Selbstkritik

“Antisemitismus betrifft uns alle!“

Antisemitismus ist ein Problem und betrifft alle – auch Muslime. Die Bekämpfung dieses Problems wird jedoch durch ihre „Islamisierung“ nur weiter in die Ferne gerückt. Ein kritischer Umgang mit Zionismus muss dennoch gelernt werden. Ein Beitrag von Esra Ayari.

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2017
Antisemitismus © shutterstock
Antisemitismus © shutterstock

Antisemitismus ist ein Problem. Kein muslimisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass auch Menschen muslimischen Glaubens antisemitisch sein können. Aktuell erkennbar an den bundesweiten propalästinensischen Demonstrationen: Flaggen werden verbrannt und antisemitische Parolen gerufen.

Doch wie kam es dazu? Für Rechtspopulisten ist die Antwort klar: Antisemitismus ist im Islam verankert. Dies widerspricht aber dem historischen Blick in die Entwicklung der Judenfeindlichkeit in muslimischen Gesellschaften.

Der Islamwissenschaftler und Buchautor Reinhard Schulze schrieb vor rund einem Jahr in einem ZEIT-Beitrag: „Tatsächlich spielt der Hass auf die Juden in der alten islamischen Tradition kaum eine Rolle. Anders als in der Geschichte des Christentums finden sich keine verschwörungstheoretischen Stereotype, die Juden diffamiert hätten.“

Auch wenn es gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Juden gab, so entstand der systematische Antisemitismus in der Region erst in Folge der Einwirkung der europäischen Kolonialmächte. Also nicht die Muslime haben den Antisemitismus nach Europa importiert, sondern europäische Kolonialherrscher haben den Hass im Zuge der „Zivilisierung“ in die mehrheitlich muslimisch bevölkerten Länder verfrachtet.

Trotzdem wird dieser Hass vor allem Muslimen in die Schuhe geschoben. Warum? „Das Schlechte wird auf eine Minderheit delegiert, die Mehrheit ist dann auf der guten, der richtigen Seite und das ist für ihr Selbstverständnis, für ihre Identität sehr wichtig“, so der renommierte Historiker und Vorurteilsforscher Wolfgang Benz in einem IslamiQ- Interview. Eine Geisteshaltung, die in vielen Debatten um Muslime zu Tage kommt, ob es die über sexualisierte Gewalt nach der Kölner Silvesternacht war, die stetig abgesprochene Gleichberechtigung oder wie aktuell: die Debatte über den Antisemitismus. Die Verlegung der eigenen soziopolitischen Probleme ist identitätsstiftend. Nur so können die einseitigen und diskriminierenden Titel: „Hat der Islam etwas gegen Juden?“ oder „Der islamische Judenhass“ erklärt werden.

Mangel an Empathie

Und trotzdem – Antisemitismus ist real. Also wie damit umgehen? Es ist der Mangel an Empathie, der uns allen immer wieder in die Quere kommt. Aktuell am Fall der Juden, aber auch beispielsweise immer wieder bei Schwarzen, wie zur Zeit in Libyen, erkennbar. Vor ein paar Wochen gingen schummrige Handyaufnahmen um die Welt, auf denen zu erkennen war, wie Lybier, Migranten aus dem subsaharischen Afrika für Geld „kauften“. Dort sind es teilweise sogar „Glaubensbrüder“, die in menschenunwürdigster Art und Weise versklavt werden, und das nur aufgrund ihrer Hautfarbe. Dazu gab es ebenfalls europaweite Demonstrationen – allein in Paris versammelten sich Tausende. Auch in Deutschland haben Menschen jeder Couleur sich gegen die Versklavung der Schwarzen ausgesprochen. Dabei wurden keine Libyen-Flaggen verbrannt oder antimuslimische Parolen geschrien. Hier ist klar, dass die abscheuliche Situation in Libyen nicht auf den Islam fußt. Gesellschaftlichen Probleme dürfen nicht theologisiert werden, denn so wird nur von dem eigentlichen Problem abgelenkt: Macht.

