30 Jahre Solingen

Kâmil Genç: „Wir hätten alle sterben können.“

Als in Solingen am 29. Mai 1993 der rassistische und extrem rechts motivierte Brandanschlag verübt wurde, war Kâmil Genç 29 Jahre alt. Im Interview erinnert er sich zurück.

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05
2023
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Brandanschlag in Solingen
Brandanschlag in Solingen Sir James, CC BY-SA 2.0 DE, via Wikimedia Commons

Du hast am 29. Mai 1993 deine beiden Töchter verloren. Sie waren noch klein und die einzigen Kinder von dir und Hatice Abla. Du hast zwei Schwestern, Hatice und Gürsün und auch deine Nichte Gülüstan bei dem Brandanschlag verloren. Dein Verlust ist sehr groß. Ağabey, der Brandanschlag war vor dreißig Jahren. Wie konntest du als Vater und als älterer Bruder diese Verluste deiner bei dem Brandanschlag ums Leben gekommenen Kinder und Geschwister verarbeiten? Wenn du daran denkst, was fühlst du?

Genç: Der Brandanschlag liegt nun dreißig Jahre zurück. Meine ältere Tochter war damals neun und die jüngere vier Jahre alt. Jetzt wären sie vierunddreißig und neununddreißig Jahre alt. Wären sie jetzt noch am Leben, dann hätten wir vielleicht Enkelkinder. Es wäre alles anders. Wenn ich zurückblicke, träume ich von solchen Szenen. Wir tragen so viel Schmerz und Verlust in uns. Meine Frau und ich denken sowieso die ganze Zeit an sie. Wenn wir nicht an einem Tag über unsere verstorbenen Kinder sprechen, dann tun wir es ganz bestimmt am nächsten Tag. Vor zwei Tagen war der Geburtstag meiner Tochter Hülya. Wir erinnerten uns gemeinsam an sie, wie sie damals gespielt hat, zur Schule gegangen ist oder wie sie gegessen hat.

Nachdem Bekir aus dem Fenster sprang, lief ich sofort zu ihm. Doch er zeigte keinerlei Lebenszeichen. Daraufhin habe ich versucht, ihn mit einer Herzmassage wiederzubeleben, und er kam wieder zu sich. Meine Frau dachte schon, Bekir sei gestorben. Meinen Bruder dort so liegen zu sehen, war für mich sehr schrecklich. In dem Moment dachte ich: „Mein Bruder lebt noch.“ Doch sein ganzer Körper war verbrannt und Bekir sah schrecklich aus. Dennoch empfand ich für diesen einen Moment Freude. Meine anderen Geschwister, meine Nichte und meine Töchter konnten nicht gerettet werden. Ich dachte: „Zumindest hat es mein Bruder geschafft.“

Ich empfinde Trauer und Freude gleichzeitig. Bekirs Wohnung und meine liegen übereinander. Auch wenn wir uns nicht jeden Tag sehen, sehen wir uns doch sehr oft. Bekir ist auch eines der am schwersten verletzten Opfer. Wenn ich nach dreißig Jahren die Wunden meines Bruders sehe, denke ich als sein älterer Bruder wieder an diese Nacht von 1993. Ich denke an das, was in dieser Nacht passiert ist, wie er ohnmächtig wurde, starb und wiedererwachte. Eben diese Augenblicke habe ich dann vor Augen. Doch manchmal sage ich mir: „Mein Bruder lebt!“ Es ist Trauer und Freude gleichzeitig, die ich im selben Moment empfinde. Ja, und manchmal scherze ich mit Bekir rum und rufe ihm zu: „Meine Liebe!“ So vergeht die Zeit … Mittlerweile sind dreißig Jahre vergangen. Doch es geht ihm jetzt besser, Gott sei Dank. Das beruhigt mich. Sonst wäre es nicht zu ertragen. Ich habe keinen anderen Bruder. Er ist unser Jüngster, ich bin der Älteste und wir haben ein sehr inniges Verhältnis.

Wenn du zurück an den Brandanschlag vom 29. Mai 1993 denkst, wie hast du deine Frau, Hatice Abla, heute in Erinnerung?

