Srebrenica

„Der bosniakische seven-eleven“

Der 11.07 wird als Jahrestag des Massakers in Srebrenica gehandelt. Stellvertretend für viele bosnische Muslime befragten wir den Islamwissenschaftler Esnaf Begic, der sich an die besagte Zeit erinnert und wünscht, dass es ihm andere gleichtun, ohne dabei den Völkermord zu relativieren.

11
07
2015
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IslamiQ: Das Massaker in Srebrenica liegt nun 20 Jahre zurück. Welchen Stellenwert hat dieser Tag für sie als bosnischer Muslim?

Esnaf Begic: Über Srebrenica und alles was dort in den Tagen nach dem 11. Juli 1995, als dieses Städtchen in die Hände der serbischen Einheiten fiel, zu sprechen oder zu schreiben, ist nicht einfach. Die Gräueltaten, die Verbrechen, die dort stattfanden, sind von solch einem planetaren Ausmaß, dass jeglichem Versuch der Beschreibung einfach die Worte fehlen. Ich selber bin überzeugt, dass keine Sprache auf dieser Welt so ergiebig ist, um Srebrenica überhaupt annähernd zu beschreiben. Insofern ist es für mich schwer zu sagen, welchen Stellenwert diese Geschehnisse für mich und andere Bosniaken, bosnische Muslime, haben. Man hat einfach das Gefühl, dass man den Opfern und ihren Hinterbliebenen nicht gerecht wird, egal wie und was man dazu sagt.

Dennoch, Srebrenica ist „das“ Beispiel für den geistigen und moralischen Verfall der Menschheit, für die Relativierung und dafür, was in den letzten Jahren in der serbischen Gesellschaft besonders präsent ist, nämlich die Leugnung dessen, was dort passiert ist. Es ist auch der Beleg des Verrats jener Werte, zu welchen sich die internationale Gemeinschaft nach den Schrecken des II. Weltkriegs verpflichtet hat, undzwar, dass sich so etwas nie wieder wiederholen darf. Aber es ist auch ein Beleg des Versagens der Weltgemeinschaft, nicht nur in Srebrenica, sondern im ganzen Bosnien. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass auch andere bosnische Städte wie Foča, Zvornik, Višegrad oder Prijedor in den Kriegsjahren von 1992 bis 1995 ein ähnliches Schicksal erlitten.

Die leidtragendsten dieses Gräuels waren die Bosniaken, die bosnischen Muslime, egal ob sie praktizierende, gläubige oder nur sogenannte kulturelle Muslime waren. Sehen Sie, die Welt spricht sehr oft von „nine-eleven“ wenn es um die Anschläge von 2001 in den USA geht, davor geschah aber der bosniakische „seven-eleven“. Dass darüber verhältnismäßig sehr wenig gesprochen wird, in den Medien, in der Politik oder generell in der Gesellschaft, ist eine Tatsache die besonders schmerzt. Man wird einfach nicht das Gefühl los, dass die „einen“ Menschen wertvoller sind als die „anderen“, obwohl in Srebrenica – so sehr dieser Vergleich unpassend ist, da jedes menschliche Leben gleichermaßen zählen sollte fast dreimal mehr Menschen umgebracht worden sind als in New York. Und das ganze vor der Weltöffentlichkeit, vor allem der Politischen, die wie in einem makabren Film sich in die erste Kinoreihe gesetzt und mit Popcorn in der Hand, dem orgienartigen Töten der Menschen in Srebrenica in einer regungslosen Gleichgültigkeit zugeschaut hat.

IslamiQ: Zu der Zeit haben Sie in Castrop-Rauxel gearbeitet und hatten Bosnien verlassen. Können Sie sich noch an 1995 erinnern, wie haben sie das aufgefasst?

