Islamische Philosophie, westliche Forschung

Die Geschichte einer (bislang) nicht immer glücklichen Beziehung

Wie stark war der Einfluss der islamischen Philosophie und Kultur auf Europa? Für den renommierten Islamwissenschaftler Frank Griffel von der Yale University ist es klar: Europa wurde im 12. und 13. Jahrhundert tiefgreifend von der arabisch-islamischen Kultur beeinflusst.

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04
2014

Westliche Orientalisten genießen unter Muslimen keinen guten Ruf! Mit welcher Motivation, so fragen viele Muslime, beschäftigen sich Christen, Juden oder auch Menschen, die sich keiner Religion angehörig fühlen, mit dem Islam? Da kann es ihnen doch nur um religiöse Polemik gehen, d. h. darum, auf scheinbar wissenschaftliche Weise zu zeigen, dass wesentliche Glaubensartikel des Islams, wie z. B. die Prophetie Muhammads oder dass der Koran eine göttliche Offenbarung ist, nicht genügend begründet sind. Selbst wenn diese westlichen Islamwissenschaftler nicht über Muhammad und den Koran arbeiten, können ihre Motive nicht rein sein, denken viele Muslime.

Schon 1978 hat der amerikanisch-palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said in seinem einflussreichen Buch „Orientalismus“ aufzeigen können, dass westliche Forschung über „den Orient“ immer auch die Selbstbestätigung einer scheinbaren kulturellen Überlegenheit des Westens beinhaltet. In Ländern wie England und Frankreich diente Forschung über dem Orient dem Zweck, die koloniale Herrschaft dieser Länder über große Gebiete Asiens und Afrikas zu legitimieren. Aber auch in Deutschland, ein Land, das nur über eine kurze Zeit (1885-1915) Kolonien besaß, diente die Forschung über den Orient dem Selbstverständnis eine „höhere“ Kultur zu haben als die Muslime.

Das philologische Interesse der Orientalisten

Vor ein paar Jahren hat der englische Historiker Robert Irwin ein Buch veröffentlicht, in dem er sich gegen Edward Saids Dämonisierung des westlichen Orientalismus gewandt hat. Schon im Titel von Irwins Buch wird ausgesprochen, worum es den Orientalisten vor allem ging: „Aus Liebe zum Wissen: Die Orientalisten und ihre Feinde“ [engl. Originaltitel For Lust of Knowing: The Orientalists and their Enemies. Es gibt weder eine deutsche noch eine türkische Übersetzung.] Irwin beschreibt in seinem Buch, dass es den Europäern, die sich im 18., im 19. und auch im 20. Jahrhundert mit dem Islam und seiner Literatur befasst haben, nur in den seltensten Fällen um religiöse Polemik oder politische Einflussnahme ging. Vielmehr haben sie eine wissenschaftliche Position, die zuerst gegenüber der antiken Welt und ihrer Literatur entwickelt wurde, auf den Islam angewandt. Im Zeitalter der Renaissance hat Europa die Antike, d. h. die Blüte griechischer und römischer Kultur, wiederentdeckt und begonnen, griechische und lateinische Literatur zu studieren. Dies hat zu vielen Entdeckungen vergessener Kulturleistungen geführt und die Literaturproduktion in den europäischen Ländern angespornt. Latein und Griechisch waren tote Sprachen, die man nicht sprechen, sondern nur lesen konnte.

Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Kultur des Studiums einer toten Schriftsprache zuerst auf Hebräisch und dann bald auch auf Arabisch übertragen. Hebräisch, weil es wichtig für die Bibel ist, Arabisch, weil es eine so reiche Literatur hervorgebracht hat, deren Spuren die Europäer überall sahen, sei es in den Märchen von Tausendundeiner Nacht, die im 18. Jahrhundert in Europa sehr populär waren, sei es in den Namen der Sterne („Algol“, „Aldebaran“, „Deneb“, „Beteigeuze“ usw.), oder sei es in der Mathematik („Algebra“, „Algorithmus“, „Ziffer“). Als der ägyptische Intellektuelle Rifaa Rafi el-Tahtavi 1826 nach Paris kam, war er erstaunt, dort einen Gelehrten wie Silvestre de Sacy zu treffen, der zwar die arabische Literatur wie ein einheimischer Experte kannte, aber nicht einmal ein einfaches Gespräch auf Arabisch führen konnte!

