Soziale Medien

„Der Mensch kann nur in einer schützenden Schale reifen“

Immer mehr junge Menschen nutzen soziale Medien. Der Wunsch nach Ruhm und sich zur Schau zu stellen, ist dabei sehr groß. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit der Soziologin Nazife Şişman über die Auswirkungen der konstanten Selbstinszenierung.

17
06
2023
Soziologin Native Şişman über die richtige Nutzung von sozialen Medien
Soziologin Native Şişman über die richtige Nutzung von sozialen Medien

IslamiQ: Die sozialen Medien sind eine Plattform, die das Verhalten der Menschen verändert und gestaltet. Glauben Sie, dass die Frage nach dem Verhalten der „muslimischen Nutzer“ in dieser gewaltigen „soziale Medien“ genannten Struktur auf die Frage „ist es erlaubt – oder nicht“ beschränkt werden sollte? Wenn wir von „muslimischen Nutzern in den sozialen Medien“ sprechen, auf welche Dynamiken sollten wir dann bezüglich Grenzen und Möglichkeiten das Augenmerk legen?

Nazife Şişman: Sie haben recht. Über soziale Medien zu sprechen und zu sagen, dass sich unser Kommunikationsstil verändert hat, ist eine mittlerweile für alle langweilige Feststellung geworden. Wir müssen diese Veränderungen und den Wandel viel tiefer analysieren und bewerten. Wenn wir das schließlich getan haben werden, wird es in der Zwischenzeit schon zu neuen Veränderungen gekommen sein. Denn neue Technologien dringen in unser Leben, noch bevor wir überhaupt die Gelegenheit gehabt haben, die vorhandenen zu interpretieren.

Grundsätzlich sollte diese Diskussion unter Berücksichtigung der Beziehung zwischen Technologie und Mensch geführt werden. Meistens wird dabei aber folgende klassische Analogie verwendet: Wird ein Messer mit guten oder mit schlechten Absichten benutzt? Schadet man jemandem mit der Nutzung dieser Technologie, oder zieht man daraus einen Nutzen? Das ist der Rahmen, innerhalb dessen üblicherweise gedacht wird. Deshalb sind die Absicht des muslimischen Nutzers und die Frage, inwiefern die Regeln befolgt werden, die Grundlage für eine Bewertung. Eine solche Sichtweise erlaubt es uns nicht, Details aus dem Privatleben einer kopftuchtragenden Frau zu thematisieren. Hierzu zählen Themen wie die Geschenke, die sie ihrem Kind kauft, wo sie am Wochenende mit ihrem Mann hingeht und wie ihr Alltag generell aussieht.

Die islamische Rechtslehre hat einen lebendigen Mechanismus, der sich nicht einfach auf den engen Rahmen von „zulässig/nicht zulässig“ beschränken lässt. Doch anstatt uns mit diesem Mechanismus zu beschäftigen, setzen wir uns mit dem Fiqh auf der Ebene rigider Fatwas auseinander. Wenn wir die Atmosphäre und den Rahmen, in dem der muslimische Nutzer lebt, nicht begreifen, können wir auch nicht mit seinem Glauben vertraut machen. Daher können wir auch keine Bewertung zur Frage der Grenzen und Möglichkeiten vornehmen. Auf individueller Ebene ist natürlich die Absicht wichtig, und das ist es auch, was die Person rettet. Aber wenn wir kein Verständnis im Sinne eines systemischen Ansatzes haben, können wir nicht verstehen, was tatsächlich geschieht und wozu unsere Handlungen innerhalb des festgelegten Rahmens führen. Daher können wir auch keine Verantwortung dafür übernehmen.

IslamiQ: Sie haben vor allem im Bereich der Biotechnologie gearbeitet. Foucault verwendet den Begriff der „Bio-Macht“ auf ähnliche Weise und sagt, dass Macht sich auf jedes einzelne Individuum auswirkt und das Handeln der Menschen von innen heraus gestaltet. Wenn wir uns von diesen großen Debatten ausgehend auf die Ebene der „sozialen Medien“ herunterbewegen, glauben Sie, dass dort eine Form von Macht auf den muslimischen Nutzer ausgeübt wird?