Jede Gesellschaft mit einer asymmetrischen Machtverteilung hat ein Rassismusproblem. Die Rohingya in Myanmar und die Palästinenser verfügen über weniger bis keine Macht und sind erschreckender Gewalt ausgesetzt. Die Unterdrückung der Palästinenser folgt nicht aus dem jüdischen Glauben der Unterdrücker, so wie die Unterdrückung der Rohingya nicht mit dem buddhistischen Glauben der Unterdrücker begründet werden kann. Genauso wie das terroristische Handeln von Muslimen nicht auf den Islam zurückgeführt werden sollte. Auch wenn diese Gleichnisse simpel scheinen, so tun sich leider noch immer viele schwer, diese Systematik zu verstehen. Auch muss kein mentaler Exkurs ins Ausland vorgenommen werden, um die Problematik darzulegen.

Muslime und Juden sitzen in einem Boot

In unsere Gesellschaft, in der Muslime und Juden religiöse Minderheiten sind, gibt es ebenfalls ein ernstzunehmendes Rassismusproblem. Im ersten Halbjahr 2017 beispielsweise gab es insgesamt 681 antisemitische Delikte und damit 27 Taten mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Nach den Angaben des Bundesinnenministeriums wurden 632 der 681 Straftaten von Rechtsextremisten begangen. Lediglich bei 23 Fällen wird ein ausländisch motivierter Hintergrund angenommen, ausgelöst von dem Nahost-Konflikt.

Im gleichen Zeitraum gab es insgesamt rund 482 islamfeindliche Delikte, da erst dieses Jahr mit der separaten Erfassung islamfeindlicher Straftaten begonnen wurde, sind keine Vergleichszahlen zum Vorjahr bekannt. In fast allen Fällen seien die Täter nach bisherigen Erkenntnissen Rechtsextreme gewesen. Die Angaben gehen aus der Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfragen hervor.

Diese rechte Feindlichkeit, die – Achtung – selbstverständlich auch nicht auf das „Deutschsein“ fußt, führt immer wieder zur berechtigten Forderung der scharfen Verurteilung und Bekämpfung von Islamfeindlichkeit und Antisemitismus im Lande. Es ist also einfach, aus der Sicht des Betroffenen sich für mehr Toleranz und Akzeptanz auszusprechen. Die Verurteilung von Gewalt und Rassismus sollte folglich nicht an die religiöse oder nationale Zugehörigkeit der Opfer oder der Vollstrecker gebunden sein. Das gilt für uns alle.

Was also tun?

Selbstverständlich ist eine Demonstration gegen die Besetzung Palästinas legitim, und aufgrund der historischen und religiösen Bedeutung Jerusalems für Muslime ist auch eine emotionale Auseinandersetzung keineswegs zu verurteilen. Dennoch, oder besser gesagt, vor allem deswegen muss der kritische Umgang mit Zionismus gelernt werden. Dies kann dann geschehen, wenn Selbstreflexion an die Stelle von blinder Wut tritt und ehrliche Selbstkritik  betrieben wird. Nur so kann man den Unterschied zwischen Antizionismus und Antisemitismus erkennen. Wolfgang Benz sagte im Interview dazu, dass antizionistische Kritik, aufgrund der öffentlichen Ächtung des Antisemitismus in Deutschland oft als Lückenfüller für den Hass gegen Juden dient. „Wenn scheinheilig davon die Rede ist, man habe nichts gegen die Juden, bekämpfe aber den Zionismus und wenn das mit angeblichen „jüdischen Eigenschaften“ „bewiesen“ werden soll, dann sind die Grenzen zwischen Israelkritik und Judenfeindschaft überschritten. Dann sind Antisemiten am Werk.“

Kritik ist also rechtmäßig. Doch vor allem Angehörige einer Minderheit sollten über die  Sensibilisierung verfügen, die akuten Probleme ohne antisemitische Tendenzen anzusprechen.

