Interview mit Bülent Uçar

Islamische Theologie stärkt „muslimische Mitte“

Wir sprachen mit Prof. Dr. Bülent Uçar über die Etablierung der Zentren für Islamische Theologie an deutschen Universitäten. Dabei wollten wir auch wissen, wie die muslimischen Religionsgemeinschaften in den Prozess eingebunden werden und welche zukünftigen Aussichten sich für die Islamische Theologie in Deutschland ergeben.

08
12
2013

Prof. Bülent Uçar, geb. 1977 in Oberhausen, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bochum und Islamwissenschaften, Politische Wissenschaften und Privatrecht mit Rechtsvergleich an der Universität Bonn. Zusätzlich absolvierte Uçar ein Promotionsstudium an der Universität Bonn im Fach Islamwissenschaft. Er war als Lehrer für Islamische Unterweisung und für Islamkunde tätig. Er arbeitete in der Lehrerfortbildung und war Mitarbeiter des Ministeriums für Schule und Weiterbildung in Düsseldorf im Referat für Integration. 2008 habilierte er an der Universität Erlangen-Nürnberg im Fach Islamwissenschaft mit einer Arbeit zum Thema: „Moderne Koranexegese und die Wandelbarkeit der Scharia in der aktuellen Diskussion der Türkei“.

Seit Juni 2008 ist Bülent Uçar ordentlicher Professor für Islamische Religionspädagogik in Osnabrück. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und Fachtexte zum Islam und den Muslimen in Deutschland. Heute ist er Geschäftsführender Direktor des Instituts für Islamische Theologie (IIT) an der Universität Osnabrück. Das IIT gehört zu einem der fünf vom Bund geförderten Standorte für Islamische Theologie an Deutschen Universitäten.

 

Die Etablierung von Lehrstühlen für islamische Theologie in Deutschland schreitet mit einem rasanten Tempo voran. Was ist der Grund für diesen zügigen Aufbau der Lehrstühle für Theologie?

Als die Muslime nach Deutschland kamen, hatte keiner wirkliches Interesse an ihrer Religion oder Kultur. Viel entscheidender war, dass diese Menschen Arbeitskräfte waren. Nach dem Krieg brauchte man keine Facharbeiter, sondern vielmehr ungelernte Arbeitskräfte, die in bestimmten Arbeitsmarktbereichen eingesetzt werden konnten, sodass man bei der Migration aus islamisch geprägten Ländern nicht darauf geachtet hat, Menschen aus einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht hierher zu holen. Vielmehr war entscheidend, dass diese Menschen einfach bestimmte Arbeiten verrichten konnten.

In den 90er Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion, gab es zahlreiche Mikrokriege in mehrheitlich islamisch geprägten Ländern – Bosnien, Afghanistan, Algerien, Tschetschenien. Für die Menschen im Westen war das alles natürlich sehr beängstigend. Die Medien haben hier mit einprägsamen Bildern, teilweise bewusst, teilweise auch unbewusst das kollektive Gedächtnis der Mehrheitsgesellschaften des Westens angesprochen. Sodass in den 90er Jahren immer mehr die Angst vor dem Islam, teilweise auch bewusste Islamfeindschaft geschürt wurde. Dies hat in den letzen Jahren dazu geführt, dass rechtspopulistische Parteien gerade hier in Westeuropa so stark geworden sind, sodass meines Erachtens diese Rechtspopulisten die Demokratie mehr gefährden als sogenannte religiöse Extremisten im islamischen Bereich. In Abgrenzung zu diesen sind sie vor allem in den 90er Jahren entstanden.

Ich denke, dass die politische Klasse diese Entwicklung gut beobachtet hat. Eine kluge Politik grenzt sich von Rechtspopulisten wie auch religiösen Extremisten auf allen Seiten gleichermaßen ab. Es ist von politischer Bedeutung, dass man die Mitte stärkt. Denn soziologische Untersuchungen beispielsweise der Deutschen Islam Konferenz (DIK) in Deutschland zeigen, dass sich über 90 Prozent der Muslime als religiös bezeichnen. Gleichzeitig haben wir eine Studie von der Konrad-Adenauer-Stiftung, die etwa zehn Jahre alt ist und belegt, dass sich 90 Prozent der Muslime als demokratisch bezeichnen. Das zeigt, dass im Bereich der Soziologie und der Theologie in Bezug auf die Demokratie oder die Menschenrechte eine weitgehende Übereinstimmung in Bezug auf die Lebenseinstellung der Muslime in Deutschland besteht.

