Corona-Virus

Geduld und Gottvertrauen – spiritueller Impfstoff für Muslime

Die islamische Geschichte kennt viele Epidemien. Ein Impfstoff kann vielleicht den Körper heilen, aber nicht die Seele. Welche Rolle Geduld und Gottvertrauen in Krisenzeiten spielen, erklärt Cemil Şahinöz.

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2020
spiritueller Impfstoff, Geduld
Symbolbild: Geduld und Gottvertrauen © Shutterstock, bearbeitet by iQ

In der Menschheitsgeschichte gab es immer wieder Epidemien und Pandemien, bei denen Millionen Menschen starben. Die bekannteste älteste Epidemie ist die Pest gewesen, die 3500 v. Chr. in ganz Europa wütete. Wie viele Tote es damals gab, kann nicht bestimmt werden. Als die Pest 1346 bis 1353 noch einmal durch Europa, Asien und Afrika zog, starben 100-125 Millionen Menschen. Ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung verstarb an der Pest, daher wird sie auch als Schwarzer Tod bezeichnet.

Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts brach die Pest ca. 30 mal in verschiedenen Regionen aus, z. B. 1708-1714 in Nord- und Osteuropa mit einer Million Toten, 1894-1912 in China und der Karibik mit 12 Millionen Toten. Aber nicht nur die Pest, sondern auch andere Epidemien, wie z. B. die 1918-1920 die Spanische Grippe mit 27-50 Millionen Toten, 1961-1990 die Cholera mit mehreren Millionen Toten, führten zu menschlichen Katastrophen. Einige der Krankheiten konnten besiegt werden, einige gibt es weiterhin, jedoch nicht mehr in so großem Ausmaß oder in anderen Formen. Die aktuelle Corona-Pandemie zählt seit November 2019 1,3 Millionen Tote.

Impfstoff für die Seele

Mehrere Unternehmen arbeiten derzeit an einem Impfstoff gegen das Corona-Virus. Einige Impfstoffe sind schon auf dem Markt und/oder werden bald eingeführt. Impfstoffe führen allgemein dazu, dass das Immunsystem des Menschen gegen bestimmte Stoffe aktiviert wird. Daher gelten sie als vorbeugende Maßnahmen gegen verschiedene Krankheiten.

Der Mensch besteht jedoch nicht nur aus Körper und Leib. Nicht nur sein körperliches, sondern auch sein seelisches Empfinden führen zu einer Krankheit oder Gesundheit. Oft beeinflusst die Psyche des Individuums seinen Körper, so dass z. B. Stress oder seelische Belastungen zu körperlichen Krankheiten führen.

Auch in Zeiten von Epidemien und Pandemien spürt der Mensch seelische Belastungen. Seine Psyche wird negativ beeinflusst. Auch wenn eine Pandemie vorüber sein sollte, können dann psychische Erkrankungen fortbestehen. Daher ist es wichtig, nicht nur ein Impfstoff für den Körper, sondern auch ein Impfstoff für Geist und Seele einzunehmen, einen sogenannten spirituellen Impfstoff. Diesen bietet der Islam auf verschiedene Art und Weisen an.

Geduld und Gottvertrauen

Vor allem ist es aber die menschengerechte und seiner naturentsprechenden Lebensweise, die zu einem Einklang zwischen Körper und Seele führt. Im Leben des Propheten Muhammad (s) gibt es hierzu zahlreiche praktische Beispiele. Als theologisches Gerüst findet man hierbei vor allem zwei Aspekte: Geduld (Sabr) und Gottvertrauen (Tawakkul).

Der Begriff der Geduld spielt in der islamischen Theologie und im islamischen Alltag eine wichtige Schlüsselrolle für die Bewältigung von Krisensituationen. Weil damit das Vertrauen auf Gott symbolisiert wird, gilt sie als eine hohe Tugend, und es gibt eine ausgiebige Literatur hierzu.

Als Beispiel für Geduld wird in der islamischen Literatur oft der Prophet Hiob (a), der auch „Held der Geduld“ genannt und für seine Geduld gelobt wird[1], herangezogen. Laut der Berichte befand sich der Prophet Hiob (a) in einem schwer erkrankten Zustand. Er zeigte solange Geduld, bis die Krankheit sein Herz und seine Zunge erreichten. Erst dann sprach er ein Gebet, nicht um seiner eigenen Gesundheit willen, sondern um weiterhin Gott anbeten zu können, da er befürchtete, dies nicht mehr bewerkstelligen zu können, wenn sein Herz und seine Zunge von der Krankheit befallen werden würden. Daraufhin gewährte ihm Gott Gesundheit und lies ihm dadurch seine Barmherzigkeit spüren. Diese Geschichte Hiobs (a) ist ein klassisches Narrativ und wird in Not- und Krisensituationen oft als Handlungsempfehlung wiedergegeben.

