Gender und Islam

Das Verhältnis der Geschlechter im Islam und der Wandel der Ehe

Aktuell wird viel über das Geschlecht und die Familie diskutiert. Doch welche islamischen Normen aus dem Koran und der Sunna dürfen bei dieser Diskussion nicht außer Acht gelassen werden? Ein Beitrag von Dr. Abdurrahman Reidegeld.

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2024
Geschlechterverhältnisse im Islam
Symbolbild: Muslimisches Ehepaar © Shutterstock, bearbeitet by iQ.

Es sind neue Gedankengänge, die in den letzten Jahren in muslimischen Kreisen für erheblichen Aufstand sorgten: Nicht nur die schon bekannten Ansätze zur Betrachtung von Homosexualität oder alternativen familienähnlichen Lebensformen (Patchwork-Familien), sondern auch die vehement in Klassenzimmer und Büros hineingetragene Diskussion um LGBTQ brachten für alle Menschen erhebliche Verunsicherung. Gleichzeitig wurde es notwendig, die alten wie die neuen Aspekte von Geschlechterverhältnis, Sexualität, Familienführung und Familienstruktur neu zu überdenken.

Diese Diskussion findet nicht in einem luftleeren Raum statt: Es gibt innerhalb der islamisch-theologischen Normen einige klare Prinzipien, die sich nicht ohne Weiteres durch eine von außen angesetzte Forderung aufheben lassen. Dabei geht es nicht um sogenannte „vormoderne Sichtweisen“, die nunmehr keine Existenzberechtigung hätten – es handelt sich um unverzichtbare moralische Betrachtungen zu den Beziehungen der Geschlechter, und zwar nicht nur im Bereich von Ehe und Sexualleben. Es geht um Überzeugungen, auf welche Weise und wozu der Mensch in der Form von gegensätzlichen Geschlechtern erschaffen wurde.

Drei Kräfte der Geschlechter

Drei einander entgegengesetzte Kräfte, die im Rahmen der neuen Diskussion um die Geschlechter aufgebracht wurden, haben mittlerweile zu einer Auseinandersetzung geführt, die alle Teile der Gesellschaft erfasst. Sie beschäftigt bereits die Jüngsten im schulischen Rahmen und entwickelt quasi Bekenntnischarakter, ohne dass diese Meinungen nur im Geringsten infrage gestellt werden dürften. Genau das wird an dieser Stelle getan. Dabei sollen dennoch die Problempunkte mitbetrachtet werden, die sich sehr wohl auch in der islamischen Tradition finden.

Die erste Kraft ist die Behauptung, es gebe mehr als zwei biologische Geschlechter. Hier gibt es im Islam entschieden die Auffassung, dass Menschen, Tiere, Pflanzen und generell alle Lebewesen, die Thema von der Zeugung, Geburt und Tod sind, in binärer Geschlechtlichkeit – also männlich und weiblich – existieren. Dementsprechend gibt es in der gesamten islamischen Pflichtenlehre (Fiqh-Wissenschaft) nur eine praktische Ausnahme, nämlich die des sogenannten „Khuntha“: Eines Menschen, der Geschlechtsorgane sowohl vom Mann als auch von der Frau hat. Jedoch handelt es sich hier um eine ungewöhnliche biologische Ausnahme und keineswegs um eine üblich anzutreffende Form der natürlichen geschlechtlichen Ausprägung.

Die zweite Kraft betrifft die gemeinschaftlichen Lebensformen von Menschen. Hier trifft die oben genannte erste Kraft – die Annahme, dass es Dutzende von sexuellen biologischen Formen gebe – auf die Auffassung, das sämtliche Kombinationen sämtlicher sexuellen Ausrichtungen gleichermaßen gut und zu akzeptieren seien. Hier ist ebenfalls die Stellungnahme der klassischen islamischen Gelehrten eindeutig: Es wird zwar nicht geleugnet, dass es gleichgeschlechtliche beziehungsweise homosexuelle oder lesbische Ausrichtungen gab und gibt und dass es durchaus muslimische Personenkreise gibt, die es vorziehen, diese Ausrichtungen auszuleben. Aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Islam diese Form des Zusammenlebens nicht als moralisch gute oder akzeptable Lebensform versteht. In diesem Sinne ist es als eine konkrete Propaganda zu verstehen, die von Muslimen nicht zu akzeptieren ist, sämtliche Formen von sexuellem Zusammenleben als gleichermaßen moralisch gut anzusehen.

Die dritte Kraft besteht in dem Willen, alle traditionellen Lebensformen und Formen der Familienführung als beliebig und zugleich absetzbar zu bezeichnen, wobei ein spezieller Fokus gegen muslimische, christliche oder traditionell ausgerichtete Haltungen entwickelt und auf täglicher Basis in allen Medien präsentiert wird.

Wandel der Ehe

Wenn wir uns den muslimischen Gemeinschaftsformen zuwenden, sehen wir, dass sich überall auf der Welt neue Auffassungen zur Familiengestaltung durchgesetzt haben. Dies ist auf gesellschaftliche und finanzielle Zwänge zurückzuführen. Dazu gehört die Berufstätigkeit beider Ehepartner, neue Begegnungsformen über das Internet, Veränderungen in den Betrachtungen der Verwandtschaftsstrukturen, neue Aufgabenverteilungen bei der Kindererziehung und vieles andere mehr. Es ist nicht notwendig, diese neuen Ansätze gesondert in den islamischen Normen zur Familienführung zu integrieren, solange das Wohlergehen der gesamten Familie im Fokus steht und die Bedürfnisse der Kinder in Erziehung und Versorgung ausreichend berücksichtigt werden.