 

Die Wahrnehmung, die erzeugt wird, ist jedoch eine ganz andere.

Ja, das ist richtig und deshalb spreche ich in diesem Kontext auch von einer pathologischen Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf die deutschen Muslime. Daher hat die Politik sicherlich das Interesse, die Mitte des Islams zu stärken und die marginalen Ränder als solche zu quantifizieren. Die islamische Theologie wird meines Erachtens von der Politik gefördert, um diese Mitte zu stärken, auch wenn das öffentlich nicht offen ausgesprochen wird.

 

Was genau ist denn die „muslimische Mitte“?

Es gibt natürlich unterschiedliche Verständnisse von der Mitte. Das kommt darauf an, wo sie sich selbst verorten. Für mich persönlich ist die Mitte in Bezug auf die Muslime in Deutschland demografisch wie auch theologisch weitestgehend übereinstimmend. Daher werden einseitige Bevormundungsversuche der islamischen Theologie, die die Ränder stärken, in der einen oder anderen Richtung, also im religiös-extremistischen Bereich als auch im progressiv-liberalen Bereich langfristig weder den Muslimen in Deutschland noch der Mehrheitsgesellschaft nutzen. Die islamische Theologie wird ein Rückbindungsproblem bekommen, zudem wird ihr der Basisbezug fehlen, und sie wird dann keine Botenfunktion mehr ausüben können.

Journalisten, Politiker und Kirchenvertreter täuschen sich an dieser Stelle, wenn sie meinen, durch die Favorisierung bestimmter Persönlichkeiten im öffentlichen Diskurs die theologische Positionierung der Muslime lenken zu können. Die Entwicklung in der laizistisch-kemalistischen Türkei seit den 40er Jahren ist der beste Beweis dafür. Bereits damals hat die politische Führung erkannt, nachdem man über zwei Dekaden versucht hat, die Religion vollständig aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen und einseitig von oben herab zu reformieren und zu „türkisieren“, dass das nicht funktioniert. Die Folge davon war, dass selbst die Kemalisten am Ende erkannt haben, dass sie für die religiös geprägten Menschen ein akzeptables Angebot im theologischen Bereich machen müssen, wenn sie die praktizierenden Muslime nicht verlieren wollen, weil sie entweder immer stärker marginalisiert werden oder in den Extremismus abdriften.

 

Und das vergleichen sie mit der heutigen Situation in Deutschland und anderen europäischen Ländern?

Ja, denn die Ausgangsbedingungen und die Zielsetzungen ähneln sich meines Erachtens in vielem. Jedoch stehen wir in Deutschland noch ganz am Anfang einer solchen Entwicklung. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir uns ausgewogen positionieren, damit wir die Moscheegemeinden, die Religionsgemeinschaften und vor allem die religiösen Muslime und deren Vertrauen in unsere Institutionen nicht verlieren. Das ist für mich das A und O, davon lebt die Theologie.

Religiöse Autorität funktioniert nur, wenn sie von religiösen Menschen akzeptiert wird. Wenn diese Akzeptanz nicht mehr da ist, hat Theologie keinen Einfluss mehr auf die Gläubigen. Der Wert der Theologie als eine universitär verankerte Wissenschaftsdisziplin, ohne nennenswerten Einfluss auf die Basis, wird dann stets umstritten bleiben, dann könnte man nämlich auch in die Religionswissenschaft gehen, die sich mit Religion aus der Distanz, ohne Normativitätsansprüche auseinandersetzt. Aber Theologie muss darüber hinaus noch weitere Zielsetzungen haben, dahin gehend, dass Theologie neu reflektiert und möglichweise in bestimmten Bereichen neu produziert wird. Aber das alles geht nur dann, wenn sie auch eine feste Verankerung in der jeweiligen Religion hat.

 

Islamische Theologie hat sich historisch betrachtet oft in Konflikt mit den Machthabern, als eine zivile Bemühung entwickelt. Nun wird sie von der Bundesregierung und diversen Stiftungen gefördert. Kann sich in diesem Umfeld eine fruchtbare Theologie entwickeln?

