Charlie Hebdo

„Aylan-Karikatur ist menschenverachtend“

Die Karikatur über den ertrunkenen und angespülten Flüchtlingsjungen Aylan bestürzte die ganze Welt. Das Symbol der Flüchtlingskrise wurde in der aktuellen Ausgabe des Satiremagazins Charlie Hebdo karikiert und mit den „Grapschern“ aus Köln gleichgesetzt. Das ist islamfeindlich und menschenverachtend, sagt Milena Rampoldi.

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2016
Sourisseaus Karikatur über Aylan © Charlie Hebdo

Ein Jahr nach den brutalen Attentaten auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ veröffentlicht Charlie eine Karikatur über das tote syrische Flüchtlingskind Aylan al-Kurdi, das Anfang September 2015 leblos an die türkische Küste Bodrums gespült wurde.

Die Karikatur, die Aylan und die sexuellen Massenbelästigungen von Frauen durch nordafrikanische Männer – mit der islamfeindlichen Glaskugel des Zauberers Merlin – in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof in Verbindung bringen, ist die dritte einer „Kollektion des meta-satirischen Horrors“.

Die Reaktionen auf die Karikatur folgten sehr schnell. In muslimischen und auch nicht-muslimischen Kreisen sind zahlreiche Menschen, die sich vor allem in den sozialen Medien Facebook und Twitter darüber äußern, schockiert und bestürzt über das, was viele als Überschreitung jeglicher Grenze der Satire bezeichnen.

Viele beschreiben die Karikaturen als menschenverachtend, abscheulich, unpassend, „disgusting“, „degoutant“, unmenschlich, entwürdigend, u.ä. In allen Sprachen ertönt die Kritik der Menschen, die Aylan zum Symbol des tragischen Schicksals der Flüchtlinge im Mittelmeer erhoben haben und mit diesem Symbol nicht spielen und spötteln wollen. Es wurden auch Gedichte über Aylan geschrieben, u.a. von der italienisch-tunesischen Bildhauerin Nefissa Labidi, die sehr emotional nahelegen, wie der Westen mit seinem protzenden Reichtum, seiner Kriegstreiberei und der Mauer- und Wachturmkultur syrische Kriegskinder im Meer sterben lässt.

Paradoxerweise kommt im Gedicht von Nefissa Labidi genau derselbe Satz wie in der Karikatur von Sourisseau vor, und zwar dieser: „Hättest du überlebt…“ Es ändert sich nur die Perspektive, da Sourisseau Aylan in der dritten Person als einen „Er“ sieht, während die tunesische Bildhauerin in ihrem Gedicht direkt mit dem toten Kind spricht und sich liebevoll mit seinem Schicksal auseinandersetzt, als wäre das Kind ein Teil von ihr, denn auch sie ist ausgewandert und hat das Mittelmeer überquert, wenn auch nicht in einem Schlauchboot.

Humanist oder Rassist?

Natürlich gibt es auch Menschen, die den Karikaturisten von Charlie Hebdo, Laurent Sourisseau als einen nicht-rassistischen Humanisten verteidigen, der einen „fiktiven Medienbericht inszeniert“ und somit selbst nicht direkt über Aylan spricht, wie der deutsche Journalist Stephan Maus in seinem Artikel über diese Karikatur von Aylan auf Stern.de darlegt. Hier heißt es schlussfolgernd, nach sehr technischen Hinweisen zur Ausarbeitung der Karikatur in all ihren „stilistischen“ und „topographischen“ Elementen mit Hilfe des sogenannten „journalistischen Werkzeugkastens“ und der „Dachzeile“ – möchte Sie nicht mit solchen Begriffen langweilen – über den „Humanisten“ Sourisseau:

„Vor vier Monaten machten die Medien Aylan zum Symbol für alle Flüchtlinge. Es ging dabei weniger um Aylan als darum, Emotionen abzuschöpfen. Jetzt sollen die Kölner Grabscher das Symbol für alle Flüchtlinge sein. Rassismus hat Mitleid ersetzt. Indem Sourisseau mit seiner Zeichnung beide zusammenführt, sagt er: Wer jetzt suggeriert, alle Flüchtlinge seien Kriminelle, der verhöhnt auch den kleinen Aylan. Sourisseau ist kein Rassist, sondern ein Humanist.“

Stephan Maus‘ Aussage motiviert mich, einen islamischen Standpunkt vorzustellen, aus dem hervorgeht, wie islamfeindlich und mehr, wie menschenverachtend sie auch ist. Denn auf jeden Fall bringt die Karikatur nicht zufällig zwei parallele Symbole zum Ausdruck, zwei Gleichungen wie Aylan = Mitleid gegen den erwachsenen Aylan = Rassismus. Er denkt auch keinen Mediendiskurs fiktiv zu Ende, denn Merlin der Zauberer sieht in der Redaktion von Charlie Hebdo sehr wohl die Existenz von Aylan konkret vor sich, wenn er von ihm als einen potentiellen „Grapscher“ in Deutschland spricht. Denn Aylan wäre so einer geworden, so die Glaskugel von Merlin-Charlie. Das einzige Hindernis, das Charlie Hebdo sieht, ist sein tragischer Tod durch Ertrinken vor der türkischen Küste. Ansonsten hätte der kleine Aylan seine Karriere notwendigerweise durchlaufen.