Begic: Ja, ich bin im Ramadan 1992 im Rahmen meines islamtheologischen Studiums in Sarajevo nach Deutschland gekommen um ein Auslandspraktikum anzutreten. Kurz nach dem Ende des Ramadan begannen die ersten Tötungen, in den Tagen des Ramadan-Festes schon, in der Stadt Bijeljina. Mein Vater riet mir in naiver Erwartung noch etwas in Deutschland zu bleiben, bis sich die Situation beruhige. Das war leider nicht der Fall, ganz im Gegenteil es wurde immer schlimmer. Wobei Srebrenica den traurigen Höhepunkt darstellt.

Diese Zeit ist mir prägend in Erinnerung geblieben. Ich glaube, dass sich jede Bosniakin und jeder Bosniake, egal wo sie sich auf der Welt befanden, an die Tage von Srebrenica erinnern kann. Ich kann mich daher an diese Zeit so erinnern, dass wir vor dem Gräuel erstarrt und in einem Gefühl der Ohnmacht waren und dass wir die Doppelmoral und die Heuchelei der Welt unmittelbar und direkt spürten. Das größte Problem dabei war und vor diesem Hintergrund kann man durchaus die Gefühle der unmittelbaren Hinterbliebenen der Opfer aus dem Srebrenica-Genozid nachvollziehen die Ungewissheit. Denn man wusste nicht sofort, was genau passiert, außer, dass Srebrenica in die Hände der Serben fiel und man das Schlimmste vermutete. Als dann in den darauffolgenden Tagen immer mehr Informationen über massenhafte Tötungen, Gräueltaten und regelrechte Jagden auf die Überlebenden bekannt wurden, kamen auch die Gefühle der Wut auf.

Dennoch haben wir, und das ist für mich angesichts der heutigen sehr oft vorhanden Sichten auf den Islam und die Muslime wichtig zu sagen, nicht auf irgendwelchen terroristischen Aktionen zurückgegriffen, um auf unsere Lage und die Untätigkeit der Weltgemeinschaft zu Kriegsgeschehnissen hinzuweisen. Die Mitteln des Terrors sind darüber hinaus auch nie Option der Rache oder Vergeltung gewesen, weder außerhalb noch innerhalb Bosniens, also selbst dort nicht, wo diese Barbarei stattfand. Der Armee der Republik Bosnien-Herzegowinas, die faktisch aus dem Nichts entstanden ist und unser Land und unser Volk verteidigte, kann man keine systematischen, organisierten und geplanten Tötungen, Vertreibungen, Inhaftierungen und Vergewaltigungen vorwerfen. Das Verständnis der Kriegsführung auf der serbischen Seite bestand hingegen in allen diesen Elementen. All das spiegelt sich quantitativ wie qualitativ auch in den Anklageschriften und Urteilen vor dem UN-Tribunal für Kriegsverbrechen in Den Haag wieder. Das sind Fakten, ob sie jemandem gefallen oder nicht.

IslamiQ: Anlehnend an Ihre vorherige Antwort, heutzutage werden Muslime mit starker Gewaltbereitschaft in Verbindung gebracht. Die Muslime in Srebrenica haben sich gewaltlos ergeben. Hat der Begriff „Muslim“ einen Bedeutungswandel durchlaufen?

Begic: Nein, ich würde nicht sagen, dass der Begriff „Muslim“ als solcher sich gewandelt hat, vielmehr haben sich die Sichten auf ihn gewandelt. Dabei ist zwischen der binnenperspektivischen und außenperspektivischen Sicht zu unterscheiden. Obwohl er binnenperspektivisch im Grunde genommen die Ergebenheit gegenüber Gott bedeutet, genauer die Ergebenheit in Seinen Willen und Seine unerschöpfliche Weisheit, kann ich daraus doch keine Begründung für das gewaltlose Ergeben der bosnischen Muslime in Srebrenica ableiten. Auch keinen Fatalismus, indem sie ihr Schicksal haben kommen sehen, sich dennoch ergeben haben. Ich sehe darin vielmehr den Ausdruck eines islamischen moralisch-ethischen Handelns, indem sie auf die Versprechungen und vermeintliche Sicherheitsgarantien der UN vertraut haben. Die UN haben schon 1993, also zwei Jahre vor dem Genozid, mehrere Städte in Bosnien, darunter Srebrenica, zu ihren Schutzzonen erklärt. Im Austausch für den Schutz durch die Blauhelmtruppen der UN haben die Einheiten der bosnischen Armee ihre Waffen abgegeben und auf den organisierten bewaffneten Kampf verzichtet. Wie dieser Schutz ausgesehen hat, sehen wir heute an der Anzahl der Massengräber fast überall im serbisch-besetzten Teil Bosniens und der Grabsteine in der Gedenkstätte Potočari bei Srebrenica. Das ist jene Ortschaft, wo sich die Basis der UN-Soldaten des holländischen Bataillons befand und welche keinen Schutz für die dorthin geflüchteten Menschenmengen boten. Also, die UN haben ihren Teil der Abmachung nicht erfüllt und nicht erfüllen wollen, obwohl die Bosniaken darauf würdevoll vertraut haben.

