Der Genozid in Bosnien ist auch nach 27 Jahren immer noch allgegenwärtig. Kübra Layık nahm an dem diesjährigen Friedensmarsch „Marš Mira“ und dem Gedenktag in Srebrenica teil und schreibt über ihre Eindrücke.
Es ist ein kalter und regnerischer Morgen in Nezuk. Unsere Zelte sind durchnässt, wir müssen uns beeilen. „Die Wolken weinen mit uns“, sagt eine Bewohnerin des Dorfes, während wir uns unter einem Vordach vor dem Regen schützen und uns auf den Marsch vorbereiten. Noch ahne ich nichts. Wir alle nicht. Drei Tage werden wir durch Wälder und Dörfer marschieren und Berge erklimmen. Mit dabei sind Überlebende und Angehörige des Srebrenica-Genozids. Viele von ihnen mussten 1995 selbst den „blutigen Pfad“ bestreiten.
Hava, die als Kind das Konzentrationslager in Prijedor überlebt hat, verteilt Kaffee und Tee an die Teilnehmenden. Eine Nena (bosn. für Oma) hat uns Marmeladenbrote vorbereitet. Der Schulhof, auf dem offiziell der Marsch beginnt, füllt sich langsam. Mehr als 6.000 Menschen aus aller Welt sind angereist, um beim diesjährigen „Marš Mira“ teilzunehmen.
Der Marsch wird angeführt von den „Djeca boraca Srebrenice“ (dt. Kinder der Srebrenica-Soldaten). Es sind Kinder, die den Genozid überlebt haben; Kinder, deren Väter und Mütter ermordet wurden. Mit großen Flaggen stehen sie dort und schweigen. Sie gehen vor, und wir hinterher.
Der Genozid in Srebrenica war in Europa das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Am 11. Juli 1995 nahmen bosnisch-serbische Einheiten, unter Führung des Militärchefs Ratko Mladić, die Stadt Srebrenica ein und töteten in den darauffolgenden Tagen mehr als 8.372 muslimische Bosnier.
Ebenso furchtbare Verbrechen fanden schon 1992 statt, als die serbischen Soldaten hauptsächlich die Muslime Bosniens ermordeten und vertrieben. Mehr als 100.000 Menschen, größtenteils Bosniak*innen, kamen im Krieg in Bosnien-Herzegowina ums Leben, darunter auch mehrere tausend Kinder.
„Wir haben Angst vor einem weiteren Krieg“, erzählen mir einige Bosniaken und Bosniakinnen, mit denen wir gemeinsam marschieren. Viele von ihnen sind selbst als Kinder geflohen und leben mittlerweile im Ausland. Für sie ist der Krieg noch lange nicht vorbei. Die instabile politische und wirtschaftliche Lage und die diskriminierende und rassistische Haltung der serbischen Nationalisten gegenüber den Bosniak*innen daure weiter an. „Die Provokation der serbischen Nationalisten ist enorm. Ihre rassistische Ideologie, die eigentlich nie erloschen war, facht wieder auf. Immer wieder werden wir Muslime und Musliminnen angegriffen, angefeindet und unterdrückt“, sagt Esad. Er ist damals als elfjähriger Junge zusammen mit seiner Mutter aus Srebrenica geflohen. Sein Vater und älterer Bruder wurden ermordet. Mittlerweile lebt er in Sarajevo.
Auch Ifeta fürchtet sich vor einem erneuten Krieg. Für sie sei es sehr wahrscheinlich, dass „die serbischen Nationalisten bei der kleinsten Gelegenheit wieder angreifen“. „Das ist keine Verschwörungstheorie“, sagt Ifeta. Die Angst und Sorge, wieder einen Genozid zu erleben, sei real. „Bosnien-Herzegowina könnte demnächst aufhören zu existieren, wenn sich die serbischen Nationalisten mit ihrer sezessionistischen Politik durchsetzen. Sogar eine Wiederkehr des Krieges, der vor gerade etwas mehr als einem Vierteljahrhundert beendet wurde, scheint nicht mehr ausgeschlossen“, heißt es in den medialen Berichterstattungen.[i] Was wird Europa dieses Mal dagegen tun?
Unser Gruppenführer ist Hasan Hasanović. Er hat den Genozid in Srebrenica überlebt. Zusammen mit seinen jüngeren Brüdern Hajro und Hasib machte er sich 1995 auf den Weg durch die Wälder, um das bosnische, freie Territorium zu erreichen. Dabei werden seine beiden Brüder getötet, am Anfang der Flucht sein Bruder Hajro und kurz vor dem Ziel auch sein Bruder Hasib. Hasan lässt ihn nicht liegen, sondern trägt den Leichnam seines Bruders Hasib weitere 20 km, um das Versprechen einzuhalten, dass er seiner Mutter gegeben hatte: mindestens zwei ihrer Söhne sollten die Freiheit erlangen. Hasib Hasanović ist somit das erste namentlich erfasste und bestattete Opfer des Srebrenica-Genozids. Seine und viele weitere Geschichten begleiten uns. Denn wie Hasan nehmen auch andere Überlebende am Marsch teil. Nach dem ersten Tag legen wir uns erschöpft und müde in unsere Zelte. Mein Handy zählt 38.000 Schritte. Wir versuchen zu schlafen.