Hinter Leid steckt eine göttliche Weisheit

Hintergrund dieser Empfehlung ist, dass theologisch davon ausgegangen wird, dass sich alles mit göttlicher Gewalt und göttlichem Wissen vollzieht. Daher wird vor allem in Krisensituationen Gottvertrauen vorausgesetzt[2]. Damit soll signalisiert werden, dass man sich dem göttlichen Willen unterordnet und Gott vertraut. Dabei soll man mit der „Verteilung“ Gottes, also mit dem, was einem Menschen im Leben trifft, zufrieden sein. Gott soll dem Gläubigen dabei Genügen[3].

Gottvertrauen erfordert in diesem Kontext auch zu erkennen, dass etwas, was der Mensch als gut betrachtet, in Wirklichkeit schlecht für ihn sein kann und umgekehrt[4]. Hinter Leid steckt demnach eine göttliche Weisheit[5]. Glaube und Vertrauen sollen hierdurch geprüft werden. Wer geduldig ist, soll Erbarmen erlangen. Hingegen wird der Verlust der Kontrolle in Notsituationen[6] oder das Fixieren auf die Fehler der Vergangenheit[7] als Fehlverhalten betrachtet.

Geduld als Lösung der Probleme

Gleichzeitig wird es als Gottesdienst angesehen, wenn man gegen Leid und Schmerzen Gottvertrauen und Geduld zeigt und hierfür Gott nicht anklagt. In Notsituationen auf die Hilfe Gottes zu warten wird ebenfalls als ein Gottesdienst bewertet[8]. Wer in solchen Situationen geduldig ist, dem sollen die Sünden getilgt werden[9] und er wird gelobt[10]. In der islamischen Literatur wird hierbei betont, dass der Geduldige mit Gott ist[11] und er für seine Geduld belohnt wird[12]. Das Endresultat von Geduld ist dann Erfolg[13], denn mit Geduld in Notsituationen könne der Mensch sowohl seine weltlichen als auch jenseitigen Wünsche erlangen. Aus dieser Argumentation heraus, werden Geduld und Gottvertrauen zu Gottesdiensten.

Es wird also davon ausgegangen, dass Gott niemanden mit einer Not,
einer Last, einem Problem oder einer Krise belastet, die er nicht tragen kann[14] und daher die Belastungen nicht bewältigen kann[15]. Angst, Hunger, Minderung an Besitz, Menschenleben oder Gaben werden direkt als Prüfungen Gottes erachtet.[16]Prüfungen sind durch Gottes Hilfe zu bewältigen[17], der Schlüssel hierfür sei die Geduld[18]. Die schwierigsten „Prüfungen“ hatten demnach die Propheten selbst zu tragen. Nur so konnten Propheten, die sich als Menschen ebenfalls in Notsituationen befanden, Vorbilder für die gesamte Menschheit sein. Daher wird in Situationen wie z. B. Unglück, Krankheit, finanzielle Notlage oder auch Abschlussprüfungen Geduld erwartet und vorausgesetzt[19]. Mit Gottvertrauen, ohne sich auf das Ergebnis zu fixieren, solle man die notwendigen Mittel zur Beseitigung eines Problems, wie z. B. den Arzt aufsuchen, die Medizin einnehmen oder für die Prüfung lernen, anwenden.

Gottvertrauen und Geduld als spiritueller Impfstoff

Geduld und Gottvertrauen sind jedoch keine Vertröstungen, Trauer ist nicht verboten. Der Muslim geht davon aus, dass das Leben insgesamt eine Prüfung ist[20] und der Mensch entweder mit Geduld oder Danksagung geprüft wird. Sowohl Krankheiten als auch Situationen, in denen keine Krankheiten vorliegen, werden als Prüfungen bezeichnet. Dass heißt jedoch nicht, dass sich der Muslim nicht um eine Wiederherstellung der Gesundheit kümmert. Den Körper, der als Eigentum des Schöpfers betrachtet wird, zu pflegen, gehört zu einer muslimischen Lebensweise. So können zum Schutz des Lebens die in Normalfällen geltenden Regeln übertreten werden[21]. Damit ist Geduld keine Passivität oder Legitimation für das Nichthandeln, sondern auch eine aktive Handlung, Hilfe bei Gott und den von ihm erschaffenen Mitteln zu suchen.

In der islamischen Literatur wird Gottvertrauen auch als eine „Eingangsstufe“ zur Spiritualität bezeichnet. Studien zeigen die Signifikanz von Gottvertrauen als Bewältigungsstrategie bei der Reduktion von Angst oder Depression.

Auf Grund dieser Überlegungen werden Geduld und Gottvertrauen zu zwei Verhaltensformen, die wie ein spiritueller Impfstoff eingenommen werden können. Der Mensch kann dadurch einen Zustand des inneren Friedens erreichen und sich von Stress und psychischen Belastungen befreien.

