Rabbiner Homolka:

„Christliches Abendland“ ist ein Mythos

Ein Berliner Rabbiner hat zum dritten Jahrestag der islamfeindlichen Pegida-Kundgebungen den Begriff „christliches Abendland“ kritisiert. Dabei handele es sich um einen altbewährten Mythos.

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2017
Das "christlich-jüdische Abendland" - ein Mythos? © shutterstock

Der Berliner Rabbiner und Hochschullehrer Walter Homolka hat den Begriff „christliches Abendland“ als irreführende Projektion kritisiert. Es handele sich um einen „Mythos, der auch heute noch für die Sicherung der innersten Werte Europas bemüht wird“, schreibt der Rektor des Rabbinerseminars Abraham Geiger Kolleg in der „Sächsischen Zeitung“ (Samstag). „Das ‚christliche Abendland‘ taugt nicht als Referenzrahmen für eine moderne Gesellschaft, die durch eine Vielstimmigkeit religiöser Positionen bereichert wird.“

Homolka erinnerte daran, wie im frühen 19. Jahrhundert am „Tiefpunkt des politischen Einflusses von Religion“ Novalis und Friedrich Schlegel das Konzept eines „christlichen Abendlands“ entwarfen – als „romantischen Begriff nostalgischer Rückschau“. Daraus habe Friedrich Wilhelm IV. von Preußen seine Idee vom „christlichen Staat“ entwickelt, in dem Juden jedoch „keinerlei Autorität über christliche Untertanen ausüben konnten: nicht als Beamte, nicht als Offiziere, nicht als ordentliche Professoren an preußischen Universitäten“.

Für Juden sei die Idee eines christlichen Abendlandes „nicht ungefährlich“, so der Professor für Jüdische Religionsphilosophie der Neuzeit an der Universität Potsdam. Jahrhunderte der Verfolgung, Unterdrückung und Ausgrenzung im Namen Jesu hätten sich „eingeprägt in die Erinnerung eines Volkes, das es im ‚christlichen Abendland‘ alles andere als leicht hatte und wenig Toleranz erfuhr“. Der offene Dialog zwischen Juden- und Christentum heute sei das Ergebnis eines langen Prozesses, so der Rabbiner.

Homolka äußerte sich zum dritten Jahrestag der islamfeindlichen Pegida-Bewegung. „Seit den Kundgebungen von Pegida & Co. liegt ein Makel bleiern auf Dresden, einer Stadt, die gerne als weltoffen wahrgenommen wird und von dieser Weltoffenheit auch lange profitiert hat.“ Zugleich würdigte er die Gegenproteste. Vielen Bürgern sei es an diesem Tag ein Anliegen, deutlich zu machen: „Wir können Pluralismus aushalten.“

Pegida hatte für Samstag eine Demonstration mit 5.000 Teilnehmern angemeldet; zu diversen Gegenkundgebungen wurden rund 3.000 Menschen erwartet. Seit 2014 demonstrieren fast jeden Montag Anhänger der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ in Dresdens Altstadt. Zuletzt waren es Schätzungen zufolge jeweils zwischen 1.500 und 2.000 Demonstranten. (KNA, iQ)

