Mourad Louloud ist Akademiker, Dozent, Ehrenamtler, Vater und Ehemann. Und er ist blind. Doch wie lebt es sich als Muslim mit einer Beeinträchtigung in Deutschland? Ein Porträt.
Der Himmel ist strahlend blau, und der Wind weht den warmen, süßen Duft von frisch gebackenen Dattelkeksen in die kleinen Häuser des Dorfes. Mourad beobachtet aus dem Fenster mit seinem letzten verbliebenen Augenlicht die Jungs beim Fußballspielen. Die Augenkrankheit breitet sich immer schneller aus. Von Tag zu Tag sieht Mourad immer weniger.
Er hört die Stimme der alten Tante, die Obst und Gemüse verkauft, und den Onkel von nebenan, der seine Ziegen füttert. Alles in seinem kleinen Dorf in Marokko ist ihm vertraut. Er spürt die Sonne in seinem Gesicht; sie scheint durch das Fenster in sein Zimmer. Er darf nicht hinaus. Er kann nicht hinaus. Mit seinen jungen 15 Jahren droht ihm die völlige Erblindung. Hoffnung hat Mourad noch. Doch es kommt anders. Durch eine falsche Behandlung verliert er sein Augenlicht vollständig. Seine Hoffnungen, Träume und sein Vertrauen verschwinden in der Dunkelheit. „Jetzt ist es dunkel um mich.“
Von nun an lebt Mourad isoliert. Sein Zimmer ist die einzige barrierefreie Räumlichkeit. Die Erinnerungen an früher verändern sich. Sie sind noch da, aber sie verlieren zunehmend an Bedeutung. Seine einzige Hilfe ist seine Mutter. Und das schmerzt. Nicht mehr selbstständig handeln zu können, schmerzt. Auf Hilfe angewiesen zu sein, auch wenn es die eigene Mutter ist – oder gerade, weil es die Mutter ist – schmerzt. Der Schmerz sitzt tief. So tief, dass Mourad in eine Depression verfällt. Er weiß, dass er nie wieder Fußball spielen kann, und er weiß, dass sein Leben von nun an anders sein wird – schwer und voller Hindernisse. „Aber ich habe mir vorgenommen, nicht nur der blinde Junge aus dem kleinen marokkanischen Dorf zu bleiben“, versprach sich Mourad. Und er hat sein Versprechen gehalten.
„Sie müssen mit der Tastenkombination die Datei abspeichern, bevor Sie weiter an dem Programm arbeiten können“, erklärt Mourad seiner Kundin Frau W., während er geduldig und routiniert die Kombination auf seiner Blindentastatur eingibt. Frau W. macht es auf ihrer Tastatur nach. Sie kann im Gegensatz zu Mourad sehen. Mourad arbeitet als Fachberater für Integration. Mit seiner Arbeit unterstützt er Menschen mit Sehbeeinträchtigungen oder anderen körperlichen Behinderungen, indem er Sprachtrainings und Programmierarbeiten am Computer anbietet. Mourad Louloud verbringt sechs bis sieben Stunden pro Tag bei seinen Kunden. Zusätzlich bietet er telefonische Beratungen an. Zu seinen Aufgaben gehört auch administrative Arbeit, wie das Erstellen von Tätigkeitsnachweisen und Berichten. Bei allem, was zu schwer für ihn ist oder zu viel Zeit in Anspruch nimmt, unterstützt ihn sein Arbeitsassistent – etwa bei Post- oder Schriftverkehr, der nicht mit Sprachsteuerung bearbeitet werden kann. Mourad nimmt auch regelmäßig an Schulungen teil.
Doch damit nicht genug. Mourad hat einen Masterabschluss in Arabistik mit dem Schwerpunkt „Übersetzungen Deutsch-Arabisch, Arabisch-Deutsch“ und einen C1-Abschluss am Goethe-Institut Mannheim/Heidelberg. Er arbeitet als Dozent für arabische Literatur an der Universität Marburg und hat an Weiterbildungsprogrammen im Bereich Kommunikation teilgenommen. All diese Qualifikationen kann der 36-jährige Mourad Louloud vorweisen.
Doch sein Weg war nicht einfach. „Ich musste viele Hürden überwinden, bis ich hier angekommen bin“, erinnert er sich. In seiner schulischen und akademischen Laufbahn in Marokko war er der Einzige mit einer Sehbehinderung. Alle Hilfsmittel, um seinen Alltag zu bewältigen, musste er sich selbst beibringen und organisieren. „Ich musste wildfremde Menschen fragen, ob sie mich bis zur Schule oder Universität begleiten“, erzählt Mourad. Dabei wirkt er angespannt, vielleicht auch ein wenig traurig. In der Uni hat er dann die Vorlesungen auf einen Kassettenrekorder aufgenommen und sie zu Hause so lange abgespielt, bis er alles auswendig konnte. Er lächelt. Nach seinem Abschluss erhielt Mourad die Gelegenheit, nach Deutschland zu kommen. Für ihn war das ein großer Schritt: ein Schritt zu mehr Selbstständigkeit und weiterer Bildung. Er nutzte diese Gelegenheit – mit einem Kassettenrekorder zum Masterabschluss.
„Ich habe den Jackpot geknackt!“, lacht Mourad. Als Muslim in Deutschland habe er es schon schwer, und blind zu sein, sei eine zusätzliche Herausforderung. „Naja, wenigstens sehe ich die Leute ja nicht“, scherzt er weiter. Er sei schon oft als „behinderter Muslim“ beschimpft worden und habe auch rassistische Gewalt erlebt. Für ihn müsse die Gesellschaft viel mehr sensibilisiert werden. Der Kontakt mit Menschen mit Beeinträchtigungen werde oft vermieden. „Wir sind keine Mutanten, sondern nur Menschen, die in einigen Bereichen beeinträchtigt sind.“ Inklusion müsse im Kopf beginnen, bevor man barrierefreie Räume schafft, sagt er: „Solange Barrieren in den Köpfen der Menschen vorhanden sind, ist die Barrierefreiheit beim Bahnfahren noch lange kein Erfolg.“
Auch unter Muslimen müsse noch viel getan werden. „Während der Predigt versucht man mir oft den Inhalt zu erklären – so, als würde ich ihn nicht verstehen.“ Blind zu sein bedeutet nicht gleichzeitig, eine kognitive Einschränkung zu haben. „Und wenn die Leute in der Moschee dann sehen, dass ich ab und zu die Predigten halte, sind sie ganz verwirrt.“ Die Moscheen würden nur langsam ihre Türen für Menschen mit Beeinträchtigungen öffnen, die Räumlichkeiten umgestalten und den barrierefreien Zugang vereinfachen. „Ich habe das Recht, wie alle anderen Muslime die Moschee zu besuchen, meine Gebete zu verrichten und meinen Glauben bestmöglich auszuleben“, sagt Mourad. „Denn ich bin nicht nur der blinde Muslim!“