[1] Sure Sâd, 38:44

[2] u.a. Sure Bakara, 2:153

[3] Sure Talak, 65:3; Sure Zumar, 39:36

[4] Sure Bakara, 2:216

[5] Tirmizî, 2396

[6] Buhârî, 1294

[7] Nawawi, 100

[8] Schaybâni, Dschâmi as-Sagîr, 3; Nawawi, 2033

[9] Schaybâni, Dschâmi as-Sagîr, 3, 1274

[10] Sure Schûrâ, 42:43

[11] Sure Anfâl, 8:46; Sure Bakara 2:153

[12] Sure Zumar, 39:10; Buhârî, Marda, 7

[13] Sure Âli Imrân, 3:200

[14] a. a. Sure Talâk, 65:7

[15] Sure Balad, 90:4

[16] Sure Bakara, 2:155

[17] Sure Bakara, 2:185, Sure Scharh, 94:5-6

[18] Al-Munâvî, Fayz al-Kadîr, 6:298; Adschlûni, Kaschf al-Hafâ, 2:21; Nawawi, 62

[19] u. a. Sure Nisâ, 4:78, Ahmed bin Hanbal, 5/367; Al-Albâni, 3859; Buhârî, 1283

[20] Sure Anbiyâ, 21:35; Sure Bakara, 2:214; Sure Mulk, 67:2

[21] Sure Nûr, 24:61; Sure Fath, 48:17

Leserkommentare

Charley sagt:
@Johannes Disch: Sorry, aber hier muss ich deutlich widersprechen. Dass es ein Seelenleben gibt, das völlig unabhängig von den Stoffwechselvorgängen des Körpers ist, zeigen die unzähligen Out-of-Body Erlebnisse und auch die vielen, vielen Nahtoderlebnisse (dazu bitte mal einige Beispiele anhören von "experimentelle Jenseitsforschung", ein sehr interessanter Youtube-Kanal). Dass sich das Seelenleben allerdings so unabhängig vom Leib erleben, finden, erkennen kann ist dem Alltagsbewusstsein nicht/kaum deutlich. Wer allerdings nur etwas Meditationsübungen oder auch nur Konzentrationsübungen macht, der kann schnell erleben, wie das Stirnchakra erwacht (die vielbesagten Chakren RUHEN nämlihc bei den meisten Menschen), vor allem und schon längst davor wird er erleben können, dass SEINE Denktätigkeit unabhängig vom Kopf in dessen Umkreis stattindet. Bald kann er dann auch erleben, dass sein Seelenleben tatsächlich im Umkreis des Leibes, im Raum, den die Aura des Menschen einnimmt, stattfindet. Das ist ja das Ziel aller sprituellen übungen, dass die Seele sich selbst unabhängig vom Leib erfährt und nicht mehr durch den Spiegel des Leibes von sich oder der Welt weiß. Dass jemand, der durch den Schnee geht, darin Spuren hinterlässt berechtigt noch lange nicht zu der Aussage, dass die Spuren denjenigen erzeugt haben, der da durchgegangen ist! Das Ganze ist vergleichbar mit jemandem, der nur von sich weiß, weil er vor einem Spiegel steht und im (Leibes-)Spiegel sein Spiegelbild sieht und darum dazu/da heraus "ich" sagt. Nimmt man den Spiegel weg (bzw. geht davon weg, z.B. im Schlaf, wenn die Seele nicht "im Leibe" steckt), dann ist das Bewusstsein weg, eben "im Schlaf". Natürlich gibt es - eben evident für den Erfahrenden - eine Seele, die eine eigene Existenz unabhängig vom Leib hat (und auch schon vor der Zeugung (Verbindung mit dem Leib) und nach dem Tode (endgültige Trennung vom Leib)) esistiert. Diese Seele ist selbst aber noch Organ des Geistes. Dieser erkennt sich in seinem Spiegelbild der Seele wiederum, wenn er diese zur völligen Ruhe gebracht hat. Das ist exemplarisch vorgemacht im Zenbuddhismus, wo die Meditation der Leere (die in Wahrheit dann die Fülle des Geistes offenbart) dazu führt, dass der Geist ohne "unruhige" Seelengedanken sich selbst im reinen Sein erfährt. (Das ist entsprechend dem oberen Bild vom Spiegel.) Das nennt man dann "Erleuchtung". Darum sagt der Apostel Paulus völlig richtig im "Hohelied der Liebe" 1. Korinth.13: "Jetzt aber erkennen wir wie im Spiegel, einst aber werden wir erkennen, gleichwie wir erkannt sind!" Sorry für diese Theorie, die gar keine ist, sondern jedem, der die nötigen Anstrengungen dafür macht, selbst erfahrbar ist. Allerdings muss man sich da schon etwas auf den Weg machen. - Ich könnte jetzt noch 100 Seiten Erkenntnistheorie dazu schreiben, belasse es aber bei einem Zitat des Dalai Lama: Es ist leichter sich vorzustellen, dass das Bewusstsein (unbewusste) Materie hervorbringt als ich zu denken, dass (unbewusste) Materie ein Bewusstsein hervorbringt. Wenn man DAS alles erwägt, dann wird verständlich wie Salutogenese eben im Innern des Menschen seinen Ursprung nimmt. Das hat dann auch viel mit dem Imunssystem zu tun.
19.01.21
19:11
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