Die islamische Theologie hat sich in der Frühzeit des Islams in der Tat unabhängig von den politischen Machthabern entfaltet. Aber die Politik hat sich schon immer für Religion und auch für ihre Theologie interessiert, weil sie die Kraft der Religion gefürchtet hat – die positive wie auch die negative Kraft. Daher haben die Machthaber stets versucht, sich in theologische Diskurse einzumischen und Institutionen zu schaffen, um Theologen entsprechend ihrer Façon auszubilden. Nehmen sie zum Beispiel die Madrasas in der islamischen Welt. Sie sind meistens von den Herrschern gestiftet worden und unterstanden jedenfalls im Osmanischen Reich ihrer mittelbaren Kontrolle.

Die Hauptmotivation, die dahinter stand, war sicherlich religiös begründet. Man kann aber auch sagen, die Politik wollte letztlich über solche Stiftungen mehr oder weniger die religiösen Diskurse mit beobachten, um nicht zu sagen mitbestimmen.

 

Wie ist die Situation im heutigen Deutschland?

In Deutschland haben wir es mit einer besonderen Situation zu tun. In der islamischen Welt waren die politischen Herrscher und die Stifter, also die Geldgeber Muslime. In Deutschland kommt erschwerend hinzu, dass wir es hier zum einen mit einer Gesellschaft zu tun haben, die mehrheitlich säkular und christlich geprägt ist. Zudem gibt es eine enorme Islamophobie in dieser Gesellschaft, um nicht gar von Islamfeindschaft zu sprechen. Deshalb reagieren Muslime sehr sensibel, wenn nichtmuslimische Institutionen versuchen, muslimische Institutionen aufzubauen, um in den Bereich der islamischen Wissenschaften einzudringen und den Muslimen zu zeigen, wie sie den Islam zu verstehen und umzusetzen haben. Dass die Muslime in diesem Punkt sehr sensibel sind, ist aus meiner Sicht vollkommen nachvollziehbar.

 

Wäre es angesichts der Spannungen, die es ja offensichtlich gibt, nicht sinnvoller, wenn Muslime private Hochschulen gründen würden?

Ich denke, dass wir mittelfristig eine islamische, staatlich anerkannte Hochschule in privater Trägerschaft in Deutschland brauchen werden. Das haben wir ja auch im christlichen und jüdischen Bereich. Ich persönlich würde mir wünschen, wenn etwa der Koordinationsrat der Muslime als Bundesverband gemeinsam mit den Landesverbänden eine solche Hochschule aufbauen würde. An dieser Hochschule würde es dann um die akademische Auseinandersetzung mit dem Islam gehen. Was aber interessanter wäre, und das sollte der Schwerpunkt sein, ist der Bereich der Praxis, also der Bereich, der direkt das Gemeindeleben betrifft und von uns hier an den Universitäten nicht geleistet werden kann.

 

Es wird überall die Bezeichnung „islamische Theologie“ verwendet. Hat eine solche offensichtlich an den bestehenden christlichen Fakultäten ausgerichtete Namensgebung nicht Auswirkungen auf Inhalt und Struktur der Lehrstühle bzw. für die islamische Theologie an sich?

Wir sprechen, wie wir denken und wir denken, wie wir sprechen. Zwischen Denken und Sprechen gibt es eine Interdependenz, das ist wohl wahr. Auch wir in Osnabrück bezeichnen uns als islamische Theologie. Aber diese Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen. Wir haben den Begriff der Theologie thematisiert, problematisiert und uns die Frage gestellt, inwiefern wir ihn auf den Islam beziehen können. Und sind dann übereinstimmend zu dem Entschluss gekommen, dass der Begriff „islamische Wissenschaften“ eigentlich viel besser ist als „islamische Theologie“.

Aber wir hatten da zwei Befürchtungen. Zum einen die Sorge, dass das verwechselt werden könnte mit den Islamwissenschaften, die ja keine bekenntnisgebundene Disziplin ist. Der zweite Punkt war, dass mit der Theologie Abgrenzungen zur Religionswissenschaft formuliert werden, die auch einen rechtlichen Hintergrund haben. Wenn man von Theologie spricht, braucht man unbedingt die Legitimation durch die Religionsgemeinschaften. Ohne sie kann man in Deutschland nicht von Theologie sprechen, weil die Rechtsgrundlage fehlen würde. Für uns war wichtig, dass wir auch wirklich eine Theologie mit den islamischen Religionsgemeinschaften, zusammen mit den Muslimen an der Basis anbieten, und nicht etwa gegen oder ohne sie agieren.