Leserkommentare

Manuel sagt:
Es heißt ja auch richtigerweise "christlich-jüdisches Abendland"!
29.10.17
16:17
Ute Fabel sagt:
Wir leben im aufgeklärt-humanistischen Abendland: Weder die Abschaffung der Monarchie noch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts haben die Vertreter des Christentums erkämpft. Ganz im Gegenteil: Mehr als 1.500 haben die Kleriker den Kaisern, Königen und Landesfürsten die Stange gehalten. Zur Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Freiheit der Wissenschaft und Kunst musste erst einmal die christliche Inquisition aus dem Weg geräumt werden. Auch aus der Tradition des Judentums haben die erklärten Ketzer und Sünder wie Spinoza, Einstein und Freud den Westen weitergebracht und nicht die schrifttreuen Glaubensdogmatiker. Ich hoffe auf ein aufgeklärteres Morgenland, eine aufgeklärtere Welt. Religionen und nicht religionsähnliche Weltanschauungen stehen diesem Ziel im Eeg.
29.10.17
18:59
Johannes Disch sagt:
Hier irrt der Rabbiner. Das christliche Abendland ist kein Mythos, sondern eine historische Realität und ein in der Geschichtswissenschaft klar definierter historischer Zeitraum. Das christliche Abendland wird von Renaissance und Aufklärung abgelöst. Seither spricht man vom "Westen", dessen Wesen säkular und nicht mehr religiös definiert ist.
29.10.17
23:51
Ekrem Eckehard sagt:
Ich frage mich schon lange was die Katholische Kirche mit dem Propheten Jesus zu tun hat, wo das "Kirchenrecht" mehr bedeutet, als die Barmherzigkeit Gottes.
30.10.17
0:57
Charley sagt:
Das journalistische Niveau von islamiq sinkt kontinuierlich! (Oder ist es schon immer so tief angesiedelt gewesen?) Überhaupt nicht wird klargestellt, dass der Begriff "christliches Abendland", wie es Leuchten der Geisteskultur wie Novalis oder Schlegel propagierten derselbe Begriff ist, wie ihn dann der dtsch. Kaiser benutzte! Da liegen Welten dazwischen. Auch ist "christlich" nicht automatisch gleich Kirche. Das Christentum baut allein auf auf der Eigenverantwortung des Individuums. Diese ist Voraussetzung für jegliche Verhaltensnorm, die man für den Menschen als maßgeblich in der Vergangenheit (und auch in der Zukunft) ableitet (ableiten wird!). Die Eigenverantwortung wurde dem Individuum von der kath. Kirche nicht wirklich zugesprochen, Ketzer haben diese immer voll übernommen, Luther hatte sie als Grundlage und in der Aufklärung setzte sich diese Grundlage des Christentums weiter fort. Sie ist der Grund für den Höhenflug der selbstkritischen Wissenschaft! Auch die moderne Leugnung/Falsifizierung eines (Schöpfer-)Gottes erfolgt daraus. Dass diese Selbstverantwortung des Individuums im "Brutkasten" der kath. Kirche sich entwickelte ist nur der Rahmen. Diese Selbstverantwortung ist nämlich der Mensch selbst, weshalb ein so verstandenes Christentum dem Menschen nichts "Künstliches" mehr, nicht mehr etwas von außen Angeklebtes ist. Insofern kann man das "christliche Abendland" (eben so wie oben dargelegt) sehr wohl als etwas Berechtigtes ansehen, auch wenn Wilhelm IV. oder auch heutzutage die CSU (CDU?) mit diesem Begriff sich gern zum Büttel der Kirche(n) macht. Die heutige Freiheit (die die Übernahme der Selbstverantwortung ist/zeigt) ist direkt eine Frucht des Prozesses des, sich auch weiter entwickelnden "christlichen Abendlandes"!
31.10.17
10:39
Esra Lale sagt:
Lieber Charley, vielen Dank für Ihre Anmerkung. So tief kann unser "journalistisches Niveau" ja nicht gesunken sein, da Sie unser bester Leser sind und nahezu keinen Beitrag umkommentiert lassen. Daher weiterhin viel Spaß auf IslamiQ. Gruß, Esra Ayari aus der IslamiQ-Redaktion.
31.10.17
18:25
Ute Fabel sagt:
Sein wahres Gesicht hat das Christentum in Westeuropa vom 4. Jahrhundert bis zum 15. Jahrhundert gezeigt. Absoluter Wahrheitsanspruch und brutale Zwangsmissionierungen ein Jahrtausend lang! Andersgläubige wie die Juden wurden verfolgt oder wie die Katherer eliminiert. Das christliche Abendland ist zum Glück Vergangenheit. Danach wurde das Christentum von seinen Gegner schrittweise domestiziert. Allerdings sollte sich Herr Holmolka auch einmal kritisch mit den "Heiligen Schriften" auseinandersetzen, auf die sich die Juden berufen. Darin findet man ein plattes und chauvinistisches Schwarz-Weiß-Schema, bei dem die rechtgläubigen Juden den schlechtgläubigen minderen Stämmen der östlichen Mittelmeerküste gegenübergestellt werden. Man denke nur an die allgemein bekannte Geschichte zwischen dem guten David und dem bösen Philister Goliat.
31.10.17
12:04
Charley sagt:
Es ist so flach, wie hier gedacht wird, das tut schon weh! Um diese Metamorphose des christlichen (!) Individualitätsbegriffs hinein in die heutige säkulare Kultur zu verstehen, empfehle ich, mal zu googlen nach 95 Gründe, warum bis heute keiner Martin Luther entkommt und den entsprechenden Artikel mal zu lesen! Allein der Bildungsimpuls, der von Luther ausging und bis heute nachwirkt, zeigt so viel über die Dimension des durchaus christlich (!) begründeten Individualitätsbegriffs, dass sich obiger Artikel schnell "auflöst"! Zudem möge sich die Bildungsverweigerung ("Boko haram" lässt grüßen!), die dem bockigen, entstirnigen Islam heute noch eigen ist (Türkei schafft die Evolutionslehre ab!), schämen!
31.10.17
12:19
Charley sagt:
@Esra Lale: :-)))))) aber es gibt schon bessere Artikel hier. Was mich stört ("journalistisches Niveau") ist, dass ein guter Artikel sich durch vielschichtige Erörterung auszeichnet und nicht nur eine, eben auch manchmal sehr plakative Meinung illustriert oder vielleicht sogar gar nicht begründet, sondern in allerlei dekorativem Beiwerk versteckt. ... und warum ich hier lese und schreibe? Weil mich die moslemische "Denke" tatsächlich interessiert. Und genau dazu kommentier(t)e ich..... vermtl. auch weiterhin.
02.11.17
17:50
Manuel sagt:
Es heißt ja auch "islamisches Morgenland" oder?
02.11.17
18:23