30 Jahre Solingen

Kâmil Genç: „Wir hätten alle sterben können.“

Als in Solingen am 29. Mai 1993 der rassistische und extrem rechts motivierte Brandanschlag verübt wurde, war Kâmil Genç 29 Jahre alt. Im Interview erinnert er sich zurück.

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05
2023
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Brandanschlag in Solingen
Brandanschlag in Solingen Sir James, CC BY-SA 2.0 DE, via Wikimedia Commons

Deine Trauer ist mit keinem Wort zu beschreiben. Nochmals mein herzlichstes Beileid. Bei dem Brandanschlag vom 29. Mai 1993 haben du und Hatice Abla und auch die Familien Genç, Duran, Saygın, İnce und Öztürk schwere Verluste erlitten. Du hattest auch vor dem Brandanschlag vom 29. Mai 1993 ein Leben. Wie würdest du dein Leben davor beschreiben?

Kâmil Genç: Unser vorheriges Leben war sehr schön, wir waren immer fröhlich und guter Laune. Unser Haus, das dem Brandanschlag zum Opfer fiel, hatten wir im Jahr 1981 zusammen mit meinem Onkel gekauft und vier Jahre mit dessen Renovierung verbracht. Wir waren sehr glücklich darüber, dass wir in unser neues Heim ziehen würden. Jedoch konnten wir darin nur acht Jahre lang wohnen. 1993 passierte der Brandanschlag. Als wir das Haus gekauft hatten, gehörte die Hälfte der Anteile meinem Onkel und die andere Hälfte meinem Vater. Als mein Onkel im Jahr 1991 für immer in die Türkei zurückkehren wollte, hat er seinen Anteil an mich verkauft. Das Haus gehörte also meinem Vater und mir.

Zusammen mit meinen Eltern lebten wir glücklich zusammen. Mein Schwager Ahmet und meine Schwester Nevin wohnten mit ihrem sechs Monate alten Sohn Burhan im oberen Stockwerk des Haupthauses. Mein Schwager İrfan und meine andere Schwester Sündüz, ihre drei und zwei Jahre alten Söhne Engin und Eren wohnten im Erdgeschoss im hinteren Teil. Die mittlere Etage des Hinterhauses war leer. Meine Schwester Hatice, die bei dem Brandanschlag ums Leben gekommen ist, sollte dort wohnen. Hatice war verlobt. Im unteren Stockwerk des Haupthauses wohnten wir, meine Frau Hatice, ich, unsere Töchter Saime und Hülya, meine Eltern und meine Geschwister Bekir, Hatice und Fadime.

Die Zimmer von Bekir, Hatice und meinen Töchtern befanden sich von der Straßenseite aus betrachtet auf der Höhe des Erdgeschosses, aber von der Rückseite aus war es das oberste Stockwerk des Anbaus. In diese Zimmer konnte man nur durch die Vordertür gelangen. Hinten gab es keine Tür, aus der man herausgekonnt hätte. Das Zimmer meiner Eltern lag an der Straßenseite. Das Zimmer von meiner Frau Hatice und mir befand sich zwar im gleichen Stock, lag aber hinten an der Gartenseite. Es war also von hinten gesehen das dritte Stockwerk. Im Dachgeschoss wohnte die Familie İnce, also meine Schwester Gürsün, mein Schwager Ahmet und meine Nichte Güldane. Wir waren eine große und glückliche Familie. Zusammen mit unseren Kindern waren meine Frau und ich sehr glücklich. Das Glück, ein langes Leben zusammen mit meinen Kindern zu haben, hat man mir aber leider genommen.