Vielmehr handelt es sich hierbei deshalb um einen Wandel jener Werte für welche die UN vermeintlich steht. Und damit hängt – zumindest als mittelbares Beispiel – die außenperspektivische Sicht auf die Muslime zusammen, die vorwiegend aus dem politischen und medialen Bereich hervorkommt, ja gesteuert wird. Es handelt sich dabei um nichts anderes als die Zuschreibungen. Denn die Gewaltbereitschaft der Muslime ist heutzutage nur medial wahrnehmbarer und wird politisch mehr ausgeschlachtet, als dass sie sich tatsächlich so darstellt. Es scheinen nämlich bestimmte Gewaltmuster nur für die Muslime vorbehalten zu sein. Dieselben Muster werden bei Nichtmuslimen sehr oft als etwas ganz anderes dargestellt, andere Motive und Einflüsse werden zur Erklärung angeführt. Die Gewalt wird in meinen Augen dadurch relativiert und verniedlicht. Diese Vorgehensweise oder die nicht vorhandene Berichterstattung über die Gewalt auch bei den Nichtmuslimen bedeutet nicht, dass es dort keine Gewaltbereitschaft gibt und, dass sie nicht angewandt wird. Wie auch immer, das Verhalten der bosnischen Muslime während Srebrenica-Genozids und des ganzen Bosnienkrieges steht der Behauptung der starken Gewaltbereitschaft der Muslime resolut gegenüber.

IslamiQ: Sind Mitglieder ihrer Familie diesen Gräueltaten zum Opfer gefallen?

Begic: Gott sei Dank nein, keine unmittelbaren und nahen Familienmitglieder und Verwandten. Mein Vater wurde aber kurz vor dem Kriegsende an der Front so verwundet, dass er aufgrund dessen schwer krank wurde und letztendlich etwa eineinhalb Jahre nach dem Krieg verstarb.

Dennoch erfüllt Srebrenica mich und alle Bosniaken mit Schmerz, als ob dies meine nächsten Familienangehörigen gewesen wären. Vielleicht ist dafür die prägendste Erklärung eine Situation, die ich vor zwei Jahren mit meinem damals 13-jährigen Sohn in Sarajevo erlebte. An jedem 9. Juli werden nämlich die sterblichen Überreste der Opfer des Genozids nach Srebrenica überführt, die inzwischen identifiziert worden sind. Die LKWs, in riesengroße bosnische Fahnen umhüllt und mit unzähligen Blumensträußen geschmückt, fahren langsam durch die Straßen von Sarajevo, damit die Menschen den Opfern die letzte Ehre erweisen und al-Fatiha rezitieren können. Als an uns die LKWs vorbeifuhren, fragte mich mein Sohn mit Augen voller Tränen: „Papa, warum haben sie uns das angetan?!“ Sehen Sie, er ist ein in Deutschland geborenes Kind, das in Deutschland aufwächst und in die Schule geht, das überwiegend die deutsche Sprache spricht und Bosnien lediglich als Urlaubsland wahrnimmt. Und dennoch fühlt es solch eine starke Verbundenheit mit den Opfern des Genozids von Srebrenica, dass er mich mitten in Sarajevo, auf deutsch so etwas fragt und dabei das Wort „uns“ verwendet. Die Opfer von Srebrenica sind daher alle unsere Familie und Ihre Frage könnte im Lichte dessen durchaus bejahend beantwortet werden.