Das Frauenbild im Islam

Eine zentrale Komponente in dieser neuen Karikatur von Aylan ist natürlich der Diskurs über die sexuelle Gewalt, von der Muslime anscheinend nicht lassen können. Im islamfeindlichen Weltbild sind die muslimischen Männer Horden von Sexualstraftätern, die sich im Namen des Islam auf das Freiwild der deutschen und europäischen Frauen stürzen. Aber sexuelle Gewalt hat keine Religion. Sexuelle Gewalt hat auch kein Gewissen. Sexuelle Gewalt ist Männergewalt, nicht mehr und nicht weniger.

Wir dürfen nicht sexuelle Gewalt „kulturalisieren“, denn wer Frauen belästigt und Frauen vergewaltigt, sich an Frauen vergreift, ist kein strikter „Muslim“, denn Muslim ist jemand, der sich Allah unterwirft und somit nach den folgenden Grundsätzen lebt, wenn es um Frauen geht (wohlgemerkt nicht um muslimische Frauen, sondern um Frauen).

„ O, ihr Menschen, Wir haben euch aus Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, auf dass ihr einander erkennen möget. Wahrlich, vor Allah ist von euch der Angesehenste, welcher der Gottesfürchtigste ist.“ (49:13)

In einer Überlieferung des Propheten Muhammed (sas) heißt es des Weiteren:
„Die Frauen sind die Zwillingshälften der Männer.“

Im Islam basiert die Beziehung zwischen Mann und Frau in der Ehe auf Gottesfürchtigkeit und Verantwortung, auf Liebe und Respekt. Im Vers 21 der Sure „Rum“ heißt es hierzu aussagekräftig:

Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen “Zu Seinen Zeichen gehört, dass Er euch Partner aus euch selbst erschaffen hat, damit ihr bei ihnen ruhet. Und dass Er zwischen euch Liebe und Barmherzigkeit gesät hat. Hierdrin sind für diejenigen, die nachdenken fürwahr Zeichen (Seiner Existenz und Seiner Macht).”

Aber Charlie-Merlin sieht das anders, weil er nicht nachdenkt. Er identifiziert den Koran und den Islam mit einer Religion der Verherrlichung sexueller Gewalt als notwendigen Ausdruck der muslimischen Männlichkeit. Dass das gar nicht stimmt, interessiert ja keinen. Denn je öfter man eine Lüge rezitiert oder in Karikaturen neu erfindet, desto wahrer wird sie in einer Welt der Kriegstreiberei und der Abgründe der Ignoranz.