Arabische Handschriften und das Interesse an der Philosophie

Im 19. Jahrhundert begannen europäische Gelehrte auch philosophische Literatur auf Arabisch, Persisch und später auch auf Osmanisch-Türkisch zu lesen und zu studieren. Wieder einmal begann alles mit dem Interesse an der europäischen Antike. Die Geschichte der Philosophie in der Antike war damals schon gut bekannt. Man kannte Sokrates, Eflatun und Aristoteles wie auch die anderen großen Philosophen der Griechen und Römer. Viele ihrer Schriften lagen in gedruckten Editionen vor.

Dennoch, einige Werke der griechischen Philosophen waren im Verlauf der Jahrhunderte verloren gegangen. Experten über arabische Literatur wussten natürlich, dass ein Großteil der Werke der griechischen Philosophie im frühen Mittelalter, also vor allem zwischen 800-1000, vom Griechischen ins Arabische übersetzt wurden und nach wie vor in den vielen arabische Handschriften, die in Bibliotheken im Westen und im Osten gesammelt wurden, vorhanden waren. Bald begannen die Europäer diese arabischen Handschriften genau zu studieren. Auf der Suche nach verlorenen griechischen Texten stießen die europäischen Gelehrten auf eine reiche Tradition arabischer und islamischer Philosophie. Das arabische Wort „falsafa“ kommt vom griechischen „philosophía“ und beschreibt eine Wissenstradition, die aus dem Griechischen ins Arabische übersetzt wurde, und dann in Arabisch auf sehr hohem Niveau weitergeführt wurde. Namen, wie Kindî (Alkindus), Fârâbî (Alfarabius), Ibn Sînâ (Avicenna), Gazâlî oder Ibn Ruschd (Averroes) wurden in Europa bekannt und ihre Schriften wurden studiert.

Ibn Ruschd (Averroes)

Zu Anfang der europäischen Beschäftigung mit der Philosophie im Islam stand aber das Interesse am griechischen Text und an der griechischen Philosophie. In Europa fiel die philosophische Literatur nach dem Untergang der Antiken Welt um etwa 400 u. Z. mehr und mehr in Vergessenheit. Über eine lange Zeit waren in Europa nur eine kleine Handvoll von griechischen philosophischen Texten bekannt, die mehr oder minder aus Zufall noch in der späten Antike vom Griechischen ins Lateinische übersetzt wurden. Darunter war nur ein kleiner Teil der Werke Aristotles, vor allem die Einführungen in seine Logik. Im frühen Mittelalter waren Aristoteles und Plato in Europa weitgehend unbekannt. Nicht so in der islamischen Welt, wo vor allem Aristoteles seit 800 intensiv studiert wurde. Ibn Ruschd (1126-98) war der beste Kenner der Philosophie Aristoteles’ unter den Arabern. Angeregt von der muslimischen Tradition detaillierter Korankommentare, verfasste Ibn Ruschd, der in Europa als Averroes bekannt wurde, ebenso detaillierte und hochgelehrte Kommentare zu den Werken Aristoteles’.

Ibn Ruschd lebte und lehrte in Cordoba und sein Ruf wurde bald über die Grenzen von Andalusien nach Frankreich und Italien getragen. Dort bewirkten unter anderem seine Bücher über Aristoteles ein neues Interesse an der griechischen Philosophie. Von 1170 an, also noch zu Lebzeiten Ibn Ruschds wurden arabische philosophische Bücher ins Lateinische übersetzt. Dies geschah vor allem in Toledo in Spanien oder auch in Palermo in Sizilien und fand durch das gesamte 13. Jahrhundert hindurch statt. Unter den übersetzten Büchern finden sich auch die Werke Aristoteles’. Er wird nun in Europa sehr populär und bewirkt ein Wiedererstarken der Philosophie. Wichtige Universitäten wie die in Paris, Bologna, Napoli und auch Köln hatten bald Fakultäten, in denen Aristoteles intensiv studiert wurde. Die ersten lateinischen Übersetzungen von Aristotles werden aus dem Arabischen gemacht. Danach suchte man nach griechischen Handschriften von Aristotles und fand sie in Italien und Griechenland. Die Übersetzungen aus dem Griechischen ins Lateinische verdrängten bald diejenigen aus dem Arabischen. Ibn Ruschd blieb jedoch auf dem Studienplan der Europäer. Seine Kommentare wurden von allen wichtigen Philosophen im Europa des 13. bis 16. Jahrhunderts gelesen.

