Kennst Du einen, kennst Du alle?

Experten beklagen einseitige Wahrnehmung von Muslimen

Die Debatten über den Islam reißen nicht ab. Mehr Gespräche scheinen allerdings nicht zu mehr Differenzierung zu führen. Wissenschaftler und Aktivisten beobachten jetzt sogar eine gegenteilige Entwicklung.

19
05
2016
Kennst Du einen, kennst Du alle? @ metropolico.org auf flickr, bearbeitet by IslamiQ.

Eines macht Muhterem Aras deutlich: Über die Religion wolle sie nicht definiert werden. Ihre Wahl zur ersten muslimischen Landtagspräsidentin möchte sie stattdessen als Zeichen für die Weltoffenheit Baden-Württembergs sehen, wie die Grünen-Politikerin im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) am Dienstag erläuterte. Dennoch solle die Religion nicht im Vordergrund stehen. Ähnliches ist immer wieder zu hören, bei Wahlen ebenso wie der Vergabe von Filmpreisen: Wahre Gleichberechtigung sei erst dann erreicht, wenn nicht länger Hautfarbe, Geschlecht oder eben Religion zählten, sondern allein die Qualifikation.

Unterdessen beobachten Vertreter von Muslimen ebenso wie manche Wissenschaftler hierzulande eine gegenläufige Entwicklung: eine „Ethnisierung“ des Islam. So nennt es Kübra Gümüşay, Bloggerin und Aktivistin mit türkischen Wurzeln. „Menschen, die so aussehen, als könnten sie aus einem muslimisch geprägten Land stammen, werden oft wie Muslime behandelt“, erklärte sie kürzlich in einem Gastbeitrag auf ndr.de.

Jahrelang seien „die Türken“ oder „die Ausländer“ als „sexistisch, gewalttätig, ungebildet, demokratiefeindlich und rückständig“ angesehen worden, schreibt Gümüşay weiter. Neuerdings werde die Religion pauschal als Ursache für diese Missstände herangezogen.

Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, schildert in seinem soeben erschienenen Buch denselben Automatismus. Islamfeindlichkeit richte sich nicht gegen praktizierende Muslime. Sie treffe vielmehr „jene, die aufgrund ihres Aussehens, ihres Herkunftslandes (oder dem ihrer Eltern) oder ihres Nachnamens als ‚Muslime‘ markiert werden.“ So könne es geschehen, dass ein amerikanischer Sikh aufgrund seines Turbans für einen Muslim gehalten und ausgegrenzt werde.

„Jeder, der Ali heißt, gilt als frommer, praktizierender, wenn nicht gar fanatischer Muslim“, sagt auch der Berliner Extremismusforscher Wolfgang Benz. Dass viele Muslime in Europa ebenso weltlich geprägt seien wie Katholiken und Protestanten werde „geflissentlich übersehen“, kritisierte er unlängst im Interview der KNA. Denn dies passe nichts ins Feindbild von Pegida, AfD und Co.: Deren gemeinsamer Nenner sei die Islamfeindlichkeit.

Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf geht noch einen Schritt weiter. Es habe sich gezeigt, dass für viele Muslime in Europa nicht der Glaube entscheidend für die Identität sei, schrieb er vor kurzem in der „Süddeutschen Zeitung“. Elemente wie die ethnische Herkunft, Berufsausbildung und soziale Stellung seien wichtiger. Und selbst wenn nicht: Auch gläubigen Menschen werde man nicht gerecht, wenn man ihnen über die Religion eine „gleiche kollektive Identität“ zuschreibe, mahnt Graf.

Kristallisiert habe sich genau diese Wahrnehmung in der Folge der Kölner Silvesternacht, erklärte Bloggerin Gümüşay vor kurzem auf der Webkonferenz republica. „Seit Jahrzehnten – ein eigentlich altes koloniales Bild – wird das Horrorszenario gezeichnet von den wilden, triebgesteuerten schwarzen oder muslimischen Männern, die über Deutschland herfallen, plündern und Frauen vergewaltigen.“ Durch die Übergriffe rund um den Hauptbahnhof der Domstadt fühlten sich manche Beobachter in diesen Klischees bestätigt und hätten sie rassistisch instrumentalisiert.

