich möchte nochmal an die Worte von Margot Friedländer erinnern – „Bleibt Menschen“. Auch angesichts der Situation in Palästina und allen anderen Kriegsgebieten der Erde.
Das Interview führte Kübra Zorlu.