Şişman: Wenn man von „Macht über muslimische Nutzer“ spricht, dann klingt das nach Manipulation, die speziell auf die Gruppe abzielt, um die es geht. Natürlich ist es möglich, dass einige Behörden, die es auf Muslime abgesehen haben, sich die Möglichkeiten der sozialen Medien zunutze machen. Aber so gesehen kann jeder einer politischen Manipulation unterworfen werden. Die eigentliche Problematik liegt in der Frage, ob die eingesetzte Technologie hinsichtlich ihrer Nutzung eine Tyrannei darstellt oder nicht – und diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten.

Die Beziehung zwischen Menschen und Maschinen/Technologie ist uralt. Neben vielen anderen Definitionen wird der Mensch auch als „Homo Faber“ definiert, als Wesen also, das Werkzeuge herstellt. Was heute in seiner Beziehung zum Werkzeug anders ist, was also die neue Technologie von der Alten unterscheidet, ist die Überlegenheit des Werkzeugs über den Menschen. Jacques Ellul, Lewis Mumford, Günther Anders und viele andere Denker, die mit ihren kritischen Texten über die moderne Technologie auf sich aufmerksam gemacht haben, sagen, dass es nicht nur die Werkzeuge sind, die sich verändern. Der Wandel besteht nicht nur darin, dass man die Drehbank durch einen 3D-Drucker ersetzt. Es ist die Technik als System, die den Menschen erobert. Da die Technik ihre eigene Ideologie mit sich bringt, ist die gefährlichste Form der Determination in der modernen Welt das Phänomen der Technologie, sagt Ellul. Daher beschränken sich die Probleme, über die wir sprechen müssen, nicht darauf, wie eine bestimmte Technologie oder die sozialen Medien unser Leben beeinflussen. Die Thematik ist leider viel umfangreicher und tiefgreifender. 

IslamiQ: In Ihrem Buch „Im digitalen Zeitalter Muslim bleiben“ sprechen Sie die Beziehung zwischen Grenzenlosigkeit und Privatsphäre an. Könnten Sie uns diese Beziehung erläutern?

Şişman: Privatsphäre bedeutet in gewissem Sinne „Wer kann, wen sehen? Wer kann, wem in welchem Ausmaß nahe sein?“. In der Zeit vor der digitalen Überwachung gab es eine Reihe von Instrumenten und Mechanismen, mit denen die Menschen kontrollieren konnten, wer sie sehen konnte. Tür, Fenster, Wand, Schleier, Vorhang, Distanz zum Betrachter. Das waren architektonische / räumliche Grenzen. Mit der digitalen Überwachung hat der Mensch heute die Kontrolle über diese Grenzen verloren. Bild und Ton können aufgezeichnet und immer wieder angesehen werden. Eine Rede, die für ein bestimmtes Publikum bestimmt ist, kann ein anderes, gänzlich unbekanntes Publikum erreichen. Auch Zeit ist kein Mittel der Kontrolle mehr, denn dieselbe Aufnahme kann auch noch Jahre später angesehen werden. Ich weiß also nicht, wer mich beobachtet, ich habe keine Kontrolle über Informationen, die es über mich gibt. Türen und Mauern schützen mich jetzt nicht mehr. Netzwerkgesellschaft, digitales Zeitalter, wie auch immer wir es nennen wollen – wir müssen heute neu über die Privatsphäre sprechen. Aber wir haben nicht die geistige Klarheit, um diesen Wandel nachzuvollziehen. 

Privatsphäre bedeutet Abgrenzung. Der Mensch benötigt eine Grenze, um ein Mensch zu bleiben. Der Mensch kann nur innerhalb einer schützenden Schale reifen. Transparenz, das Gegenteil von Privatsphäre, ist eines der Grundprinzipien des Rechts, die Gerechtigkeit ermöglicht. Doch Transparenz im gesellschaftlichen und individuellen Leben verhindert die Reifung eines moralischen Selbst und schlägt in Gewalt um. Wir können uns heute nicht mehr ausreichende Distanz, ausreichenden Raum schaffen, um uns nicht darstellen zu müssen, indem wir allein sind und wir wissen auch nicht, wie wir einen solchen Raum bewahren können. Byung-Chul Han zufolge schafft das Verschwinden der Distanz Raum für die Ideologie der Transparenz. Distanz, Scham und Privatheit werden als Hindernis für die Geschwindigkeit von Kapital, Information und Kommunikation gesehen. Wir haben es also mit einer Ideologie zu tun, die Transparenz mit Vertrauen verknüpft. Diese Ideologie verbindet Transparenz mit Vertrauen und Geheimhaltung mit Verbrechen.