IslamiQ: Welche Bedeutung hat dieser Vorfall dann für den Islam und die Muslime in Bosnien?

Begic: Der Völkermord von Srebrenica ist für uns alle, so auch für mich, eine Art Zäsur im eigenen Islamverständnis. Er ist eine Zäsur im Sinne einer konstanten Rückbesinnung auf die Ursachen des Genozids und Selbstprüfung der islamischen Werte des Lebens und des Umgangs mit sich selbst und anderen.

Die Ursachen liegen zweifellos in der Tatsache, dass die Opfer Muslime waren, also einen wie auch immer verstandenen und nach außen manifestierten Bezug oder Identifizierung zum Islam hatten. Das reicht aber nicht aus, damit das passieren konnte, was in Srebrenica oder anderswo in Bosnien tatsächlich passiert ist. Es brauchte auch den Hass seitens der Täter jeglichem islamischem und muslimischem gegenüber. Dieser Hass war so stark und so ausgeprägt, dass es Srebrenica erst so überhaupt geben konnte. Ich habe das eingangs erwähnt, möchte darauf noch etwas ausführlicher eingehen: es reichte sehr oft aus, dass man getötet wurde, wenn man einen falschen Namen hatte. Und dieser falsche Namen war ein muslimischer. Bei vielen Menschen sind das die einzigen „Verbrechen“ gewesen, weswegen sie umgebracht, vertrieben oder vergewaltigt wurden. Es spielte also keine Rolle, ob man gläubig-praktizierend oder sogenannter „Kulturmuslim“ wa. Man wurde einfach so umgebracht. Und bei vielen dieser „kulturellen Muslimen“ haben die Geschehnisse des Bosnienkrieges und besonders von Srebrenica dazu geführt, dass sie ihre in Vergessenheit geratene oder im Elternhaus in der Kindheit nicht vermittelte Religiosität wieder- oder überhaupt entdeckten und begannen den Islam bewusst und überzeugt zu praktizieren. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie Jugendliche in meiner Moscheegemeinde mit dem Fortdauern des Krieges und der stattfindenden Verbrechen nach und nach begannen ihre islamische Identität, ihre Zugehörigkeit zum Islam, selbst wenn die alltägliche religiös-rituelle Praxis zu wünschen übrig ließ, nach außen in die Öffentlichkeit trugen und manifestierten.

Auf der anderen Seite stellen eben diese, auf den Islam sich beziehende und durch ihn inspirierte Identität, generell unsere islamische Glaubensauffassung und die moralisch-ethischen Werte des Islam die Grundlage für die Prüfung unseres Verhältnisses zum Leben, zu sich selber und zu anderen. Wir Bosniaken wollen als Muslime nicht wie diejenigen sein, die bis gestern noch unsere vermeintlich lieben Nachbarn, scheinbar treuen Freunde, Trauzeugen und Lehrer waren, heute aber unsere Schlachter, Henker und Vergewaltiger. Das widerspricht unserem Islamverständnis, das ist nicht das Wesen eines bosnischen Muslims. Auf der Grundlage dieser Islamauffassung nehmen wir daher lieber und ehrenvoller das Leiden und den Schmerz von Srebrenica auf und tragen es würdevoll – man müsste sich nur die „Mütter von Srebrenica“ anschauen, die würdevoll mit dem Geschehenen umgehen – mit und in uns, als dass wir uns, wie dies mit den serbischen Tätern der Fall ist, das Böse aufbürden und uns durch dieses Böse definieren und dies sogar als Stolz empfinden.

IslamiQ: Wie sollte man an das Massaker, dass als „das größte Kriegsverbrechen“ in Europa seit Weltkriegsende genannt wird, erinnern?

