Fatwa-Räte

Von der individuellen zur kollektiven Fatwa

Das moderne Leben bringt viele Fragen mit sich – auch für Muslime. Daher haben sich sog. Fatwa-Räte gegründet. Warum es diese gibt und wie sie funktionieren, erklärt IslamiQ-Redakteur Muhammed Suiçmez.

07
05
2017
Fatwa, internationale Fatwa-Räte
Fatwa, internationale Fatwa-Räte © flickr / CC 2.0 / by Rémi Mathis, bearbeitet IslamiQ

In der Zeit nach dem Propheten war es üblich, dass die Menschen bei Problemen und religiösen Fragen einen Mudschtahid um Rat gebeten haben. Denn der Mudschtahid ist aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung zum Idschtihad befähigt, kann also eigenständig bindende Urteile erlassen. Hierfür muss der Mudschtahid über umfassende sprachliche Fertigkeiten, Kenntnisse der Quellen, der Methoden und juristischen Standardwerke verfügen.[1]

Heute ist die Lage etwas komplexer, das moderne Leben ist vielschichtiger. Das führt dazu, dass heutzutage Rechtsgutachten nicht mehr von einzelnen Personen erteilt werden können, weil es kaum möglich ist, dass eine Person all das benötigte Wissen erwerben kann, um zu einem angemessenen Urteil zu gelangen. Daher ändert sich die Praxis dahingehend, dass muslimische Gelehrte und Wissenschaftler nun in Gremien, auf Symposien oder Konferenzen zusammenkommen, um religiöse Angelegenheiten zu diskutieren und daraufhin eine gemeinsame Erklärung als Fatwa abgeben. Diese Methode wird als „kollektiver Idschtihad“ bezeichnet.

Beratung zur Zeit des Propheten

Die Methode des „kollektiven Idschtihads“ ist nicht etwas gänzlich Neues, wenn man etwa die Praxis der gegenseitigen Beratung zur Zeit des Propheten und unter den Prophetengefährten als eine Form des „kollektiven Idschtihads“ wertet. Auch im Koran wird die Beratung an zwei Stellen empfohlen: „(…) Darum vergib ihnen und bete für sie um Verzeihung und ziehe sie in der Sache zu Rate, aber wenn du einmal entschlossen bist, dann vertraue Allah; siehe Allah liebt die Ihm Vertrauenden“[2], „Und die auf ihren Herren hören und das Gebet verrichten und deren Angelegenheiten gegenseitiger Beratung ist und die von dem, womit Wir sie versorgten, spenden“[3]. Ausgehend von diesen beiden Koranversen könnte man meinen, dass die Beratung bei Fatwa-Angelegenheiten schon von Anfang an Teil dieses Prozesses gewesen ist. Häufig wird deshalb die Beratungspraxis zur Zeit des Propheten und vor allem der rechtgeleiteten Kalifen erwähnt, um die Praxis des kollektiven Idschtihads bis in die Frühzeit des Islams zurückführen. Diese Praxis habe sich ununterbrochen bis heute fortgesetzt.

Eine ganz neue Qualität erreichte dieser Prozess jedoch mit der Entstehung von Nationalstaaten in der muslimischen Welt, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg und der Gründung staatlicher oder transnationaler Fatwa-Institutionen. Hierbei kann vom „kollektiven Idschtihad“ neuer Prägung gesprochen werden, der sich von der Praxis in der Frühzeit des Islams deutlich unterscheidet.[4] In diesen Institutionen werden zeitgenössische Themen und Fragen der Muslime diskutiert und beantwortet. Diese Methode steht für eine neue und zeitgenössische Art der Fatwa-Gebung durch die Nutzung des „kollektiven Idschtihads“.

Doch wie funktioniert ein solcher Fatwa-Rat? Wie und nach welchen Kriterien werden Entscheidungen getroffen? Und inwiefern unterscheidet sich diese Form der Fatwa-Praxis von der Individual-Fatwa?