Ein Slogan in Dave Eggers’ Roman „Der Kreis“ fasst die heutige Netzwerkgesellschaft zusammen: Geheimhaltung ist ein Verbrechen. Die Reihe von Rechtfertigungen, mit denen jeder davon überzeugt oder gezwungen werden soll, dem Kreis beizutreten – man kann ihn als das www oder Google lesen – sind mehr als nur zum Nachdenken anregend, sie sind erschreckend: Wenn man Dinge tut, die keine Verbrechen sind, für die man sich nicht schämt, dann kann man auch nichts dagegen haben, wenn andere sie sehen; und wenn man schlechte Dinge tut, wenn man ein Verbrechen begeht, dann hat die Gesellschaft noch viel mehr das Recht, es zu sehen. Wenn man Schönes tut, warum dann egoistisch sein und es andere nicht sehen lassen? Sollten nicht auch andere davon profitieren können? In der Konsequenz ergibt sich aus all dem, dass Privatsphäre und Geheimhaltung ein Verbrechen sind. Man darf nichts verstecken, alles muss offen zugänglich sein. Das ist die vorherrschende Ansicht in den sozialen Medien.

IslamiQ:  In den sozialen Medien kommt es zunehmend zu einer „Content Produktion“ mit islamischen Formen. Was sind Ihrer Meinung nach die Herausforderungen oder Vorteile der Produktion von „islamischem Content“?

Şişman: Wir können uns nicht länger auf die Unterscheidung zwischen real und virtuell stützen und die digitalen Umgebungen aus unserem täglichen Leben ausschließen. Mit anderen Worten, wir können diesen neuen Gesellschaftsbereich nicht marginalisieren oder als Ausnahmefall betrachten, indem wir einfach sagen, er wäre „nicht real“ oder „virtuell“. Ein Großteil des Soziallebens findet nämlich digital statt. Deswegen scheint es unvermeidlich, sich in den digitalen Umgebungen mit der Identität zu bewegen, die wir eben haben. Deswegen machen wir es auch zum Thema, in einer Umgebung „präsent“ zu sein, in der wir die Funktionsweise von Algorithmen nicht kennen. Es ist unvermeidbar, in einem Medium, in dem Sozialität, Bildung und Kommunikation stattfindet, präsent zu sein. Dabei dürfen wir aber nicht aus dem Augenmerk verlieren, wie Informationen in Daten umgewandelt werden und inwiefern der Mechanismus Einfluss auf den Content hat. Ich habe es bereits bei der Beantwortung der vorhergehenden Frage angesprochen: Im letzten Jahrhundert haben viele Denker kritisiert, dass die Technologie die Art verändert, wie wir die Welt erfahren. Heute konzentrieren sich die Philosophen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, auf die Frage, wie sich das Denken und Urteilen in einem Zeitalter, in dem alles schnell und direkt vermittelt und geteilt wird, verändern werden.

Die neuen Netzwerktechnologien schließen die Menschen aus dem deliberativen Prozess aus. Bernard Stiegler sagte, dass sie den Menschen dazu verurteilen, sich einer Macht zu beugen, die seine mentale Beziehung zu sich selbst manipuliert. Eine einfache Beobachtung lässt schon erkennen, dass die sozialen Medien den Nutzer zwingen, einen bestimmten Standard zu befolgen und die Darstellung über den Inhalt zu stellen. Am offensichtlichsten wird das, wenn die Präsentation in einer bestimmten Form gemacht werden muss, um die Anzahl der Aufrufe und der Abonnent möglichst hochzuhalten. Anders gesagt, wird niemand von diesen Machtmechanismen befreit, nur weil der Inhalt „islamisch“ ist.

IslamiQ: Viele Nutzer wollen zu einem „Influencer“ aufsteigen. Viele Nutzer streben danach, ein Konto mit einer großen Anzahl von Abonnenten und entsprechendem Einfluss zu besitzen. Wie kann ein solches „Ideal“ den muslimischen Nutzer verändern?

Şişman: Soziale Interaktion, Wirkungsmanagement, Reputationsbildung und der allgemeine Fluss sozialer Betätigung erfolgt immer mehr über digitale Netzwerke. Die Präsenz der Menschen auf diesen Kanälen und die Fähigkeiten, die sie dabei demonstrieren, haben deshalb praktische, persönliche und sogar finanzielle Konsequenzen. Was meine ich damit? Als man damit begann, auf YouTube und Instagram auf Grundlage der Klickraten von Beiträgen Werbeeinnahmen zu generieren, begannen die Content-Eigentümer wie Unternehmer zu handeln.

