Ein Jahr nach Hanau

Piter Bilal: „Es gibt nicht mehr Vieles, was mir Angst machen kann“

Piter Bilal überlebte den rassistischen Angriff in Hanau. Im IslamiQ-Interview spricht er über den Verlust seiner Freunde und seinen Kampf für Aufklärung.

18
02
2021
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Piter Bilal Minnemann, Überlebender des Anschlags in Hanau
Piter Bilal Minnemann, Überlebender des Anschlags in Hanau © IslamiQ

Piter Bilal Minnemann hat ein weißes Gewand an, auf seinem Kopf trägt er eine Takke. Er war während der Schüsse in der Arena Bar, hat sie unverletzt überlebt. Seine Schilderungen skizzieren, wie kaltblütig der Mörder seinen Anschlag durchzog. 

IslamiQ: Bilal du gehörst zu denen, die den Anschlag in Hanau überlebt haben. Möchtest Du, soweit es geht, erzählen was Du an diesem Abend erlebt hast?

Piter Bilal Minnemann: Es war ein ganz normaler Februartag. Ich war beim Boxtraining. Nach dem Training bin ich zur Arena Bar gefahren, um etwas zu essen. Ferhat Unvar kam später vorbei. Anschließend haben wir Schüsse vor der Tür gehört. Dann kam Selin rein und sagte: „Da ist jemand mit einer Pistole. Er schießt. Er hat jemanden umgebracht und kommt jetzt zu uns.“ Wir waren geschockt.

Im nächsten Moment haben wir den Täter gesehen, der mit vorgehaltener Waffe in den Kiosk gelaufen ist und haben wieder Schüsse gehört. Daraufhin sind wir alle in die Bar gerannt und haben uns hinter einer Säule versteckt. Als der Täter zu uns kam, sind wir hinter die Tresen gesprungen. Der Rest ist Geschichte. Ein paar haben überlebt und zwei leider nicht.

Für Piter Bilal war es nach dem Angriff nicht einfach. Neben den Therapien, die er erhielt, war sein Glaube die größte Unterstützung für ihn. Ein Jahr nach dem Angriff bemüht sich Bilal, die offenen Fragen zu beantworten.

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IslamiQ: Seit dem Anschlag ist ein Jahr vergangen. Du hast Deine Freunde verloren. Wie ist das für Dich – die Spanne zwischen Anschlag und jetzt?

Minnemann: Ich muss sagen, psychisch hat mir mein Glaube sehr geholfen. Wirklich sehr viel! Nicht mal eine Therapie konnte mir so helfen, wie mein Glaube es getan hat. Aber natürlich war dieses Jahr auch mit sehr viel Stress verbunden. Wir sind permanent am Arbeiten. Wir bearbeiten Akten, wir nehmen Termine war, sind in der Öffentlichkeit und geben Interviews. Wir haben regelmäßig Termine mit der Stadt Hanau und dem Land Hessen. Also es ist sehr viel Arbeit und Stress mit diesem Tag des Anschlags verbunden – auch ein Jahr danach.

IslamiQ: Wie beurteilst Du die Verarbeitung des Anschlags?

Minnemann: Es gibt sehr viel, was ich kritisiere. Vor allem die Verarbeitung der Tat von staatlicher Seite. Uns wurde damals im hessischen Landtag versprochen, dass alles aufgeklärt wird. Aber wir wurden einfach dreist angelogen. Passiert ist nichts! Die Aufklärungsarbeit leisten wir, die Familienangehörigen und die Initiative 19. Februar größtenteils alleine. Wir werden anwaltlich vertreten. Aber meiner Meinung nach schlafen auch die. Also bleibt die meiste Arbeit bei uns hängen.

IslamiQ: Vor kurzem hat der Vater des Attentäters die Waffen seines Sohnes verlangt und wilde Verschwörungstheorien aufgestellt. Was macht das mit Dir?

Minnemann: Das macht mir ein Stück weit Angst. Wobei ich sagen muss, dass es nicht mehr Vieles gibt auf der Welt, was mir noch Angst machen kann. Wir leben immer noch in Kesselstadt und sind unmittelbare Nachbarn des Vaters. Der Vater spiegelt die Gedankenwelt des Sohnes wider. Beim Sohn war es vielleicht zu spät, doch beim Vater weiß man es, und macht trotzdem nichts. Das macht uns Sorgen.

IslamiQ: Nach dem Anschlag wurden bundesweit Proteste und Demonstrationen gegen Rassismus veranstaltet. Reicht das?

 Minnemann: Es hilft auf jeden Fall in Bezug auf die Öffentlichkeit. Die Menschen machen ihre Augen auf. Wir haben mit der Initiative 19. Februar eine ziemlich gute Reichweite aufgebaut. Trotzdem reicht es nicht immer aus, damit Politiker etwas tun und ihre Worte in Taten umsetzen. Das ist leider nicht genug. Deshalb ist es wichtig, dass wir an die Leute, das Volk appellieren, damit sie ihre Stimme erheben, damit endlich etwas getan wird. Von alleine wird der Rassismus im Alltag, in Behörden oder Institutionen nicht aufhören. Wir müssen mit dem Finger darauf zeigen und es beim Namen nennen.

IslamiQ: Welche Erwartungen hast Du an die deutsche Politik?

Minnemann: Es wird Zeit, dass Konsequenzen gezogen werden. Vor allem für diejenigen, die solch ein Gedankengut verinnerlicht haben, es ausleben und sich dementsprechend auch äußern. Der „kleine“ Alltagsrassismus, wie eine rassistische Beleidigung sollte auch benannt und angezeigt werden – es sollte Konsequenzen geben. Die Bestrafung in diesem Bereich ist zu mild. Es gibt dann höchstwahrscheinlich nur eine kleine Geldstrafe, und das wars.

Auch ein Jahr nach dem Anschlag hat Piter Bilal noch mit Traumata zu kämpfen. Den Verlust seiner Freunde hat er zum Teil immer noch nicht realisieren können.

IslamiQ: Inwiefern hast Du Dich betreut gefühlt nach dem Anschlag?

 Minnemann: Ich persönlich habe mich komplett in Stich gelassen gefühlt. Sowohl in der Tatnacht als auch in den Tagen danach ist man schrecklich mit uns umgegangen. In der Tatnacht wurde ich zu Fuß vom Tatort weggeschickt – 3 km zum Freiheitsplatz. Man hat mir keine psychologische Seelsorge angeboten. Auch die Familien wurden von A nach B geschickt. Man hat ihnen nicht gesagt, wo ihre Kinder sind. Es war schrecklich.

IslamiQ: Auch Armin Kurtović hat gesagt, dass es Wochen gedauert hat, bis er seinen Sohn sehen durfte. Du warst auch bei den Beerdigungen dabei. Wie war das für dich?

Minnemann: Das war sehr schwer. Dieser Moment, als die Verstorbenen aus den Särgen herausgenommen und in die Erde gelegt worden sind und man sogar selbst die Schaufel in die Hand genommen hat, um Erde in die Gräber zu schütten – es tut weh. Dann begreift man nochmal: „Das ist echt, das passiert gerade wirklich!“ Selbst danach hat es noch Zeit gebraucht bis man wirklich begreift, dass diese Menschen tot sind, dass sie nicht mehr da sind und ihr Lachen nie wiedersehen kannst, die Stimmen nie wieder hören kannst. Das ist schwer.

Das Interview führte Kübra Layık und Elif Zehra Kandemir.