Die legitime Emotionalität muss sich nicht zwangsläufig in unsachlichen Äußerungen und Taten widerspiegeln, sondern sollte dafür genutzt werden, wahrhafte Solidarität mit den Palästinensern zu zeigen.

Leserkommentare

Ute Fabel sagt:
@ Esra Ayari: "Die Unterdrückung der Palästinenser folgt nicht aus dem jüdischen Glauben der Unterdrücker, so wie die Unterdrückung der Rohingya nicht mit dem buddhistischen Glauben der Unterdrücker begründet werden kann. Genauso wie das terroristische Handeln von Muslimen nicht auf den Islam zurückgeführt werden sollte." Wieder sollen alle Religionen einfach weißgewaschen werden, ohne sich auch mit deren problematischen Lehren auch nur ansatzweise auseinanderzusetzen. Unter Selbstkritik hätte ich mir anderes erwartet. Durch die fünf Bücher Moses zieht sich das Auserwähltsein wie ein roter Faden.Nach dem Buch Josua wurde das von Jebusitern bewohnte Jericho bei der Landnahme Kanaans als erste Stadt westlich des Jordan von den Israeliten erobert und zerstört - ganz zum Wohlwollen Jawhes. In Sure 8,55 steht geschrieben: “Siehe, schlimmer als das VIEH sind bei Allah die Ungläubigen, die nicht glauben.” Die Wurzel der Intoleranz gegenüber Anders- und Nichtgläubigen liegt klar in den religiösen Lehren selbst.
12.12.17
14:24
Semra sagt:
Liebe Ute Fabel, die Frage wäre aber schon, zum einen, wer "die Ungläubigen" in Sure 8,55 sind (Juden sind damit nicht gemeint!) und vor allem auch, welche Folgerungen aus der Aussage gezogen werden. Darf sich in dem Zusammenhang der Mensch anmaßen, schlecht gegen die Ungläubigen zu handeln, weil Gott sie schlimmer als das Vieh bezeichnet? Gillt die bamherzigkeit nur den Gläubigen oder allen Menschen?
12.12.17
18:47
Ute Fabel sagt:
@Semra: Wenn der selbsternannte, letzte Prophet Gottes Ihrer Religion im Koran Ungläubige wie mich als "Vieh" bezeichnet, ist das eine Entmenschlichung. Vieh wird in unserer Gesellschaft oft abgeschlachtet. Es hat nicht annähernd das gleiche Lebensrecht wie der Mensch. Gefundenes Fressen für Terroristen! Ich beurteile Menschen nach ihren Taten. Für mich ist es ein Armutszeugnis, wenn Mohammed alle Menschen, die nicht an ihn und seinen Gott glauben, allein deshalb zu Menschen zweiter Klasse erklärt. Einen Gott, der so denkt, würde ich nicht einmal dann verehren wollen, wenn es einen Beweis dafür gäbe, dass es er existiert.
14.12.17
12:49
Johannes Disch sagt:
@Semra (Ihr Post vom 12.12.17, 18:47) Richtig, Juden und Christen gelten im Islam nicht als "Ungläubige", sondern als "Schriftbesitzer." Zudem hat die Kairoer Al-Azhar-Universität, die in Fragen des sunnitischen Islam autoritativ ist; in einer Fetwa schon vor Jahren deutlich gemacht, dass man heute nicht mehr von "Ungläubigen" spricht, sondern von "Andersgläubigen." Sie stellen genau die richtigen Fragen: Wie interpretiert man die Sure 8,55? Welche Schlüsse zieht man daraus? (Das gilt natürlich nicht nur für die Sure 8,55, sondern für den gesamten Koran. Ich wünsche allen Frohe Feiertage und einen Guten Rutsch in 2018.
14.12.17
13:19
Manuel sagt:
Der Antisemitismus ist weit verbreitet in der Islamischen Welt und daran sind HEUTE nicht die Kolonialmächte schuld. Es ist wirklich einfach hier wieder einen Schuldigen zu suchen, statt endlich einmal vor der eigenen Tür zu kehren.
14.12.17
19:15
grege sagt:
Diverse Vorkommnisse belegen, dass antijüdische Hassbekundungen innerhalb der muslimischen Community keine Seltenheit und daher auf den letzten Demonstrationen gegen Israel keine Ausnahmeerscheinung darstellen. Parolen auf früheren Demonstrationen wie "Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpfe allein" sind mir ebenso noch in lebendiger Erinnerung wie Übergriffe auf Rabbiner sowie Kippa tragende Juden hierzulande in vornehmlich muslimisch geprägten Wohnvierteln. Derartige Vorfälle ereignen sich nicht nur in Deutschland, sondern in viel schlimmeren Ausmaß auch in Frankreich, Belgien oder Schweden. In den beiden erstgenannten Staaten hat es sogar Morde und Entführungen von Juden durch islamische Extremisten gegeben, in Schweden haben diese zuletzt Synagogen angegriffen. In muslimisch geprägten Stadtteilen Frankreichs trauen sich manche Lehrer kaum noch im Unterricht, die Shoa anzusprechen. Vor dem Hintergrund ist der Antisemitismus innerhalb der muslimischen Community keine Randerscheinung mehr. Selbst Herr Mazyek, der sonst bei jeder Gelegenheit versucht islamischen Extremismus kleinzureden, musste ebenso zugeben, dass sich Kippa tragende Juden in Stadtvierteln mit hohem Anteil von Muslimen erhöhten Gefahren aussetzen. Anstatt dieses Problem anzuerkennen und beim Namen zu nennen, flüchtet die Autorin in die angeblich glorreiche Vergangenheit der Muslime und stellt die Kolonialmächte noch als Sündenbock für den Antisemitimus im Nahen Osten dar. Darüberhinaus besitzt die Autorin noch die Dreistigkeit, die Muslime mit den Juden auf eine Stufe als Opfer hinzustellen. Hier wird wieder offensichtlich, dass Islamvertreter sich wieder einmal abartigerweise als Opfer inszenieren und die Schuldigen außerhalb ihrer Community suchen. Daran ändert auch nichts der aufkeinmende Versuch einer kritischen Selbstreflexion im letzten Abschnitt dieses Artikels.
14.12.17
20:49
Johannes Disch sagt:
@Semra (12.12.1718;47) Völlig richtig. Mit "Ungläubige" sind im Islam Polytheisten gemeint. Juden und Christen hingegen sind Monotheisten und gelten als "Schriftbesitzer." Und ebenfalls richtig: Es kommt immer darauf an, wie man eine Sure interpretiert; dass man ihren historischen Kontext kennt, und welche Schlüsse man daraus zieht.
15.12.17
17:37
Dilaver Çelik sagt:
Antisemitismus ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zionismus ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Islamfeindlichkeit ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
17.12.17
17:42
Johannes Disch sagt:
Was soll denn dieses Aufrechnen? Natürlich ist der Antisemitismus, der von islamischer Seite geäußert wird, verwerflich. Dasselbe gilt aber auch für den Antisemitismus der deutschen Rechten. Und es gilt für die Islamfeindlichkeit der AfD und anderer rechter Gruppierungen. "Antisemitismus betrifft uns alle", bringt es der Artikel gut auf den Punkt. Ich würde es noch umfassender formulieren: Rassismus betrifft uns alle! Völlig egal, gegen welche Ethnie oder gegen welche Religion er sich richtet.
17.12.17
20:43
Manfred Schmidt sagt:
2.Versuch, denn dieser Kommentar ging wohl in einem anderen thread "verloren"..... In der Frankurter Rundschau vom 15.12.2017 gibt es einen interessanten Artikel über Einstellungen muslimischer Menschen zu Juden bzw. Israel (zu sehen im Feuilleton, Seite 24). Der Artikel wurde verfasst von einem Menschen muslimischen Glaubens. Ich bin gespannt auf Reaktionen dieses Artikels, so es denn welche geben wird.....
17.12.17
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