Rheinland-Pfalz

Muslimische Seelsorge im Gefängnis – „mit Gefangenen auf Augenhöhe“

Muslimische Gefängnisseelsorger sind in Rheinland-Pfalz Landesbedienstete mit theologischer und akademischer Ausbildung. Nicht Deradikalisierung ist ihre Aufgabe, sondern das Gespräch.

21
08
2021
0
Muslimische Seelsorge im Gefängnis
Symbolbild: Gefängnisseelsorge © Shutterstock, bearbeitet by iQ.

In ihrem Haftraum überkommt es die Gefangenen dann doch – und es fließen Tränen. „Viele Männer brauchen einen Gesprächspartner, der sich Zeit nimmt. Manche würden am liebsten jeden Tag reden“, berichtet Muhammed Gürücü, muslimischer Seelsorger in den Justizvollzugsanstalten (JVA) Wittlich und Trier. „Im Einzelgespräch unter vier Augen wird es emotional, und die Männer können sich öffnen.“

Meist gehe es um Einsamkeit und um Familienprobleme, um den Kontakt zu Frau und Kindern. „Das größte Problem ist, wenn die Häftlinge Kinder haben, alle paar Monate Fotos von ihnen bekommen und merken, wie schnell sie sich verändern.“ Aber auch über ihre Erfahrungen auf der Flucht oder über Folter in Syrien wollten die Inhaftierten sprechen.

Außer Gürücü arbeiten in Wittlich, der größten Justizvollzugsanstalt des Landes, noch zwei katholische und ein evangelischer Seelsorger. Von den rund 450 Gefangenen im geschlossenen Vollzug sind nach eigenen Angaben 246 katholisch, 90 evangelisch und 85 muslimisch, wie der Leiter der JVA, Jörn Patzak, sagt. Die übrigen geben keine Zugehörigkeit an, gehören keiner oder kleineren Religionsgemeinschaften an. In Trier seien derzeit 39 Muslime in Haft, im Jugendvollzug in Wittlich 35.

„Reue, Vergebung und Barmherzigkeit sind Top-Themen bei uns“

Mit Gürücü sind insgesamt drei muslimische Seelsorger in den Gefängnissen in Rheinland-Pfalz beschäftigt – sowie eine Honorarkraft in Diez. Alle sind Beschäftigte des Landes und mussten ein mehrstufiges Eignungsverfahren durchlaufen. Damit geht Rheinland-Pfalz seit fast fünf Jahren als Vorreiter in Deutschland einen eigenen Weg, wie der Sprecher des Justizministeriums in Mainz, Christoph Burmeister, erläutert. Da es anders als bei Katholiken und Protestanten keine „muslimische Kirche“ gebe, gehe es darum, unabhängig von Vereinen und Organisationen zu sein.

Die Flutkatastrophe, die Waldbrände im Mittelmeerraum und die Lage in Afghanistan – auch das sind Themen, über die die muslimischen Gefangenen mit ihrem Seelsorger sprechen wollen. „Sie sind meist gut informiert, weil sie einen Fernseher im Haftraum haben“, sagt Gürücü. Dann werde er im Gesprächskreis auch schon mal aufgefordert: „Erzählen Sie doch mal von dem gerechten Gott!“ Oder er werde gefragt: „Warum töten sich Muslime gegenseitig?“

„Reue, Vergebung und Barmherzigkeit sind Top-Themen bei uns“, berichtet der Seelsorger. Auch über Gott und den Sinn des Lebens wollen die muslimischen Gefangenen mit dem Theologen sprechen. Gürücü ist in Stuttgart geboren und hat in Ankara islamische Theologie studiert. Anschließend studierte er in Tübingen praktische islamische Theologie für Seelsorge und soziale Arbeit.

„80 Prozent der Seelsorge ist Zuhören“, sagt der 31-Jährige. „Die Religionszugehörigkeit heißt für viele nur, dass sie auf Schweinefleisch verzichten“, berichtet Gürücü, der auch das Freitagsgebet im Mehrzweckraum im Wittlicher Gefängnis leitet. „Oft finden die Männer in der Anstalt zur Religion oder wollen mehr darüber erfahren.“ Viele hätten die Religion einfach von den Eltern übernommen, ohne sich damit auseinanderzusetzen.