Evgeny Morozov, der kritische Artikel gegen den „technologischen Solutionismus“ schreibt, d. h. gegen den Technokapitalismus, der behauptet, dass die Lösung aller Probleme in der Technologie liegt, warnte schon vor Jahren vor dieser extremen Situation; vor der Gefahr also, dass damit angefangen wird, das Privatleben eines jeden als Daten zu vermarkten. Er fasste das folgendermaßen zusammen: Wenn Daten zu einer Gelddruckmaschine für die Bürger gemacht werden, dann werden wir alle zu Unternehmern. Das würde bedeuten, dass das Alltagsleben bis ins Letzte zu Geld gemacht werden würde. Dann werden die Menschen davon besessen sein, ihre Gedanken und Gefühle, Fakten und Ereignisse über sich selbst zu monetarisieren, indem sie diese öffentlich zur Schau stellen – weil sich vielleicht dafür Käufer auf dem freien Markt finden. Vor sechs oder sieben Jahren sagte Morozov, sich auf die Zukunft beziehend:

IslamiQ: Heute hat sich dies bewahrheitet, nicht wahr?

Şişman: Ja, leider. Es gibt eine einfache Logik hinter den Bemühungen der Influencer, „herauszuragen“: Wenn unser Leben eine Ware ist, warum sollten andere das Urheberrecht daran besitzen? Es sollte uns gehören und wir selbst sollten davon profitieren, nicht andere. Wenn praktisch gesehen jemand anderes die eigenen Bilder verbreiten kann, warum nicht einer selbst? Die Frage, die Sie gestellt haben, würde umformuliert folgendermaßen lauten: Was bedeutet es für den muslimischen Nutzer, ein Leistungssubjekt zu werden? Oder welche Art von Selbstzerstörung bewirkt die Vermarktung des eigenen Privatlebens in Form von Daten? Um die Frage in einem weitläufigeren Rahmen zu stellen: Wie verändert die Inspiration, die einem auf der Bühne zuteilwird, das Alltagsleben? Dies sind keine Fragen, die sich einfach beantworten lassen. Dennoch lassen sich einige der Folgen, die sich daraus ergeben, dass man zum Unternehmer des eigenen Lebens und selbst zum Objekt der Fan-Wirtschaft wird, schon auf den ersten Blick erkennen. Zum Beispiel in der Reihenfolge der Prioritäten. 

Es hat mich zum Beispiel zu Beginn sehr überrascht, als Instagram-Nutzer, die zu Beginn Fotos nur um sozialer Kontakte willen posteten und dabei auf ihren Aufnahmestil achteten – sie zeigten ihr Gesicht nicht zu sehr, bevorzugten Fotos aus der Ferne, nutzten einen persönlichen Account – im Laufe der Zeit diese Grenzen immer mehr erweiterten und zu Unternehmern wurden. Dann las ich Baumans Aussage, dass das „Vergnügen, aufzufallen“ alles andere überwiege und es die „Angst, bloßgestellt zu werden“ unterdrücke. Die Preisgabe der eigenen Daten ist der Preis, den man für Ruhm zu zahlen hat. Der Wunsch nach Ruhm, gesehen zu werden und anzugeben sind keine Wünsche und Ambitionen, die sich erst heute beim Menschen zeigen. Seit Urzeiten sind fast alle Erzählungen der Ansicht, dass „Ruhm ein Gift ist, das der Mensch nur in kleinen Dosen verträgt“. Ziel ist, dieses Verlangen des Menschen unter Kontrolle zu bringen. Heute ist Ruhm zu einem Handelsgut geworden. Wir müssen die Veränderungen, mit denen wir konfrontiert sind, genau beobachten und erkennen, was sich verändert hat. Andernfalls kann es zu keiner zielführenden Diskussion kommen.

Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.

Leserkommentare

Minimalist sagt:
Sicherlich kann die genannte Soziologin sinnvolle Anmerkungen und Bewertungen zum Thema der sozialen Medien mit beitragen. Ob sie natürlich bei jungen Medien-Nutzern mit islamischer Prägung auch als wegweisende Soziologin - mit traditionellem Selbstverständnis im Seniorenalter - ernsthaft eine gewichtige Rolle spielen kann und wird, das darf schon angezweifelt werden.
10.07.23
0:33