ZMD-Vertreter Mazyek formuliert es allgemeiner: Menschen, die islamfeindlich argumentierten, interessiere nicht, ob und wie der Einzelne glaube. Sie konstruierten vielmehr eine unabänderliche „Natur“ von Menschen, bestehend aus Nation, Etnie, Kultur und Religion – „was nichts anderes als eine rassistische Konzeption darstellt“. (KNA, iQ)

Leserkommentare

Andreas sagt:
@Manfred Schmidt: Die jungen Männer in der Kölner Silvesternach haben sich eben gerade nicht muslimisch verhalten. Sonst wäre ihnen klar gewesen, dass sie weder Alkohol trinken noch Frauen belästigen oder vergewaltigen dürfen. Der Terror junger Muslime hat soviel mit dem Islam zu tun, wie der Terror junger Deutscher aus der rechtsextremen Szene. Weder stehen die Rechtsextremen für Deutschland, noch stehen die Islamisten für den Islam.
03.06.16
15:16
Manfred Schmidt sagt:
An Andreas, ich gebe Ihnen Recht, mit Ihrer Bewertung über das Verhalten dieser jungen Männer und auch über das, wie der Terror der rechtsextremen Szene zu sehen ist. Aber auf einen Unterschied möchte ich hinweisen: Wie die deutsche Gesellschaft und die Medien in diesem Land das Versagen der Sicherheitsorgane z.B. bei der Aufklärung der NSU-Morde, die Heucheleien, die bei z.B. den Missbrauchsvorwürfen innerhalb der katholischen Kirche, wie nun einmal viele Missstände benannt und verurteilt werden, wie dabei öffentlich Partei ergriffen wird, das hat eben eine andere Qualität als das, was von muslimischen Offiziellen zu dem zu hören ist, was wöchentlich -oder beinahe täglich- die Welt erschüttert. Ich kenne die oft gebrauchten Worte "wovon soll ich mich distanzieren, mit dem ich nichts zu tun habe?" Es wird lediglich immer die gleiche Rille abgespielt, "dies hat mit dem Islam nichts zu tun" (habe ich in meinem ersten Kommentar schon ausgedrückt). Dabei wäre es viel wichtiger, dass weite Kreise innerhalb der Muslime sichtbar und hörbar Partei ergreifen, als dass die Missstände nur von außen aufgezeigt werden. Es gibt zu wenig Hamad Abdel-Samads.... Die Islamisten müssen (vornehmlich) von innen bekämpft werden. Wer die Frankfurter Rundschau vom 04.06.2016 auf Seite 4 aufschlägt und den Artikel über die Islamistenszene in NRW liest, dabei sich mit den Äußerungen von Mitgliedern derselben konfrontiert sieht, dem muss "himmelangst" werden. Dazu hätte ich gerne etwas von Herrn Mazyek gehört und -nochmals gesagt- wie diese Strömungen von innerhalb des Islam bekämpft werden.... Da muss Stellung bezogen werden. Doch es kommt dagegen leider zu wenig Überzeugendes...
03.06.16
19:13
Manfred Schmidt sagt:
Sollte wirklich jemand Interesse am o.g. angesprochenen Artikel in der FR suchen und lesen wollen, er erschien am 03.0616, nicht am 04.06. Errare humanum est gilt für viele Bereiche :-)
05.06.16
7:57
Charley sagt:
Ja, auch ich beobachte, dass ich zunehmend mich gar nicht mehr für den einzelnen Muslim interessiere. Warum? Weil viele überhaupt nicht sich ansprechen lassen auf ihre Religion, ihr Muslim-Sein! Weil sie zu vielem, was mich brennend interessieren würde, gar keine Meinung haben. Da werden dann Koranverse abgespult, da wird mir ein anonymes, eben nicht individualisiertes Islamwissen um die Ohren gehauen, dass ich die Menschen austauschen könnte! Und inzwischen frage ich mich: Welchen Individualitätsbegriff hat der Islam selbst? Inwieweit legt der Islam überhaupt Wert auf eine Individualisierung des Glaubens? Welche individuelle Auseinandersetzung des gläubigen Moslems mit seiner Religion wird "vom Islam" überhaupt gewünscht, wert geschätzt? Da tut sich für mich ein großes schwarzes Loch auf. Nein, ein guter Moslem ist geclont, der brav (möglichst) alle Regeln der Religion befolgt und nicht hinterfragt! Und dieses Moslemideal ist beängstigend! Des es propagiert einen Massenmenschen, der in krassem Widerspruch zur Individualitätskultur Europas steht! Interessant sind für mich nur noch Moslems, die darüber sprechen können, warum sie glauben. (Das ist was anderes als Koranverse abspulen!). Marionetten Allahs sind mir unheimlich! Die Auseinandersetzung mit der Religion hat Europa in der Aufklärung geleistet. Davon ist die islamische Kultur noch weit entfernt! Wer so etwas in der islamischen Kultur wagt, lebt sehr, sehr gefährlich!