Die Fatwa als Empfehlung für den Gläubigen

Die Fatwa ist ein schriftliches oder mündliches Rechtsgutachten eines islamischen Gelehrten (Mudschtahid/Mufti) zu einem Sachverhalt eines Ratsuchenden. Eine Fatwa ist nicht mit einem Gerichtsbeschluss gleichzustellen, denn dieser ist bindend im Gegensatz zu einer Fatwa. Die Fatwa ist eine auf die spezifische Situation des Gläubigen zugeschnittene Empfehlung, die er sich zu Herzen nehmen kann und in der Regel auch annimmt, da er schließlich nicht die Kompetenz dazu besitzt.

Die Entwicklung und stetige Änderung der modernen Gesellschaft führte zu Ungewissheit in religiösen Angelegenheiten und zu unklaren religiösen Handlungen, die eine Gründung von Fatwa-Gremien und Räten als eine unvermeidliche Notwenigkeit ansah. Somit wurden u.a. in der Türkei der Fatwa-Rat der türkischen Religionsbehörde Diyanet, in Ägypten das Ägyptische Fatwa-Amt, in Saudi-Arabien jeweils die islamische Weltliga (auch unter dem Namen Muslim World League bekannt) und die islamische Rechtsakademie der Organisation für islamische Zusammenarbeit, und der Europäische Rat für Fatwa und Forschung in Dublin und der IGMG Gelehrtenrat in Deutschland gegründet. Dies sind einige von mehreren Fatwa-Institutionen weltweit. Ziel dieser Institutionen ist es, wissenschaftliche Arbeiten des islamischen Rechts zu fördern und die zeitgenössischen Probleme der Muslime, durch die Nutzung des kollektiven Idschtihads, zu lösen.

Arzt-Patient-Beziehung

Imam Schafiî beschreibt die Beziehung zwischen einem Mufti und dem Ratsuchenden als eine Arzt-Patient-Beziehung. Der Ratsuchende ist wie ein Patient, der seine Genesung sucht. Deshalb muss sich der Mufti, wie ein Arzt, beim Fatwa-Erlassen den Zustand und die Absicht des Ratsuchenden vor Augen halten.[5] Die genannten Institutionen haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Rolle des Arztes zu übernehmen und den Muslimen in den unterschiedlichen rechtlichen Angelegenheiten auszuhelfen.

Die beschlossenen Fatwas dieser Sitzungen werden protokolliert teilweise auch publiziert. Die Anzahl, der in den Gremien sitzenden Gelehrten ist sekundär. Es herrscht die einfache Regel: je mehr Gelehrte, desto bessere Ergebnisse. Primär beim „kollektiven Idschtihad“ ist, dass sich alle bzw. die Mehrheit der Gelehrten auf ein Ergebnis (Fatwa) einigen.[6]

Der Islam ist nicht wie das Christentum organisiert, indem er einer autoritären Instanz untergeordnet ist. Deshalb sind die erlassenen Fatwas einer Institution oder eines Mudschtahids eine -sorgfältig begründete und wissenschaftlich untermauerte- Empfehlung, aber kein bindendes Rechtsurteil.

[1] Jörg Schlabach, Scharia im Westen: Muslime unter nicht-islamischer Herrschaft und die Entwicklung eines muslimischen Minderheitsrechts für Europa, Berlin 2009, S. 27.

[2] Sure Âli Imrân 3:159, übersetzt von Max Henning.

[3] Sure Schûrâ 42:38), übersetzt von Max Henning.

[4] Jörg Schlabach, Scharia im Westen, Berlin 2009, S. 27.

[5] Fahrettin Atar, „Fetva“, Ankara 1995, S. 493.

[6] Mustafa Bülent Dadaş, ,,Bir fetva belirleme yöntemi olarak heyet içtihadi Ve İslam dünyasında bu amaçla kurulan fıkıh meclisleri“ in bilimname XXVIII, 2015/1, S. 313.