Leserkommentare

Johannes Disch sagt:
Mit dieser Karikatur hat sich "Charlie Hebdo" wahrlich keinen Gefallen getan. lg Johannes Disch
18.01.16
4:28
Charley sagt:
Ich stimme Johannes Disch zu! Zugleich: Satire überfordert zuweilen Normalos, weil nichts (!) mehr heilig ist und vieles "Respektable" in der Welt von Normalos doch nur halbheilig ist. DA den Spiegel vorgehalten zu bekommen, muss (Spießer-)Entrüstung hervorrufen. Die Vordergründigkeit, mit der eben leider kitschig- sentimentales Mitgefühl und auch Entrüstung im Mainstream gepflegt wird, zeigt nur den Unwillen, sich mit der bitteren Realität tiefer auseinander zu setzen. Darum sind viele Mainstreamemotionen auch nur subjektiv bedeutsam. Und es ist verblüffend, wie Medien und Spießerkultur sich gegenseitig befördern. Peinlich an dem obigen Text finde ich die Dogmenkeule am Schluss: Weil wir Muslime sind, SIND wir auch sofort die Verwirklichung von Mohammeds Idealen! Diese Denke ist klassisches Fanatikertum, dass die eigene menschliche, nicht ideale Realität nicht sehen kann/will. Klassisches Sektenmuster! (Hatten die Kommunisten genauso. Gibts auch i d kath Kirche usw...)
19.01.16
5:09
Ute Fabel sagt:
Ebenso wie in der Bibel findet man im Koran sowohl süße als auch saure Früchte. Frau Dr. Rampoldi hat in Ihrem Artikel einige Rosinen herausgepickt. Eine ehrliche Diskussion erfordert es jedoch, dass nichts unter den Teppich gekehrt wird: Koran Sure 4:34: Die Männer stehen den Frauen in Verantwortung vor, weil Allah die einen vor den anderen ausgezeichnet hat und weil sie von ihrem Vermögen hingeben. Darum sind tugendhafte Frauen die Gehorsamen und diejenigen, die (ihrer Gatten) Geheimnisse mit Allahs Hilfe wahren. Und jene, deren Widerspenstigkeit ihr befürchtet: ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch dann gehorchen, so sucht gegen sie keine Ausrede. Wahrlich, Allah ist Erhaben und Groß.
19.01.16
7:29
Charley sagt:
@Ute: es gibt Zitate für alles mögliche. Das ist ein müßiges Spiel. Die Ideale sind Privatsache (d.h. Thema der individuellen, geistig-intimen Entwicklung), real ist, was in der Alltagspraxis der "Religion" ankommt. Im Alltag kommt auch an "Dogmatismus", fanatisierte Härte (wo Religion vllt nur noch Alibi für selbstherrliches Ego ist), oder auch im intimen Umgang mit den Inhalten der Religion ein mildes Herz entwickelt wird.
19.01.16
10:00
Ute Fabel sagt:
Charlie Hebdo ist ein linksgerichtetes, atheistisches Magazin, dass das Papsttum, die katholische Kirche und vor allem Marine LePen mit ihrer Front National schon weit öfters durch den Kakao gezogen hat als Mohammed und islamischen Personenkult rund um ihn, der sich bekanntermaßen in einem Darstellungsverbot des Propheten manifestiert. Nach meiner Einschätzung karikiert dieser Cartoon den Rassimus. Seit dem Jahreswechsel sind in der medialen Debatte Nordafrikaner und Araber pauschal als Grapscher verschrieben. Durch die Herstellung der Verbindung zu dem tragisch ertrunkenen Aylan soll beim Betrachter folgender Nachdenkreflex ausgelöste werden: "Stimmt denn das wirklich, ist das Grapschen wirklich die einzige Facette aller männlichen Flüchtlinge ist?"
19.01.16
14:39
ron jeremy sagt:
Die ambivalente Botschaft der Zeichnung wurde leider nicht verstanden bzw. man wollte sie nicht verstehen, um auch nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo die Redaktion zu delegitimieren.
24.01.16
23:10
Timo Beil sagt:
Der Afghane, der kürzlich seiner Frau die Nase abschnitt, weil sie dagegen war, dass er nach Mohammeds Vorbild eine Sechsjährige heiraten wollte, war dann sicher auch kein Moslem. Ich bin es leid, dass jede als Kritik verstandene Äußerung zu beleidigtem Jammern führt und jede tatsächliche Handlung verschwiegen, klein geredet oder auf böse Mächte (Kolonialisten, Zionisten,...) zurückgeführt wird. Die Karikatur kann - wie in der Frankfurter Rundschau - auch anders, nämlich als Kritik an den Deutschen verstanden werden, die sich erst als Bahnhofsklatscher selbst als Gutmenschen feiern wollen und dann nur noch den Bahnhofsgrabscher im angeblichen Flüchtling sehen. Einst kann man aber unabhängig von religiösen Aspekten hoffentlich erkennen: In Gesellschaften mit vielen Geburten (z. B. auch in Deutschland vor 300 Jahren) wird ein Schwund durch Unfälle oder Kinderkrankheiten, selbst durch Unterernährung nicht so dramatisch gesehen wie in einer mit vielen Einzelkindern (Extremfall China). Nicht zufällig heißt es auch, mit einem alten Menschen sterbe eine ganze Bibliothek, von Kindern kann man das nicht behaupten. Da ist es eigentlich nur das Kindchenschema, dass die meisten Menschen von Gleichgültigkeit abhält. Insofern sind Vorwürfe "Kindermörder Israel" von Pro-Gaza-Aktivisten auch für die Rezipienten in kinderarmen Gegenden formuliert, entsprechen aber nicht dem Reproduktionsverhalten vor Ort, das keine Rücksicht auf die Chancen der potentiellen Nachfahren nimmt.
25.01.16
22:45
Charley sagt:
@ Timo Beil: den Schmerz von Eltern über den Tod eines Kindes bemessen zu wollen an der Menge der Kinder, oder gar äußerlich am "Reproduktionsverhalten", betrachte ich als anmaßend und geschmacklos. Die Liebe von Erwachsenen gegenüber Kindern auf das Wirken eines "kindchenschemas" zu reduzieren, zeigt auch dass du keine Ahnung hast wovon du redest. Lass dir das sagen von einem Vater von fünf Kindern.
27.01.16
13:28
Beatrice Mayer sagt:
Gerade "strikte" Muslime folgen doch eher Mohammed, als dass sie Allah folgen, denn der hat ja den willen Allahs ausgesprochen. Und dieser war nicht gerade ein Vorbild, weder für Nächstenliebe noch für Frauenfreundlichkeit, wenn er auch seit neuestem als Feminist stilisiert wird.
14.02.16
15:02
Beatrice Mayer sagt:
Das Foto selbst wirft Fragen auf. Ein ertrunkenes Kind zu fotografieren und als Emotionsverstärker zu präsentieren ist eigentlich ein starkes Stück. Später erfuhr man zudem, dass er nicht hätte ertrinken müssen.
14.02.16
15:07
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