Die Karikatur über den ertrunkenen und angespülten Flüchtlingsjungen Aylan bestürzte die ganze Welt. Das Symbol der Flüchtlingskrise wurde in der aktuellen Ausgabe des Satiremagazins Charlie Hebdo karikiert und mit den „Grapschern“ aus Köln gleichgesetzt. Das ist islamfeindlich und menschenverachtend, sagt Milena Rampoldi.
Ein Jahr nach den brutalen Attentaten auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ veröffentlicht Charlie eine Karikatur über das tote syrische Flüchtlingskind Aylan al-Kurdi, das Anfang September 2015 leblos an die türkische Küste Bodrums gespült wurde.
Die Karikatur, die Aylan und die sexuellen Massenbelästigungen von Frauen durch nordafrikanische Männer – mit der islamfeindlichen Glaskugel des Zauberers Merlin – in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof in Verbindung bringen, ist die dritte einer „Kollektion des meta-satirischen Horrors“.
Die Reaktionen auf die Karikatur folgten sehr schnell. In muslimischen und auch nicht-muslimischen Kreisen sind zahlreiche Menschen, die sich vor allem in den sozialen Medien Facebook und Twitter darüber äußern, schockiert und bestürzt über das, was viele als Überschreitung jeglicher Grenze der Satire bezeichnen.
Viele beschreiben die Karikaturen als menschenverachtend, abscheulich, unpassend, „disgusting“, „degoutant“, unmenschlich, entwürdigend, u.ä. In allen Sprachen ertönt die Kritik der Menschen, die Aylan zum Symbol des tragischen Schicksals der Flüchtlinge im Mittelmeer erhoben haben und mit diesem Symbol nicht spielen und spötteln wollen. Es wurden auch Gedichte über Aylan geschrieben, u.a. von der italienisch-tunesischen Bildhauerin Nefissa Labidi, die sehr emotional nahelegen, wie der Westen mit seinem protzenden Reichtum, seiner Kriegstreiberei und der Mauer- und Wachturmkultur syrische Kriegskinder im Meer sterben lässt.
Paradoxerweise kommt im Gedicht von Nefissa Labidi genau derselbe Satz wie in der Karikatur von Sourisseau vor, und zwar dieser: „Hättest du überlebt…“ Es ändert sich nur die Perspektive, da Sourisseau Aylan in der dritten Person als einen „Er“ sieht, während die tunesische Bildhauerin in ihrem Gedicht direkt mit dem toten Kind spricht und sich liebevoll mit seinem Schicksal auseinandersetzt, als wäre das Kind ein Teil von ihr, denn auch sie ist ausgewandert und hat das Mittelmeer überquert, wenn auch nicht in einem Schlauchboot.
Natürlich gibt es auch Menschen, die den Karikaturisten von Charlie Hebdo, Laurent Sourisseau als einen nicht-rassistischen Humanisten verteidigen, der einen „fiktiven Medienbericht inszeniert“ und somit selbst nicht direkt über Aylan spricht, wie der deutsche Journalist Stephan Maus in seinem Artikel über diese Karikatur von Aylan auf Stern.de darlegt. Hier heißt es schlussfolgernd, nach sehr technischen Hinweisen zur Ausarbeitung der Karikatur in all ihren „stilistischen“ und „topographischen“ Elementen mit Hilfe des sogenannten „journalistischen Werkzeugkastens“ und der „Dachzeile“ – möchte Sie nicht mit solchen Begriffen langweilen – über den „Humanisten“ Sourisseau:
„Vor vier Monaten machten die Medien Aylan zum Symbol für alle Flüchtlinge. Es ging dabei weniger um Aylan als darum, Emotionen abzuschöpfen. Jetzt sollen die Kölner Grabscher das Symbol für alle Flüchtlinge sein. Rassismus hat Mitleid ersetzt. Indem Sourisseau mit seiner Zeichnung beide zusammenführt, sagt er: Wer jetzt suggeriert, alle Flüchtlinge seien Kriminelle, der verhöhnt auch den kleinen Aylan. Sourisseau ist kein Rassist, sondern ein Humanist.“
Stephan Maus‘ Aussage motiviert mich, einen islamischen Standpunkt vorzustellen, aus dem hervorgeht, wie islamfeindlich und mehr, wie menschenverachtend sie auch ist. Denn auf jeden Fall bringt die Karikatur nicht zufällig zwei parallele Symbole zum Ausdruck, zwei Gleichungen wie Aylan = Mitleid gegen den erwachsenen Aylan = Rassismus. Er denkt auch keinen Mediendiskurs fiktiv zu Ende, denn Merlin der Zauberer sieht in der Redaktion von Charlie Hebdo sehr wohl die Existenz von Aylan konkret vor sich, wenn er von ihm als einen potentiellen „Grapscher“ in Deutschland spricht. Denn Aylan wäre so einer geworden, so die Glaskugel von Merlin-Charlie. Das einzige Hindernis, das Charlie Hebdo sieht, ist sein tragischer Tod durch Ertrinken vor der türkischen Küste. Ansonsten hätte der kleine Aylan seine Karriere notwendigerweise durchlaufen.
Eine zentrale Komponente in dieser neuen Karikatur von Aylan ist natürlich der Diskurs über die sexuelle Gewalt, von der Muslime anscheinend nicht lassen können. Im islamfeindlichen Weltbild sind die muslimischen Männer Horden von Sexualstraftätern, die sich im Namen des Islam auf das Freiwild der deutschen und europäischen Frauen stürzen. Aber sexuelle Gewalt hat keine Religion. Sexuelle Gewalt hat auch kein Gewissen. Sexuelle Gewalt ist Männergewalt, nicht mehr und nicht weniger.
Wir dürfen nicht sexuelle Gewalt „kulturalisieren“, denn wer Frauen belästigt und Frauen vergewaltigt, sich an Frauen vergreift, ist kein strikter „Muslim“, denn Muslim ist jemand, der sich Allah unterwirft und somit nach den folgenden Grundsätzen lebt, wenn es um Frauen geht (wohlgemerkt nicht um muslimische Frauen, sondern um Frauen).
„ O, ihr Menschen, Wir haben euch aus Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, auf dass ihr einander erkennen möget. Wahrlich, vor Allah ist von euch der Angesehenste, welcher der Gottesfürchtigste ist.“ (49:13)
In einer Überlieferung des Propheten Muhammed (sas) heißt es des Weiteren:
„Die Frauen sind die Zwillingshälften der Männer.“
Im Islam basiert die Beziehung zwischen Mann und Frau in der Ehe auf Gottesfürchtigkeit und Verantwortung, auf Liebe und Respekt. Im Vers 21 der Sure „Rum“ heißt es hierzu aussagekräftig:
Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen “Zu Seinen Zeichen gehört, dass Er euch Partner aus euch selbst erschaffen hat, damit ihr bei ihnen ruhet. Und dass Er zwischen euch Liebe und Barmherzigkeit gesät hat. Hierdrin sind für diejenigen, die nachdenken fürwahr Zeichen (Seiner Existenz und Seiner Macht).”
Aber Charlie-Merlin sieht das anders, weil er nicht nachdenkt. Er identifiziert den Koran und den Islam mit einer Religion der Verherrlichung sexueller Gewalt als notwendigen Ausdruck der muslimischen Männlichkeit. Dass das gar nicht stimmt, interessiert ja keinen. Denn je öfter man eine Lüge rezitiert oder in Karikaturen neu erfindet, desto wahrer wird sie in einer Welt der Kriegstreiberei und der Abgründe der Ignoranz.