Daher haben wir auch pragmatisch argumentiert. In der Türkei verwendet man für Theologie seit über 60 Jahren den Begriff „ilahiyat“. In der islamischen Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele für die Synthese von unterschiedlichen Positionen. Islamische Gelehrte haben sich in der Geschichte sehr wohl auch dem hellenischen Denken der griechischen Philosophie gestellt und völlig neue Wörter kreiert. Im Diskurs mit den alten Philosophen des Orients haben sie neue Begrifflichkeiten verwendet und diese Gedanken in den Gelehrtendiskursen rezipiert. Sie haben diese Begrifflichkeiten teilweise auch weiterentwickelt. Das Wort „islamisieren“ mag ich nicht, aber an dieser Stelle ist es passend. Muslimische Gelehrte haben diese Termini islamisiert, ihnen neue Bedeutungen zugewiesen, sie schließlich neu definiert. Dasselbe Verfahren kennt übrigens auch der Koran im Umgang mit bestimmten Begriffen aus der Dschahiliyya.

Ich halte diesen Ansatz für vielversprechend. Wir sollten keine große Scheu haben und uns nicht in ein geistiges Vakuum zurückziehen. Das kann nicht im Sinne der Muslime sein. Denn dies würde nur zur Bildung einer Parallelwelt führen, in der Muslime nicht sprachfähig und theologisch nicht anschlussfähig sind, sich also mit Menschen anderer Glaubensüberzeugungen und Theologien nicht austauschen können.

Andererseits ist eine totale Übernahme dieser Begrifflichkeiten genauso problematisch. Folglich empfehle ich die islamischen Begrifflichkeiten, die hauptsächlich aus dem Arabischen kommen, aber auch aus dem Persischen und Türkischen, im Original beizubehalten und weiterzutragen. Gleichzeitig kann man auch neue Wörter prägen, also gewisse neue Begrifflichkeiten mit einem völlig neuen semantischen Feld, für den es in der islamischen Welt noch keine Grundlage gegeben hat, aber den es möglicherweise hier in Deutschland aufgrund unserer spezifischen Situation gibt.

 

Kann die islamische Theologie in Deutschland von den Erfahrungen der Muslime etwa in Malaysia, der Türkei oder Ägypten lernen? Oder sollte sie sich lieber von den Erfahrungen von islamischen Gemeinschaften in einer Minderheitensituation lenken lassen?

Der Islam in Deutschland hat keine lange Geschichte. Die islamische Theologie in Deutschland, um ehrlich zu sein, hat eigentlich fast gar keine Geschichte. Wir versuchen momentan, so etwas wie eine islamische Theologie aufzubauen. Und hier gibt es sehr starke Befindlichkeiten. Manche befürchten, dass hier möglicherweise etwas gelehrt werden könnte, was gegen die elementaren Grundsätze der Demokratie widerspricht. Die Muslime befürchten eine Hybridisierung, eine Verwässerung ihrer religiösen Überzeugungen. Das sind Erfahrungen, die sicherlich auch andere islamische Gemeinschaften in Minderheitensituationen gemacht haben.

Die Grundlagen und Kerndisziplinen der islamischen Wissenschaften sind aber weltweit gleich, egal ob in Indonesien, Marokko, Saudi-Arabien, Bosnien oder der Türkei. Wenn dort islamische Wissenschaften gelehrt werden, werden zu 80 bis 90 Prozent dieselben Fächer unterrichtet. Es gibt manche ideologischen und konfessionellen Unterschiede. Aber insgesamt sind Tafsîr, Hadithwissenschaften, Fiqh, Sîra oder die Usûl-Wissenschaften immer gleich.

Selbstverständlich gibt es auch kontextgebundene Unterschiede. In der Türkei, wo die Gesellschaft zum allergrößten Teil aus Muslimen besteht, ist der interreligiöse Dialog im Vergleich zu uns in Deutschland sicherlich nur sekundär, wenn nicht tertiär wichtig. Aber für uns Muslime in Europa ist der Austausch mit den Christen, Juden oder auch Atheisten und Agnostikern, die ja mindestens 30 Prozent dieser Gesellschaft ausmachen, von viel größerer Bedeutung.