Genç: Ich versuche, Hatice so gut ich kann seelisch zu unterstützen. Hatice denkt natürlich immer an unsere beiden Töchter. Wenn ihre Gedanken wieder mal bei unseren Mädchen sind, versuche ich, das Thema zu wechseln und sie abzulenken. Ich frage zum Beispiel, ob es etwas zu erledigen gibt und wechsle das Thema. Auch wenn es nichts zu tun gibt, erfinde ich irgendwelche Sachen. Wenn Hatice sagt, das könne sie selbst erledigen, sage ich zu ihr: „Nein, ich muss mich auch bewegen, sonst nehme ich noch zu.“ Aber was auch immer ich tue, sie denkt trotzdem an unsere Mädchen.

Manchmal denkt sie auch an die beste Freundin meiner verstorbenen älteren Tochter. Hülya und sie waren im selben Alter und ihr Name war auch Hülya. Sie besuchte uns sogar im Jahr 2021, zwei Monate, bevor sie starb. Meine Tochter soll ihr, als sie noch klein waren, eine Puppe geschenkt haben und sie hätte diese Puppe die ganze Zeit als Andenken aufbewahrt. Das hatte sie uns sogar erst einige Tage vor ihrem Tod erzählt. Ja, wir pflegten familiären Kontakt und schrieben uns regelmäßig. Auch sie ist verstorben und hat uns verlassen. Beide Hülyas sind fort und beide Hülyas sind wieder vereint. Wir haben zwei Hülyas und beide haben wir verloren. Es trifft Hatice sehr, weil wir sie genauso geliebt haben wie unsere eigene Tochter.

In der letzten Zeit grübelt Hatice nun auch darüber nach und bringt sich um ihren Schlaf. Nachts kann sie ohnehin nicht schlafen. Ich versuche, sie ein wenig abzulenken, aber es gelingt mir nicht immer. Hatice kann erst einschlafen, wenn sie die Uhrzeit des Brandanschlags überbrückt hat und ein oder zwei Stunden vergangen sind. Sonst kann sie aus Angst, es könne etwas passieren, nicht einschlafen, jedenfalls nicht tief und fest

Du hast eben von Protesten gesprochen. Nach dem Solinger Brand- anschlag kam es zu Protesten und Demonstrationen. Konntest du diese in dieser schweren Zeit überhaupt wahrnehmen?

Genç: Von diesen Protesten habe ich lediglich nur gehört, selbst gesehen habe ich sie nicht. Die Leute, die zur Beileidsbekundung kamen, berichteten uns davon. Man habe die Scheiben des Matratzenladens an der Kreuzung Schlagbaumer Straße eingeschlagen, die Matratzen auf die Straße geschleppt und dort in Brand gesetzt. Auch habe man Autoreifen in dieser Straße angezündet. Die Leute hätten dort die Türen und Fenster der Geschäfte eingeschlagen. Es soll Demonstrationen gegeben haben. Später erzählte man uns, dass türkische Rechte und Linke aufeinanderprallten. Aber ich und meine Familie, wir haben in unserer schmerzhaften Zeit nichts von dem gesehen. Ich kann nur erzählen, was mir erzählt wurde. Da wir das Haus ohnehin nicht verlassen durften, haben wir von diesen Märchen und Protesten nichts mitbekommen.

Die Stadtverwaltung ließ uns damals nicht aus dem Haus. Die Mitarbeiter der Stadt waren immer bei uns. Auch die Polizei war nach dem Brandanschlag bei uns. Es war alles noch sehr frisch und Zivilpolizisten bewachten vorsichtshalber das Gebäude, in dem wir uns befanden. Mit der Absicht, „die Familie Genç vor weiteren Schäden zu bewahren“, hatte uns die Stadtverwaltung unter Quarantäne gestellt. Aber ich denke, die Proteste hatten auch etwas mit dem Anschlag in Mölln zu tun. Nachdem auf die Familie Arslan in Mölln ein Brandanschlag verübt wurde – das war sechs Monate vor dem Brandanschlag auf unser Haus – und bei diesem Brandanschlag drei Menschen ums Leben kamen und es von der Möllner Bevölkerung nicht allzu viel Proteste gab, glaube ich, dass die Menschen wohl hier in Solingen ihre Stimme erheben wollten. Nun begriffen die deutsch-türkischen Migranten, dass die Türkeistämmigen zur Zielscheibe der Angriffe wurden. Diskriminierung und Rassismus standen den in Deutschland lebenden Türkeistämmigen inzwischen bis zum Hals. Ich glaube, nach dem Anschlag auf unser Haus hat sich das Bewusstsein entwickelt: „Dieses Schweigen muss ein Ende haben! Wenn nicht wir unsere Stimme erheben, wird sich nichts ändern.“