Dies wussten viele Europäer auch noch im 19. Jahrhundert, als die wissenschaftliche Beschäftigung mit der islamischen Philosophie begann. Deshalb glaubten viele europäische Gelehrte dieser Zeit, dass arabische und islamische Philosophie vor allem darin bestand, die griechischen Werke ins Arabische zu übersetzen, um dann die Tradition der Philosophie in Mitteleuropa neu zu erwecken. Dies ist z. B. die Position, die ein wichtiger deutscher Philosoph wie G. W. F. Hegel (1770-1831) über die Philosophie im Islam hatte. Hegel war sehr einflussreich durch das gesamte 19. Jahrhundert und sein Urteil wurde häufig wiederholt.

Hegel hatte allerdings keine Ahnung, worüber er da sprach. Er kannte Kindî, Fârâbî, Ibn Sînâ, und Gazâlî nur dem Namen nach und wusste kaum etwas über ihre Philosophie. Die Idee, dass arabische und islamische Philosophie nur darin bestand, die griechische Tradition aufrechterhalten zu haben, damit sie dann von Europa wieder aufgenommen wurde, entstand bevor die Geschichte der Philosophie im Islam in Europa bekannt war. Natürlich drückt sich in dieser Idee ein Gefühl der kulturellen Überlegenheit aus. Dies mag der Grund sein, warum sie später noch so häufig wiederholt wurde. Wer immer sie wiederholte, kannte aber die Fakten über diese Geschichte nicht. Diese Fakten wurden im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert mehr und mehr bekannt.

Die ersten arabisch-philosophischen Werke in Europa

Das erste moderne akademische Buch über die Geschichte der Philosophie im Islam war Ernest Renans französische Dissertation „Averroes und der Averroismus“ von 1852. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kamen viele andere Bücher hinzu; vor allem Editionen von arabischen Texten, die die große Zahl von philosophischen Handschriften zu gedruckten arabischen Büchern machten. Viele philosophische arabische Texte wurden zuallererst in Paris, München oder Leiden in Holland gedruckt und fanden von dort schnell Leser in Kairo oder Istanbul, wo sie bald nachgeduckt wurden. Im Jahre 1902 erschien die erste umfassende Geschichte der islamischen Philosophie von dem Holländer Tijze Jan de Boer. Andere einflussreiche Islamwissenschaftler in Europa wie z. B. der Ungar Ignaz Goldziher schrieben auch an der Geschichte der islamischen Philosophie.

Dies geschah in einer Zeit – zu Anfang des 20. Jahrhunderts – als es weder auf Arabisch noch in Persisch oder Türkisch ein Buch über die Geschichte der Philosophie im Islam gab. In dieser Zeit waren Gelehrte in Europa ihren Kollegen in den muslimischen Ländern weit voraus. Deutsche Professoren wie Helmut Ritter (1892-1971) oder Oskar Rescher (später: Osman Reşer, 1883-1972) gingen um 1930 nach Istanbul und halfen dort, das akademische Studium der islamischen Philosophie aufzubauen. In Europa selber konnte kaum noch jemand behaupten, die Hauptbedeutung der Philosophie im Islam läge darin, der europäischen Philosophie geholfen zu haben. Wer das sagte, machte sich mehr und mehr lächerlich, denn die Bedeutung von islamischer Philosophie als einer eigenständigen intellektuellen Tradition wurde mehr und mehr deutlich.

Welche Rolle spielt „falsafa“ für die Philosophie in Europa?

Die Werke von Renan, de Boer, Goldziher und auch von Ritter hatten jedoch alle ein Problem. Sie nahmen an, dass Philosophie in der islamischen Welt das Gleiche sei, was das arabische Wort „falsafa“ bezeichnet. Im Arabischen galten Kindî, Fârâbî, Ibn Sînâ und Ibn Ruschd als „falasifa“; aber nach Ibn Ruschd gab es kaum jemanden, der sich selber als „faylasuf“ im Arabischen bezeichnete. War die Philosophie im Arabischen mit Ibn Ruschd zu Ende gegangen? So sahen es Gelehrte wie Renan, de Boer, Goldziher oder Ritter. Dies ist im gewissen Sinne eine gelehrte Variante der Idee, dass die Bedeutung der Philosophie im Islam allein in der Transmission von griechischen Texten nach Europa bestand. Diese europäischen Gelehrten verstanden zwar, dass es eine bedeutende philosophische Tradition mit eigenen Errungenschaften im Arabischen gegeben hat, glaubten aber auch, dass die Tradition kritischen, philosophischen Denkens mit den Werken Ibn Ruschds von den Muslimen an die Europäer übergegangen war.