Der zweite und dritte Tag des Marsches führt über hohe Berge, durch tiefe Wälder und anstrengende Parcours. Körperlich stoßen wir an unsere Grenzen. „Nećemo zaboraviti!“, ruft eine alte Dorfbewohnerin uns zu, während wir den Weg vor ihrem Haus durchqueren. Dabei versorgt sie uns mit Kaffee und Äpfeln. Wir setzen uns in ihren Garten. Die alte Dorfbewohnerin weint, setzt sich zu uns und streicht über unsere Köpfe. „Nećemo zaboraviti!“, sagt sie noch einmal und wir verabschieden uns.
Nach drei Tagen sind wir am Ziel: die Srebrenica-Gedenkstätte in Potoćari. Ein Feld voller weißer Grabstein soweit das Auge reicht. Unsere Beine brennen, unser Körper schmerzt, unsere Herzen sind voller Trauer. Ich versuche zu zählen, versuche die Menge an Gräbern einzuschätzen. Es sind zu viele. Wir setzen uns zwischen die Grabsteine, beten, weinen und schweigen.
„Sogar die Vögel zwitschern nicht“, sagt Elvedina, die ebenfalls den dreitätigen Marsch mitgelaufen ist. Welche Worte reichen aus, um das Ausmaß dieser Gewalt wiederzugeben? Dieser Ort übertrifft alles. Srebrenica, die Opfer, die ermordeten Menschen, deren Körperteile zum Teil nicht vollständig gefunden und mit beigesetzt werden konnten – sie alle erinnern uns an ein Verbrechen, das wir niemals wiedergutmachen können. „Nećemo zaboraviti!“ – wir vergessen nicht!
Nacheinander werden die 50 Särge in die Gedenkstätte getragen. In Zweierreihen liegen sie dort, nummeriert und mit den Namen gekennzeichnet. Vor den Särgen haben sich die Angehörigen versammelt. Mütter, Väter und Kinder. Nach 27 Jahren können sie Abschied nehmen. Sie können weinen und für ihre Verstorbenen beten. Niemals werden sie abschließen. Alle Särge wiegen unterschiedlich schwer, denn nicht alle Knochen der identifizierten Opfer wurden vollständig gefunden. Nach dem Massaker 1995 versuchten die Täter, ihre Spuren zu verwischen. Viele der Leichen wurden von der serbischen Armee aus ihren ursprünglichen Massengräbern später wieder ausgegraben und an neuen Orten verscharrt. So findet man verschiedene Körperteile von ein- und derselben Person an verschiedenen Orten im ganzen Land. Der Verbleib von tausenden Opfern ist nach wie vor ungeklärt.
Mehr als 25.000 Menschen haben sich zum Gedenktag am 11.07.2022 versammelt. Gemeinsam wird den identifizierten Opfern die letzte Ehre erwiesen, bevor sie dann nacheinander in den vorbereiteten und ausgegrabenen Gräber beigesetzt werden – voller Würde. Wie würdig ist es, wenn ein Mensch nach 27 Jahren (halb)gefunden, identifiziert und beigesetzt wird? Wie würdig ist es, dass die Angehörigen in ihrem Schmerz darauf hoffen, dass sie sich ansatzweise verabschieden können? An einem Grab. An einem Ort, an dem so viele noch warten – um zu finden, gefunden zu werden und weiter zu trauern. Wie viele Särge zählen wir nächstes Jahr?
Jeder Schritt erinnerte uns an die Opfer des Genozids in Srebrenica. Jeder Schritt zeigte das Ausmaß der Gräueltat. Für uns war der „blutige Pfad“ nicht blutig. Unsere Schuhe, unsere Kleidung und Ausrüstung, die Vorkehrungen, die Sanitäter und Soldaten, die uns beistanden – alles war sicher. Nur annähernd konnten und können wir nachvollziehen, wie die Menschen vor 27 Jahren ohne Essen, Trinken und Sicherheit auf diesen Wegen fliehen mussten. Während der Flucht wurden sie von serbischen Soldaten beschossen, mussten durch Minenfelder laufen und verhungern. Nein, nicht mal annähernd können wir das nachvollziehen. Wir können nicht nachvollziehen…
Aber wir können zuhören, verstehen und darüber sprechen. Wir müssen solidarisch sein! Wir dürfen nicht vergessen. Denn die Überlebenden des Genozids, die Mütter, Väter und Kinder, die Brüder und Schwestern vergessen nicht – weil der Schmerz jeden Tag nicht vergessen lässt. Marš Mira 2022.
In Erinnerung an alle Opfer, an die Überlebenden und Angehörige des Genozids in Bosnien 1992-1995. Wir werden euch nicht vergessen!
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[i] Zeit Online – Soll das der Westen mit seinen Werten sein?