Die heutigen Ehen zwischen Ehepartnern, die 25 und 35 Jahre alt sind, sind anders als früher bei ihren Eltern. Grundsätzlich stellt dies kein Problem dar. Schwieriger gestaltet es sich, wenn unterschiedliche Vorstellungen und Rollenbilder in den Familien der zukünftigen Ehepartner aufeinanderprallen und man nicht in der Lage ist, darüber zu sprechen und mögliche Lösungswege zu finden. In genau diese Definitionslücke drängen sich zusätzlich diverse Internetprediger oder ideologisch geprägte Denker und definieren eine „uniforme islamische Ehe– und Lebensform“, die nach ihrer Auffassung nicht infrage gestellt werden darf und die Kritikern die korrekte islamische Haltung oft abgesprochen wird. Diese Haltungen sind meist geprägt durch einen künstlichen Konservatismus, der interessanterweise in den klassischen islamischen Quellen des Fiqh (der Pflichten- und Normenlehre des Handelns) so nicht vorhanden ist.

Beispielsweise ist in den klassischen Werken nirgendwo die Rede davon, dass eine Ehefrau im ehelichen Haus oder Wohnung putzen und das Essen kochen müsse. Wovon sehr wohl die Rede ist, ist, dass eine Ehefrau nicht gezwungen sein kann, sich dieselbe Wohnung (genauer gesagt: Bad und Küche) mit der Schwiegermutter zu teilen. Bezüglich der Versorgung der Ehefrau wird in allen klassischen Quellen davon gesprochen, dass die Einkommensverhältnisse der Familie der Frau als Grundlage zur Versorgung durch den Ehemann dienen, nicht diejenigen der Familie des Ehemannes. Schon aus diesen Beispielen wird klar, dass in sogenannten konservativ-traditionellen Kreisen andere Normen bestehen: So müsse die Ehefrau kochen und putzen, sie müsse ganz selbstverständlich der Schwiegermutter dienen, auch in ihrer eigenen Wohnung, und natürlich entscheide der Ehemann gemäß den finanziellen Möglichkeiten, was und wie viel er seiner Frau als Versorgung gibt.

Fünf Prinzipien einer gesunden Ehe

Damit ist klar, dass in den meisten Fällen sogenannte „traditionelle Formen“ der praktischen Eheführung keineswegs von den formalen Regeln der islamischen Pflichtenlehre ausgehen, sondern von den aktuell geltenden gesellschaftlichen Erwartungen und Erfordernissen. In diesem Sinne wurde größtenteils das „traditionelle“ Verhältnis von Mann und Frau geprägt. Wenn nun moderne Muslime hingehen und diese sogenannten traditionellen Formen der Eheführung kritisch betrachten, ist nichts dagegen einzuwenden, solange sie sich den islamischen Idealen in der Beziehung zwischen Mann und Frau bewusst sind.

Demzufolge gibt es fünf wesentliche Prinzipien, die man aus dem Koran und den Überlieferungen des Propheten Muhammad (s) nennen kann:

  1. Das feste gegenseitige Vertrauen.
  2. Die Bereitschaft, einander auf dem Weg Allahs zu unterstützen und die gemeinsamen Kinder in diesem Sinne zu erziehen.
  3. Die Großzügigkeit in der gegenseitigen Hilfe, sowohl in der Versorgung als auch allen Dingen, die man zur Ordnung und Instandhaltung des gemeinsamen Hauses beziehungsweise der Wohnung benötigt.
  4. Dass man als Familie auftritt und mit anderen Familien in schöner und gemeinschaftlicher Form Kontakt hat, Freundschaften pflegt und einander hilft.
  5. Dass man die Privatsphäre der Familienmitglieder beachtet, andere Mitmenschen nicht ausspioniert, nicht übervorteilt oder ausnutzt und auf ihre Harmonie und Gesundheit achtet.

Es ist klar, dass sich diese Prinzipien in einer muslimischen Mehrheitsgesellschaft anders ausprägen werden als dort, wo Muslime eine Minderheit darstellen. De facto werden die zukünftigen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen bestimmen, ob und wie diese fünf Prinzipien die muslimische Identität prägen werden und inwiefern die oben genannten drei Kräfte in der Lage sein werden, diese Identitätsbildung einzuschränken.

Fazit

Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass es derzeit nur wenige gesellschaftliche Kräfte in Mittel- und Westeuropa gibt, die ähnlich auf klare Geschlechterrollen und konkrete Familienbildung Wert legen wie der Islam. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Islam zunehmend von der Mehrheitsgesellschaft in Mittel- und Westeuropa entweder als gesellschaftliche Chance oder als Herausforderung verstanden wird.

Der Autor dieser Zeilen sieht den gelebten Islam in Europa vor allem als Korrelativ zu einem vermeintlich einheitlichen gemeinschaftlichen Bild, das bei näherem Hinsehen ja mehr einem Puzzle gleicht. Jeder Teil der Gesellschaft hat unterschiedliche Auffassungen über die Rolle von Mann und Frau, zur Funktion und Bewertung von Sexualität in- und außerhalb der Ehe und zur Familie als wesentlicher Gestaltungsform der Gesellschaft.

Leserkommentare

Ahmed sagt:
Ich habe unlängst die Bücher der Religionspsychologin Victoria Rationi entdeckt, die meint, dass eine Religion, die Gehorsam verlangt, sehr leicht zu einem autoritären Erziehungsstil führt - und in weiterer Folge zu einem "autoritären Charakter" (Adorno), der wiederum autoritäre Regimes begründet. Eine spannende Theorie, die unter Muslimen mehr diskutiert werden sollte - vor allem, weil die Gewalt gegen Kinder in islamischen Ländern meist besonders hoch ist - oft, weil Schutzgesetze fehlen ( siehe whitehand.org )
12.05.24
8:28