Heute wissen wir, dass das nicht wahr ist. Wir wissen, dass das arabische Wort „falsafa“ nur einen Teil von dem beschreibt, was Philosophie im Islam war und ist. Große muslimische Gelehrte wie Fahraddîn Râzî, Sayyid Scharîf Dschurdschânî oder Kemâlpaşazâdeh (Ibn Kemâl) haben sich nicht als Teil der „falasifa“ gesehen und waren doch wichtige Philosophen. Keines ihrer Werke wurde jemals ins Lateinische übersetzt, und dennoch haben sie Bedeutendes zur Geschichte der Philosophie beigetragen.

Im Jahr 2008 veröffentliche der französische Philosophiehistoriker Sylvain Gouguenheim ein Buch mit dem Titel „Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel“, in dem er behauptete, die Wiedergeburt der Philosophie im Europa während des 12. und 13. Jahrhunderts habe wenig mit der Übersetzung arabischer Texte zu tun. Vielmehr, so Gouguenheim, haben die Europäer Aristoteles selber entdeckt, ohne Hilfe der Araber. Gouguenheims Buch führte zu einem Aufschrei der Empörung unter seinen Kollegen in der Philosophiegeschichte. Die meisten Fachleute an den Universitäten Frankreichs, Englands und auch Deutschlands lehnten Gouguenheims These ab. In Deutschland fand im Juni 2009 ein Symposium an der Universität Würzburg statt, auf der deutsche Professoren Argumente gegen Gouguenheim vorbrachten. Davon gibt es viele.

Tatsächlich hat die Forschung der letzten Jahrzehnte mehr und mehr deutlich gemacht, wie tiefgreifend Europa im 12. und 13. Jahrhundert von der arabischen Kultur beeinflusst wurde. Es war fast so, wie es der einflussreiche muslimische Gelehrte Dschamâladdîn Afgânî 1883 in einer Antwort auf Ernest Renan darstellte: „Die Europäer zeigten kaum Interesse für die Philosophie bis zu dem Tage an dem die arabische Zivilisation mit ihren Reflektionen die Gipfel der Pyrenäen erleuchtete und ihr Licht und ihren Reichtum in den Westen goss. Erst dann hießen sie Aristoteles willkommen, der derweil ausgewandert und ein Araber geworden war.“

Viele Entwicklungen in der jüngsten Forschung über die Beziehung von griechischer, arabischer und lateinischer Kultur haben Afgânîs poetischem Bild vom Licht über den Pyrenäen Recht gegeben. Ruedi Imbach, Professor für mittelalterliche Philosophie an der Sorbonne in Paris, ging kürzlich so weit zu sagen, dass westliche Metaphysik im Mittelalter das lebhafte und wilde, aber doch uneheliche Kind einer großartigen Mischehe sei. Die heutige Generation von Islamwissenschaftlern in Europa und Nordamerika erkennt an, dass islamische Philosophie eine reiche Tradition ist, die mit der Übersetzung griechischer Texte begann und weit über das 12. Jahrhundert bis hinein in die osmanische Zeit bestand hatte und, dass diese reiche Tradition auch einen großen Einfluss auf das Denken und die Philosophie in Europa gehabt hat.

Leserkommentare

Hanns Schneider sagt:
Ich weiß nicht, ob die Version, die antiken Schriften wären über die Araber auf uns gekommen, so stimmt. Nach Stefan Weinfurter, Karl der Große. Der heilige Barbar, 2. Aufl., München 2014, S. 193f., haben sich die Gelehrten um Karl den Großen spätantiken Werken gewidmet. Weiter heißt es: "Auch Werke von Cicero und Sallust, von Terenz und Martial, von Horaz und Juvenal, von Seneca und Tertullian und vielen anderen gelangten in die Hände der karolingischen Schreiber." Das war also weit vor den arabischen Gelehrten.
23.02.15
17:47
Frank Griffel sagt:
Wenn ich hier klären darf: Cicero, Sallust, Horaz, u.a. waren natürlich zu Zeiten der Karolinger bekannt denn es waren lateinische Autoren. Es bedurfte hier keiner Vermittlung der Araber. Die griechischen Autoren und hier vor allem Aristoteles waren in der Antike und der Spätantike aber nur in sehr geringem Maße ins Lateinische übersetzt worden. Römer, die sie lesen wollten, lernten eben Griechisch. Diese Autoren waren den Karolingern und ihren Nachfolgern weitgehend unbekannt. Erst nach 1200 setzt eine Rezeption von Aristoteles ein, und die ist durch arabische Autoren (z. B. dem großen Aristoteles-Kommentator Averroes) vermittelt. Ja, die frühesten Texte des Aristoteles im 13. Jh. waren aus dem Arabischen übersetzt, wurden bald aber durch bessere Übersetzungen vom griechischen Original verdrängt.
15.07.16
10:00