Wir müssen aber natürlich auch nach Bosnien schauen, wo die Muslime in einer ähnlichen Situation sind wie wir hier in Deutschland oder in andere Länder Europas. Genauso können wir von den Erfahrungen der Muslime in Südafrika profitieren, wo es Muslime gibt, die als Minderheiten leben und Einrichtungen für islamische Wissenschaften geschaffen haben. Insgesamt müssen wir sehr sensibel mit dieser Situation umgehen und auch eine gewisse Offenheit haben, um von unseren Kollegen aus dem christlichen, jüdischen Raum zu lernen. Ich finde gerade die jüdische Erfahrung interessant, weil es Ähnlichkeiten gibt. Aber auch von den christlichen Theologien können Muslime viel lernen.

 

Wie wurde die Frage der Partizipation der Religionsgemeinschaften in Osnabrück gelöst? Ist es eine Lösung auf Dauer?

Der Wissenschaftsrat hat eine bestimmte Beiratslösung empfohlen. In diesem Beirat sitzen bei uns Vertreter der beiden großen islamischen Religionsgemeinschaften in Niedersachsen. Das ist die Schura Niedersachsen und die DITIB Niedersachsen, mit jeweils drei Vertretern. Zusätzlich haben wir drei unabhängige Theologen, die jeweils von den beiden Religionsgemeinschaften und von der Universität vorgeschlagen werden. Von den neun Personen, die in dem Beirat tätig und aktiv sind, werden also acht von der DITIB und von der Schura ernannt und nur eine Person von der Universität vorgeschlagen. Ohne die Religionsgemeinschaften geht bei uns gar nichts. Sie haben in diesem Beirat bei uns dieselben Rechte, wie sie den Kirchen in diesem Bundesland zustehen, aber auch dieselben Pflichten.

Gemeinsam haben wir hier ein Institut aufgebaut, das mit sieben Lehrstühlen und fast 50 Mitarbeitern das größte seiner Art in Deutschland ist. Vier von diesen Lehrstühlen sind besetzt, drei sind jetzt im Bewerbungsverfahren. Und bei jeder Berufung eines neuen Hochschullehrers, wie auch bei der Erstellung der Curricula brauchen wir immer das Votum des Beirats. Wir sind, was das Institut anbelangt, an unserer Universität in allen Bereichen strukturell, wie auch inhaltlich der katholischen und evangelischen Theologie gleichgestellt und damit auf Augenhöhe.

 

Was kann die islamische Theologie zu der Partizipation der Muslime in der hiesigen Gesellschaft beitragen?

Die islamische Theologie kann einen Beitrag dazu leisten, dass der Islam so wahrgenommen und verstanden wird, wie er von der Mehrheit der Muslime verstanden und gelebt wird. Sie kann hierfür eine geeignete Sprache entwickeln. Die Wissenschaftler an diesen Instituten können eine Sprache entwickeln, durch die positive Erkenntnisse der Moderne – ohne das Leid, die Irrungen und Wirrungen der Moderne auszuklammern – für den islamischen Diskurs fruchtbar gemacht werden. Durch diesen reflektierten und selektiven Zugang können die Früchte der Moderne adaptiert werden und dem Islam ein neuer sprachlicher und inhaltlicher Zugang eröffnet werden, ohne die Grundfundamente des Islams infrage zu stellen. So kann der Islam als lebendige Religion den Menschen in Europa besser nahegebracht werden.

 

Für welches Theologieverständnis steht Ihr Institut?

Zunächst sei angemerkt, dass wir eine bunte und plurale Zusammensetzung an Mitarbeitern haben, die sich auch alle eigenständig theologisch positionieren, was auch gut ist. Ich werde im Folgenden eher eine Tendenz skizzieren. Für uns in Osnabrück war und ist wichtig, dass wir ein Verständnis von Religion und auch einen entsprechenden wissenschaftlichen Zugang haben, der sich fernab von den Rändern positioniert. Ich habe immer gesagt, dass einseitige Orientierungen das ganze Projekt der islamischen Theologie zum Scheitern bringen können, weil die islamische Theologie in Deutschland ohnehin ein Akzeptanzproblem hat und skeptisch betrachtet wird. Wir möchten weder einen rückwärtsorientierten Islam lehren, noch stehen wir für eine Hybridisierung des Islams zur Verfügung.