 

Leserkommentare

Charley sagt:
"Der Islam ist nicht wie das Christentum organisiert, indem er einer autoritären Instanz untergeordnet ist. Deshalb sind die erlassenen Fatwas einer Institution oder eines Mudschtahids eine -sorgfältig begründete und wissenschaftlich untermauerte- Empfehlung, aber kein bindendes Rechtsurteil." Nun, das "Unfehlbarkeitsdogma" des Katholizismus ist ein Elend, aber für die allermeisten Christen irrelevant. Ob ein instanzliches Urteil Macht hat oder nicht hängt nämlich vor allem von der Fähigkeit des Einzelnen zum individuellen Denken und Urteilen ab! Und da dreht sich bei genauerer Betrachtung das obige Urteil um. Die Sicherheit, die viele Moslems haben, wenn sie an die "5 Säulen" glauben, wenn sie sich mit "Kopftuch und Schweinefleischverweigerung" schon halb im Paradies wähnen, beruht gerade darauf, dass man das eigene Nicht-Denken bei der Übernahme dieser Vor-Urteile nicht bemerkt, weil man es als "gott"-gegeben hinnimmt. Auch ein "Herleiten" dieser Ecksteine der Religion aus "dem Koran" ist eine Illusion! Nichts ist damit gesagt, weil der Koran auch von menschlicher Hand geschrieben wurde... das Problem wird nur immer verlagert! Und jegliche Aussage einer Autorität, die man dieser abnimmt, bestärkt das eigene Nicht-Denken. Das Christentum charakterisiert sich vielleicht am besten im Schweigen des Christus auf die Frage von Pilatus: "Was ist Wahrheit?" Man könnte das Schweigen auch übersetzen mit: "Du musst es sagen!"
07.05.17
17:57
Renox sagt:
Selber autonom werden ist besser als immer nur auf selbsternannte Autoritären hören. Man kann auch ohne Fatwa-Räte sinnvoll und gottergeben leben, handeln und wirken.
18.05.17
15:46
Mehmet sagt:
Es ist das Natürlichste, dass es Muftis und Mudsctahids, sowie Rechtsanwälte und Rechtsberater gibt. Es ist auch natürlich, dass sie sich auf einige Felder spezialisieren. Schließlich kann man sich nicht in allen Rechtsbereichen gleichermaßen gut auskennen. Dann ist es auch natürlich, dass mehrere Rechtler sich in Kanzleien bzw. AGs zusammen tun und gemeinsam nach Lösungen suchen. Soweit ich weiß, haben nicht alle in Deutschland lebende Menschen Jura studiert und sind somit angewiesen auf Rechtsberater und -anwälte, auch wenn sie so gern selber autonom sein würden.
23.05.17
23:57
Charley sagt:
@Mehmet: Sie vergleichen Äpfel mit Birnen. 1.) Das Rechtssystem in Deutschland ist bindend für alle hier Lebenden. 2.) Es beruft sich nicht auf "göttliche Offenbarung", die dann intellektuell extrapoliert wird! zu 1.) Die Fatwa ist eher eine Beratung, insofern sie nur bindend ist, wenn derjenige die Autorität des Fatwa-Erteilenden bejaht! 2.)Eine Fatwa wird aus religiösem Hintergrund gegeben und ist insofern eine ethische Orientierung! Damit spricht der Mustaftī dem Mufti die ethisch-religiöse Urteilskompetenz zu, die er sich selbst nicht zuspricht. Macht hat so ein Urteil nur soweit, als dass die persönliche Autorität des Urteilenden reicht. Es gibt kein Unfehlbarkeitsdogma in der islamischen Welt. Schön ist es, dass es als "Beratung" scheinbar freilassend ist, entsetzlich ist es, dass man für seine "Orientierung vor dem göttlichen Maßstab" "Fachleute" braucht. Wenn der Mensch sich nicht selbst finden kann vor dem Göttlichen, auch wenn er dabei "irrt", wie der Mufti übrigens auch "irren" kann, dann gibt er seine moralische Selbstverantwortlichkeit ab. Das ist genauso erbärmlich wie das katholische Beichtsakrament! Letzteres ist wirklich rein ethisch-moralisch zu verstehen, jenseits aller Gesetzeskultur. Zudem geschützt durch das Beichtgeheimnis. Weil der Islam sich ständig auch als maßgeblich in den äußeren Lebensverhältnissen versteht (und insofern gar nicht unpolitisch sein kann!), wird hier äußeres Gesetz (welches ein Gemeinwesen braucht) und religiöse Orientierung verknotet zu einem menschlich unerträglichen "gordischen Knoten", der die Freiheit des Individuums nicht kennt oder überhaupt achtet!
26.05.17
11:55