Bei dem Anschlag verlor Kamil Genç seine zwei Töchter Saime (4) und Hülya (9), zwei Schwestern, Hatice (18) und Gürsün (27), sowie seine Nichte Gülüstan (12). Seinem Bruder Bekir Genç rettete er mit einer Herz- druckmassage am Ort des Geschehens das Leben. Die restlichen Familienmitglieder konnten gerettet werden. „Wäre meine Frau Hatice nicht gewesen, hätte sie nicht so- fort meine Mutter geweckt und hätten beide am 29. Mai 1993 nicht sofort gehandelt, wären wir alle verbrannt. Unser Verlust wäre noch größer gewesen. Mit Ausnahme meines Vaters wäre unsere gesamte Familie mit einem Schlag erloschen.“

Zu jener Nacht waren es noch drei Tage zum Opferfest. Deshalb fing meine Frau Hatice nachts mit dem Hausputz an. Ich war bereits zu Bett gegangen, weil ich am nächsten Tag meine Taxitour hatte. Plötzlich rief meine Mutter: „Das Haus brennt! Steh auf!“ In dem Moment dachte ich noch benommen vom Schlaf an die Stromsicherungen. Da es ein altes Haus war, waren die Sicherungen im unteren Stockwerk. Ein Brandanschlag kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Erst als meine Frau Hatice mir sagte, dass sie einen Knall gehört hat, wurde mir bewusst, dass es ein Brandanschlag war. Ich ging nach unten und schaltete die Sicherungen aus. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, nach oben zu gehen. Der mittlere Flur, das Wohnzimmer stand in Flammen. Ich gelangte durch die Außentür nach draußen. Meine Mutter und meine Frau Hatice konnten sich durch das Fenster an der Straßenseite nach draußen retten. Nachdem wir draußen waren, konnten wir nicht wieder in das Haus hinein, die Flammen hatten alles umzingelt. Meine Geschwister schliefen im Hinterteil des Hauses.

Der hintere Teil des Hauses wurde an der Gartenseite durch den Hang zum dritten Stockwerk. An der Straßenseite sprangen mein Schwager Ahmet, meine Schwester Nevin und Burhan aus dem Fenster. Mein Neffe Burhan war damals noch ein kleines Baby. Zuerst warfen sie das Kind aus dem Fenster. Mein Vater war während des Brandanschlages auf der Arbeit, er hatte Nachtschicht. Ich glaube, dass meine beiden Töchter, Gott habe sie selig, nicht richtig wach werden konnten, meine Schwester Hatice ebenso. Doch mein Bruder Bekir wachte auf und schrie aus dem Fenster: „Ağabey, ich verbrenne!“ Ich schrie zurück: „Bekir, spring in den Garten des Nachbarn! Ich fang dich auf!“ Ich konnte ihn leider nicht auffangen, er fiel zu Boden. Da er hart aufschlug, dachte ich, dass wir Bekir verloren hätten, denn er zeigte keinerlei Lebenszeichen. Mit einer Herzmassage versuchte ich, ihn wiederzubeleben. Daraufhin kam er zu sich. Um ihn zu beruhigen, sagte ich: „Mein Bruder, du hast überhaupt nichts abbekommen.“ Er hatte aber überall Brandwunden. Ich nahm Bekir auf meinen Schoß und trug ihn nach oben an die Straße. In dem Moment kam auch schon der Krankenwagen und fuhr ihn ins Krankenhaus.

Ich erfuhr dann erst später, dass man ihn nach Aachen in ein Krankenhaus gebracht hat. Zur gleichen Zeit kam auch die Feuerwehr. Ich sagte zu den Feuerwehrleuten: „Im hinteren Teil sind noch Menschen, die schlafen. Rettet sie!“ Die Feuerwehrleute antworteten: „Wir wissen schon über alles Bescheid. Sie brauchen uns nichts zu sagen.“ Obwohl ich sie darauf hingewiesen hatte, konnten sie meine Schwester und meine Töchter, die im hinteren Teil schliefen, nicht retten. Sie sind leider gestorben. Als man meine schwerverletzte Nichte Güldane vom dritten Stock nach unten warf, fiel sie in den Betonschacht. Sie brach sich ihr Bein, ihre Hüfte und noch andere Stellen. So war auch sie gerettet. Nach Güldane stürzte sich mein Schwager Ahmet nach unten. Er erlitt zwar einen Lendenwirbelbruch, aber er kam davon. Als meine Schwester Gürsün İnce aus dem dritten Stock sprang, fiel auch sie in den Betonschacht und kam an Ort und Stelle ums Leben. Alles, also, dass die Flammen sich überall ausbreiteten, die Schreie der Menschen, ihre Rettung, alles passierte in Sekunden, in Minuten. Leider konnten nicht alle gerettet werden. Man brachte uns in verschiedene Krankenhäuser. So gegen morgens um fünf Uhr holte uns die Polizei vom Krankenhaus ab und brachte uns zur Polizeiwache. Bis morgens um acht Uhr haben wir dort ausgesagt.