Ich hatte den jungen Täter, der den Anschlag auf unser Haus verübte und der in unserer Straße sogar gegenüber von uns wohnte, einige Male auf dem Weg zur Schule gesehen. Mein Bruder Bekir soll ihn gekannt haben, aber sie redeten nicht viel miteinander. Sie waren etwa gleich alt. Der junge Täter, der in unserer Straße wohnte, war mit den anderen drei Tätern befreundet. Sie trafen sich zusammen bei „Hak Pao“, dieser extrem rechten Kampfsportschule. Sie waren dort Mitglieder und haben wohl untereinander solch eine Entscheidung getroffen. In dieser Sportschule hat man die Täter wahrscheinlich einer Gehirnwäsche unterzogen. Wie man sie manipuliert, wie man sie überredet und was man ihnen erzählt hat, weiß ich nicht.

Erst viel später erfuhr ich, dass dieser Christian R., der uns gegenüber wohnte, einer von denjenigen war, die unser Haus in Brand gesetzt hatten. Er hat natürlich den anderen Tätern erzählt, dass in seiner Straße das Haus einer türkischen Familie steht. Sie heckten einen Plan aus und dann verübten sie den Anschlag. Dass die Täter die Kampfsportschule dieser Rechtsextremen besuchten, stellte sich während des Prozesses heraus. Ich habe vor Gericht erfahren, dass Bernd Schmitt der Leiter dieser Sportschule war und für den Verfassungsschutz arbeitete. Anschließend stellte sich heraus, dass diese drei Täter dort Mitglied waren. Bernd Schmitt kam drei- oder viermal zu Gerichtsverhandlungen. Da habe ich ihn gesehen und dann auch nicht mehr. Die Täter sah ich sowieso zweimal die Woche vor Gericht. Sie saßen uns gegenüber.

Die Ehefrau von Bernd Schmitt soll seit 1995 am gleichen Arbeitsplatz gearbeitet haben wie du. Was hast du empfunden, als du erfahren hast, dass sie Bernd Schmitts Ehefrau ist?

Genç: Nachdem die Gerichtsverhandlungen im Oktober 1995 zu Ende waren, fing ich wieder an zu arbeiten. Es waren vier oder fünf Monate vergangen. Mein Schwager, Ahmet Duran, erzählte mir, dass die Frau von Bernd Schmitt in der Kantine arbeitet. Sie soll ein Jahr vor mir angefangen haben. Ein paar Tage vergingen und ich traf Bernd Schmitts Frau irgendwo im unteren Stockwerk. Ich habe sie keines Blickes gewürdigt. Es vergingen paar Monate und eines Tages wollte Schmitts Frau mit mir reden. Ich sagte zu ihr auf Deutsch: „Lass mich in Ruhe. Ich will nicht mit dir reden.“ Ich wollte sie nicht mal sehen, geschweige denn mit ihr reden. Sie sagte daraufhin auch gar nichts mehr. Sonst habe ich mit ihr auch keinen weiteren Dialog geführt. Ich bin ihr zwar ab und zu begegnet, aber weder sie noch ich wechselten ein Wort.

Ich hörte zwar, dass Bernd Schmitt verstorben sei. Bernd Schmitt und seine Frau lebten zuvor zusammen. Wo seine Frau aber jetzt ist, weiß ich nicht. Allerdings habe ich sie in der letzten Zeit wegen dieser Pandemie seit sieben Monaten nicht mehr gesehen. So habe ich diese Frau kennengelernt. Dass sie Schmitts Ehefrau ist und mit mir am gleichen Arbeitsplatz arbeitet, hatte für mich nicht so viel Bedeutung. Viel bedeutungsvoller war für mich ehrlich gesagt ihr Mann, der Trainer in dieser Sportschule war und dort die Täter unterrichtet hat. Schmitts Frau interessiert mich nicht. Aber sie wusste durch die Presse sicherlich, wer ich bin. Zumindest muss sie mich auf Bildern gesehen haben, weil wir damals oft in den Zeitungen waren.