Begic: Ich habe zwar darauf bisher nicht reagiert, bei dieser Frage erscheint mir das als sehr geeignet. Heutzutage wird im politischen und medialen Diskurs vom „Massaker von Srebrenica“ gesprochen. Ich wäre naiv zu glauben, dass dies nur unabsichtlich geschieht. Bei vielen politischen und medialen Kreisen sowohl in Bosnien und Serbien, wie auch in Europa oder auf der Weltebene, sind Strategien vorhanden, um das zu relativieren, was in Srebrenica tatsächlich passiert ist. Und das, was passiert ist, ist kein Massaker, es war Völkermord, es war Genozid! Das hat das UN-Tribunal für Kriegsverbrechen in Den Hag festgestellt, das ist inzwischen auch ein juristischer Fakt und daran haben wir uns bitte zu halten. In der Politik und in den Medien, im ganzen gesamtgesellschaftlichen Kontext.

Nun, wie mit diesem „größten Kriegsverbrechen“ in Europa nach dem II. Weltkrieg umgehen und an Srebrenica erinnern? Für mein Verständnis ist das ohne einen Rückbezug auf den II. Weltkrieg, den Holocaust, die Lehren und das vermeintliche Selbstversprechen der Weltgemeinschaft, dass sich so was nie wieder wiederholen darf, nicht möglich. Die Lehren aus dem Holocaust und dem II. Weltkrieg sind im Bosnienkrieg und in Srebrenica vergessen worden. Sie werden aber, was vielleicht noch schlimmer ist, weiterhin und gezielt in der heutigen Zeit und aktuell vergessen, indem man versucht den Genozid von Srebrenica zu relativieren und zu leugnen. Diese Leugnung kommt der Leugnung des Holocausts gleich und jener Kriegsverbrechen des II. Weltkriegs – hatte die internationale Gemeinschaft nach dem II. Weltkrieg nicht gesagt, dass man aus dem Holocaust Lehren ziehen muss und sich solche Verbrechen nie wiederholen dürfen?! Und wenn der Genozid von Srebrenica trotz alldem möglich war, wenn man Srebrenica zugelassen hat, so ist sicherlich auch der Holocaust möglich, da man auch ihn durch Gleichgültigkeit und Nichtstun zugelassen hat.

Die Leugnung des Genozids von Srebrenica ist heutzutage in der serbischen Gesellschaft überall präsent und findet in mehr oder weniger allen Bereichen tagtäglich statt: in der Politik, in der Kultur, in der Bildung, in der Religion, in den Medien. Die inzwischen mythologisch anmutende Verehrung der Kriegsverbrechen und der Kriegsverbrecher bei großen Teilen der serbischen Bevölkerung und der serbischen Gesellschaft ist offenbar zu einem nationalen Identitätsmerkmal aufgestiegen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass dieses Land an der Schwelle zur Mitgliedschaft in der EU steht! Gehört die Auseinandersetzung mit den Lehren aus dem II. Weltkrieg zu den europäischen Werten, so muss von Serbien in den Beitrittsverhandlungen verlangt werden, das Massaker von Srebrenica als das anzuerkennen was es ist: ein Völkermord!

Einer Leugnung des Völkermords von Srebrenica kann und muss entgegen gewirkt werden und daran kann erinnert werden, indem im gesamtgesellschaftlichen Kontext in den Ländern der EU, so auch in Deutschland, in Anlehnung an die Erinnerungskultur bzw. „Kultur der Erinnerung“ an den Holocaust eine „Kultur der Ermahnung“ an den Völkermord von Srebrenica etabliert wird. Das muss unsere gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, Srebrenica und der dort statt gefundene Völkermord muss in die Bildungssysteme der humanistisch werteorientierten Länder einfließen und zum festen Bestandteil der schulischen Lehrpläne werden.