10.06.16
14:20
Marianne sagt:
Charley: Nun legen Sie aber Ihren eigenen Maßstab an, um eine andere, Ihnen fremde Religion zu beurteilen. Zugleich behaupten Sie damit auch, dass Ihre Sicht der Dinge die einzig richtige ist, der sich andere zu unterwerfen haben. Das könnte man anmaßend nennen. Wer sagt denn, dass unser schöner Individualismus das non plus Ultra ist? Muss sich jeder dieser Meinung, denn mehr ist es ja nicht, zwingend anschließen? Das behaupten wir schon seit den Kreuzzügen, dass wir den Muslimen überlegen sind. Bewiesen ist diese Behauptung allerdings längst noch nicht.
20.06.16
15:58
Charley sagt:
@Marianne: Ok, wenn nicht Individualismus, dann Massenmenschhaltung? Das haben die Bolschewisten schon mal exerziert. Und du hast dann einen ziemlich schrägen Toleranzbegriff, wenn dir das egal ist. Genau dasjenige, was an der europäischen Kultur wertgeschätzt wird, basiert genau auf dieser Individualitätskultur. Die lässt sich auch nicht mehr auslöschen, auch wenn sie im Egoismus absurde Blüten treibt. Aber wenn dieser Egoismus sich die ganze Welt zu eigen macht, wird deutlich, was die Kraft des Individuum bewirken kann. Darum ist die Bejahung des Individualismus eine europäische Schrulligkeit, sondern tatsächlich etwas, was die Besten jeder Kultur beseelt hat. Und jede Kultur, die das Individuum nicht bejaht, beraubt sich ihrer Fruchtbarkeit. Bin auch gern bereit, mir Gegenargumente (!) anzuhören, aber dein "Deine-Meinung-meine-Meinung" ist banal und löst überhaupt nicht das Problem, wenn sich Kulturen begegnen. Was ist denn deine Alternative zum Individualismus? In Asien gilt eher die Tendenz: Die Individualität befördert die Gemeinschaft. In Europa: Die Gemeinschaft befördert die Individualität. Das sind polare Gegensätze! (Wieso du hier die Kreuzzüge anführst, ist unverständlich!)
20.06.16
19:13
Charley sagt:
Upps kapitaler Tippfehler: es heißt natürlich:Darum ist die Bejahung des Individualismus KKKeine europäische Schrulligkeit, sondern tatsächlich etwas, was die Besten jeder Kultur beseelt hat.
21.06.16
5:31
Manuel sagt:
@Marianne: Was gefällt Ihnen besser ein islamistischer Religionsstaat mit Scharia oder eine säkulare-liberale Demokratie?
21.06.16
17:47
Charley sagt:
@Manuel: Es stellt sich diese Frage nicht, denn es ist nicht die Frage der Beliebigkeit, ggf. eben der Wahl zwischen zweit Alternativen, die gleichwertig als wählbar sich darstellen! Ein islamischer Staat mit Sharia ist per se menschenverachtend, weil er auf eine irrationale Autorität ("Gott", "Allah") baut, deren Existenz und Meinung nur von einer Elite (Immane u.a. "Gelehrte" mehr) gewusst wird, die sich also zu Herren über Recht und Wahrheit aufschwingen. Das ist schlimmer als jeder Papst und dass das überwunden wurde, haben tausende in Europa ihr Blut geopfert in den Befreiungskriegen, Revolutionen... da hinter gehe ich nicht mehr zurück. Ich finde es bereits "krank", dass "Gott" in einer Verfassung auftaucht. Dabei bin ich selbst durchaus "religiös" und gehe für mein Leben davon aus, dass es "mehr gibt", als die Sinne mir zeigen..... aber ich würde dafür kämpfen, dass jeder die Freiheit behält, anderer Meinung zu sein und entpsrechend seinen Lebensentwurf zu gestalten!
22.06.16
14:56
Marianne sagt:
@Manuel: Es ist die Frage, ob ein säkularer Staat, wie Sie ihn sich wünschen, überhaupt mit einer liberalen Demokratie vereinbar ist Insofern fragen Sie mich, ob mir Pest oder Cholera lieber ist.
27.06.16
15:55
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