Wir möchten einen Weg der Mitte gehen. Für uns ist die Tradition sehr wichtig, aber die Traditionsverbundenheit alleine kann sehr schnell zu Extremismus oder zu einer gewissen Verbohrtheit und auch zu einem einseitigen Denken führen. Daher braucht die Orientierung an der Tradition immer auch einen kritischen Geist, also Reflexion. Diese bedingen einander. Innovation ist notwendig um diese Tradition in unsere Zeit weiter zu entwickeln. Dabei ist uns wichtig, dass diese Erneuerung, diese Bemühung, islamische Quellen zu verstehen, aus einer religiösen Überzeugung kommt, also von den Muslimen selbst. Sie darf nicht aufgezwungen sein. Sie darf aber auch nicht als eine Hingabe oder als eine Einschmeichelung an die Mehrheitsgesellschaft und ihre Funktionäre verstanden werden. Es geht um eine vernünftige Balance. Wir bemühen uns in der Tat, an diesem Weg der Mitte festzuhalten, der von allen gläubigen Muslimen und den allermeisten islamischen Organisationen akzeptiert werden kann.

 

Welche theologischen Lehren und Ansätze sind es denn konkret, die den Weg der Mitte ausmachen?

Ich möchte es nicht an plakativen Beispielen konkretisieren, vielmehr den grundsätzlichen methodischen Zugang innerhalb der „Ahl as-Sunna“ (Leute der Sunna) hervorheben. Für uns war es sehr wichtig, dass wir die Vielfalt der islamischen Welt hier im Institut repräsentieren. Gleichzeitig sind wir keine objektivierten, geistigen Eunuchen, sondern Menschen mit eigenen Überzeugungen und Standpunkten, hierzu muss jeder stehen. Das finde ich viel redlicher als dieses Gerede von der sogenannten Neutralität. Die allermeisten Mitarbeiter orientieren sich tatsächlich an der Ahl as-Sunna. Was heißt Ahl as-Sunna? Wir sprechen hier nicht nur von der Ahl as-Sunna, sondern der „Ahl as-Sunna wal Dschamâ’a“ (Leute der Sunna und der Gemeinschaft). Das ist eine Definition, die zusammengehört. Der Begriff „Sunna“ steht für die sogenannte Tradition, und zwar für die Tradition des Propheten selbst, seine Lebensweise, seine Lebenshaltung und natürlich auch die seiner Gefährten. Hinzu kommt die Gemeinschaft, die große Mehrheit der Muslime. Das ist eine Einheit.

Daher habe ich von Anfang an immer wieder klargestellt, dass wir uns an der Mehrheit der Muslime in Deutschland orientieren. Das ist der Gedanke der Dschamâ’a. Wenn man den Fokus allein auf die Gemeinschaft legt, kann das sehr wohl in Populismus enden. Über Wahrheit lässt sich demokratisch jedoch nur in den wenigsten Fällen entscheiden. Deshalb braucht man eine normative Ebene – und das ist die Sunna.

Die Ahl as-Sunna ist aber keine Fraktion neben anderen. Sie ist nach meinem Verständnis ein Spektrum, keine Fraktion, keine Gruppe neben anderen Gruppen. Die Ahl as-Sunna ist die breite Mitte, die große Mehrheit der Muslime. Natürlich hat auch ein Spektrum seine Grenzen. Das ist kein absolut dehnbarer Begriff, den man in alle Richtungen ausdehnen kann. Und wie dieser Begriff konkret einzugrenzen ist, kann wunderbar in den Aqîda-Werken nachgelesen werden. Rund 90 Prozent der Muslime weltweit und in Deutschland bekennen sich hierzu. Wir sind aber auch sehr interessiert an einer Zusammenarbeit mit schiitischen Institutionen und bemühen uns hierum.

Das Interview führte Ali Mete
Bei dem Interview handelt es sich um eine erweiterte und aktualisierte Version des Interviews in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift „Perspektif“.

Leserkommentare

Kent sagt:
Sehr hilfreiche Anregung für all jene Lehrstühle und Professuren, die genau das Gegenteil von dem anstreben, wovie Prof. Ucar warnt. Es hat jedoch den Anschein, dass die Lehrstühle in Münster, Erlangen und Frankfurt am Main nicht der Islam der Basis (die Mehrheit der Muslime und die islam. Gemeinden) kümmert. Man kann in der Tat aus der Geschichte der Türkei, Bosniens und Südafrikas lernen, wenn man denn will.
22.12.13
13:00