Darüber hinaus und um diese „Kultur der Ermahnung“ an Srebrenica etablieren zu können sowie die „Kultur der Erinnerung“ an den Holocaust nicht verblassen zu lassen, ist es höchste Zeit, dass angesichts der Verhinderung der Resolution im UN-Sicherheitsrat seitens Russlands vor einigen Tagen, die nationalen Parlamente der EU-Länder entsprechende Resolutionen zum Genozid von Srebrenica verabschieden. Ich persönlich fände nationale Resolutionen in qualitativer und ohnehin in quantitativer Hinsicht besser. Angesichts seiner Geschichte und der Fähigkeit der eigenen Geschichtsverarbeitung und Vergangenheitsbewältigung kann und muss eigentlich Deutschland eine führende Rolle einnehmen. Die Verabschiedung einer Resolution zum Völkermord von Srebrenica wäre der Beleg dafür und ich hoffe und erwarte, dass sich damit der Deutsche Bundestag alsbald beschäftigt.

Aus meiner Sicht geht es hier auch um Europa, jenes welche über die aktuelle Finanzkrise hinausgeht und in welchem nicht unbedingt und primär materielle, sondern ganz andere Werte vorherrschend sind. Ähnlich drückte das diese Woche auch der Präsident des Deutschen Bundestags Prof. Dr. Norbert Lammert in seiner Eröffnungsrede zur aktuellen parlamentarischen Woche aus. Darüber hinaus wäre es gut, wenn manche deutsche Städte die Partnerschaften mit Srebrenica, aber auch mit anderen durch die Kriegsverbrechen gekennzeichneten Städten schließen würden. Ich könnte mir beispielsweise sehr gut vorstellen, dass Osnabrück, die Stadt wo ich seit einigen Jahren lebe und arbeite, einfach aufgrund ihrer zwar nicht immer einfachen, aber vielfältigen Geschichte, aufgrund des Beinamens „Friedensstadt“ und der Fähigkeit der Geschichtsverarbeitung eine sehr gute und geeignete Partnerstadt für Srebrenica wäre.

Ich erwarte außerdem in Erinnerung an den Genozid von Srebrenica und mit dem Ziel der Etablierung einer Kultur der Ermahnung an den dort statt gefundenen Genozid auch ein größeres und vielfältigeres Engagement der muslimischen Zivilgesellschaft in Deutschland. Es muss aber durch öffentliche Aktionen stattfinden und die breite Öffentlichkeit erreichen, es muss aus Wänden der Moscheegemeinden und dortigen Gedenkveranstaltungen raus und in die Gesellschaft rein, etwa durch Kunstausstellungen, wissenschaftliche Tagungen, Buchlesungen, künstlerische Events. Einfach gesagt, der breiten Öffentlichkeit muss Srebrenica vermittelt werden. Das ist bisher noch nicht geschehen und das ist beschämend.

IslamiQ: Ratko Mladic, der für den Völkermord verantwortlich gemacht wird, wartet noch immer auf seine Urteilsverkündung. Wird Srebrenica seine Vergeltung noch bekommen?

Begic: Nein, Srebrenica wird und kann keine Vergeltung bekommen. Zumindest nicht im Diesseits bzw. im diesseitigen Leben. Für uns Muslime ist dieser Aspekt nachvollziehbar und wir gehen mit ihm völlig im Frieden und Bewusstsein, dass eine entsprechende Vergeltung nicht möglich ist. Denn wer kann ein erst geborenes und trotzdem getötetes Baby einer Familie ersetzen, wer kann überhaupt, wem und wie eine ganze ausgelöschte Familie – und solche gibt es zuhauf – vergelten? Das würde bedeuten, dass wir Opfer so sein müssten wie die Täter. Wir müssten zu dem werden, was sie sind. Das können und wollen wir nicht. Unser Islam, der uns zu dem macht, was wir sind, ermöglicht uns das nicht. Das Oberhaupt der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina und Großmufti Husein Kavazović sagte neulich in einem Interview, dass Srebrenica nicht von dieser Welt sei, so schwer seien die Verbrechen, die dort verübt worden sind. Daran anschließend kann ich dann nur ergänzen, dass dementsprechend auch eine Vergeltung nicht von dieser Welt sein kann.