Noch kein Zeugnisverweigerungsrecht wie in christlicher Seelsorge

Aber längst nicht alle muslimischen Gefangenen suchten das Gespräch mit ihm, berichtet Gürücü. Viele wollten nur einen Gebetsteppich, eine Gebetskette oder einen Koran kaufen oder ausleihen – bei den Jugendlichen fast immer in deutscher Sprache. „Sie können meist keine andere Sprache richtig.“

Konflikte zwischen Schiiten und Sunniten haben weder Gürücü noch Gefängnisleiter Patzak in Wittlich schon erlebt. Gürücü, der in der JVA Stuttgart-Stammheim ein Praktikum gemacht hat, ist darüber selbst überrascht. Nur einmal sei es in den zwei Jahren, die er in Wittlich arbeitet, zu Beginn des Freitagsgebets zu einem Streit zwischen Muslimen gekommen. „Die haben das schnell unter sich geklärt. Und ich habe den Streit dann zum Thema der Predigt gemacht.“

Auf radikale Ansichten stoße er in seinen Gesprächen allerdings schon. „Meist kommt der andere dann aber ins Nachdenken, oft sind das unreflektiert übernommene Ansichten“, berichtet Gürücü. „Deradikalisierung ist aber auch nicht meine Aufgabe.“ Dafür bedürfe es „gänzlich anderer Kompetenzen, Methoden und Interventionen“, heißt es im Konzept der Landesregierung. Eine funktionierende muslimische Seelsorge könne zwar auch präventive Effekte hinsichtlich möglicher Radikalisierungen entwickeln. Dies sei aber nicht der Hauptzweck und der Sinn von Seelsorge.

„Das Gespräch muss vertraulich bleiben, sonst funktioniert es nicht“, sagt Gürücü. Ein Zeugnisverweigerungsrecht wie christliche Seelsorger haben Muslime aber nicht. „Das ist im Bundesrecht so festgelegt“, erläutert Burmeister. „Die Gefangenen sind skeptisch, wenn sie nicht wissen, was ich bin. Sie denken, ich bespitzle sie“, sagt Gürücü. „Sie öffnen sich erst, wenn sie von den anderen hören, Du kannst offen mit ihm reden.“

Mit den Gefangenen auf Augenhöhe

Angst hat Gürücü nicht. „Ich fühle mich sehr sicher, ich verteile aber ja auch keine Sanktionen oder disziplinarischen Maßnahmen.“ Und er kann jederzeit einen Notknopf drücken. „Wir sind gut abgesichert hier.“

Mörder sitzen ihre Strafe in Rheinland-Pfalz in der Regel in Diez ab. In Wittlich werden Haftstrafen von bis zu acht Jahren verbüßt. Das kann auch versuchter Mord- oder Totschlag sein, wie Patzak erläutert. In der Regel seien es Gewalt-, Vermögens-, Drogen- und Sexualdelikte sowie Betrug.

„Manche sprechen über ihre Taten, aber nicht alle“, sagt Gürücü. Besonders schockiert war der Seelsorger, als ihm ein psychisch kranker Gefangener schilderte, wie er seine Frau im Auto erschossen hatte. „Sie lügen auch oftmals, vor allem in der U-Haft“, weiß Gürücü. Ein U-Häftling habe ihm nach seiner Verurteilung erzählt, dass er seine Lügen an ihm ausprobieren wollte. Ein Vergewaltiger habe sich gewundert, dass Gürücü überhaupt mit ihm sprechen wollte. „Ich spreche mit allen Gefangenen auf Augenhöhe.“

Der Seelsorger spricht im Freitagsgebet und in den Einzelgesprächen in der Regel Deutsch mit den Gefangenen – auch das gehört zum Konzept des Landes. Es sei denn, seine Gesprächspartner können noch gar kein Deutsch. Gürücü, der selbst türkische Wurzeln hat, spricht auch noch Arabisch und wünschte, er könnte auch Persisch. (dpa, iQ)