Am nächsten Tag war in Solingen das Chaos ausgebrochen. Wir haben all das aber nicht mitbekommen. Es gab Demonstrationen, alles wurde kurz und klein geschlagen, die Autobahnen wurden besetzt. Am zweiten, dritten und vierten Tag kamen ununterbrochen Leute zur Beileidsbekundung. Auch Journalisten kamen und gingen. Überall im Haus waren Menschen. Weinende, vor Leid Schreiende, ich habe das alles gesehen und erlebt. Unser Verlust war sehr groß. Ich erinnere mich, wie meine Mutter sagte, um uns ruhig zu halten: „Mein Sohn, uns ist ein furchtbares Leid widerfahren. Sei närrisch bei Hochzeiten, aber vernünftig bei Beerdigungen.“ Ich versuchte, Ruhe zu bewahren.

Allah liebte unsere Kinder also, denn er hatte sie ja frühzeitig zu sich geholt. So tröstete ich mich meinem Glauben nach. Am vierten Tag fragte uns die Stadtverwaltung, wo wir unsere Verstorbenen, die beim Brandanschlag ums Leben gekommen waren, beerdigen möchten. Wir wollten, dass sie in der Türkei beigesetzt werden. Inzwischen kam der Sohn des damaligen Ministerpräsidenten, Ahmet Özal, aus der Türkei nach Köln zur Trauerfeier in der DITIB Zentralmoschee. Es kamen noch andere Minister aus der Türkei angereist. Zusammen mit diesen Ministern haben wir die Verstorbenen in unser Dorf in der Türkei gebracht. Auch ein paar Mitarbeiter des Solinger Rathauses begleiteten uns. Nach der Beerdigung blieben wir ein bis zwei Wochen in der Türkei und kehrten anschließend nach Solingen zurück. Nach circa fünf bis sechs Wochen reisten wir noch einmal in die Türkei und blieben dann für eine längere Zeit. Das Allerschlimmste für mich ist natürlich …, dass ich meine beiden Mädchen nicht noch ein letztes Mal sehen konnte. Ich erinnere mich daran, wie wir uns zusammen in ein Bett gekuschelt haben. Ja, und den Moment, an dem mein Bruder Bekir starb und wieder ins Leben zurückgekehrt ist, habe ich vor Augen. Wenn ich mich so zurückerinnere, sind die- se Verluste sehr große Verluste für mich, für uns.

Fünf Menschen wurden auf einen Schlag ermordet, an ein und demselben Tag. Wäre meine Frau Hatice nicht gewesen, hätte sie nicht sofort meine Mutter geweckt und hätten beide am 29. Mai 1993 nicht sofort gehandelt, wären wir alle verbrannt. Mit Ausnahme meines Vaters wäre unsere gesamte Familie mit einem Schlag erloschen. Mein Vater war arbeiten. Außer ihm waren wir in dieser Nacht neunzehn Personen in diesem Haus. Von neunzehn Menschen wäre nur mein Vater übriggeblieben. Es dauerte nur Sekunden, bis die Flammen alles verschlangen. Es war binnen von Sekunden, dass ich nach unten eilte und die Sicherungen abschaltete. Doch nach oben zurück konnte ich nicht mehr, denn die Flammen waren überall.

Da unser Haus ein altes Fachwerkhaus war, breiteten sich die Flammen über die Holztreppe sehr schnell aus. Ich habe von dem Tod meiner Kinder erst am nächsten Morgen zwischen acht und neun Uhr erfahren. Schon alleine der Gedanke daran ist sehr schlimm, aber man bekommt so eine Art Vorahnung. Ich ahnte es. Denn ich hatte nicht gesehen, dass meine Töchter das Haus verließen. Ich dachte, dass sie bestimmt eine Rauchvergiftung erlitten haben müssten. Ich glaube, sie sind gestorben, bevor die Flammen sie umzingelt haben. Denn es brannte überall, die Flammen waren überall. Daraus unversehrt herauszukommen, wäre ein Wunder gewesen.