Literatur

Was Muslime von Schiller lernen können

Muslime widmen sich den Geistesgrößen, die das Abendland prägten. Einer davon ist Friedrich Schiller. Ahmet Aydın stellt den deutschen Dichter und Denker vor und zeigt Lehren auf, die Muslime aus seinem Wirken ziehen können.

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Statue von Friedrich Schiller © shutterstock, bearbeitet by islamiQ
Statue von Friedrich Schiller

Das Leben des Mannes, der zu einem Dichterfürsten Deutschlands wurde, begann mit dem Traum von Freiheit. Der junge Schiller schrieb das Theaterstück „Die Räuber“ während seines Aufenthalts in der Karlsschule in Stuttgart. Es ist das Werk, das ihn berühmt machte in Deutschland. Es wurde 1782 in Mannheim uraufgeführt und die Gefühle des Publikums wurden dermaßen ergriffen, dass es sich in den Armen lag. Der Inhalt des Stückes galt als zu rebellisch, zu aufrührerisch.

Karl Eugen, der Herrscher des Fürstentums, in dem sich Schiller befand, verhängte eine 2-wöchige Haftstrafe. Schiller musste in den Kerker und ihm wurde ein Schreibverbot erteilt. Selbst beschreibt er seine Gefühle während dieser Zeit wie folgt:

„Neigung für Poesie beleidigte die Gesetze des Instituts, worin ich erzogen ward, und widersprach dem Plan seines Stifters. Acht Jahre rang mein Enthusiasmus mit der militärischen Regel; aber Leidenschaft für die Dichtkunst ist feurig und stark, wie die erste Liebe. Was sie ersticken sollte, fachte sie an. Verhältnissen zu entfliehen, die mir zur Folter waren, schweifte mein Herz in eine Idealenwelt aus […].“ (aus: Ankündigung der Rheinischen Thalia, 1784)

Die Politik seiner Zeit verhinderte, dass Schiller seine Talente frei ausleben durfte. Das auferlegte Verbot führte jedoch nicht zur Beseitigung der Leidenschaft für die schöngeistige Literatur. Ganz im Gegenteil. Gefühle, die niemandem Unrecht tun, aber vom damaligen Herrscher als Gefahr wahrgenommen wurden, verschwanden nicht einfach so. Sie drangen nach Ausdruck. Weil Schiller schreiben wollte, ohne ständig befürchten zu müssen, in einen Kerker gesperrt zu werden, floh er aus Stuttgart.

Er hatte Potenzial, wurde in einer Rezension der Räuber gar als der kommende deutsche Shakespeare bezeichnet, doch lebte von der Hilfe anderer Menschen. Friedrich Schiller war ein innerdeutscher Flüchtling. Die Literatur war sein sicherer Hafen, an dem er sich erholen und Kraft schöpfen konnte. Dies dauerte an bis zur Anstellung in Jena als Professor. Das regelmäßige Einkommen ließ zumindest Lebensplanung zu, denn Schiller wollte heiraten. Das tat er. Seine Frau unterstützte ihn in seinen literarischen Bemühungen und seinem Lebenskampf. Schiller kämpfte für die Bildung der Gesellschaft. Er wollte wie Wieland, Herder und Goethe dazu beitragen, dass Deutschland einen Beitrag zur Entwicklung der Kultur leistet. Finanzielle und auch gesundheitliche Probleme, mit denen er zu kämpfen hatte, konnten ihn zeitlebens nicht aufhalten, am Projekt der Kulturentwicklung zu arbeiten.

Es ist allgemein bekannt, was der Arzt, der Schillers Leichnam 1805 obduzierte, über ihn sagte. Der Körper war in einem so miserablen Zustand, dass man sich bei „diesen Umständen“ sehr „wundern“ müsse, „wie der arme Mann so lange hat leben können.“ Schiller hatte diese Frage selbst in seiner Theater-Trilogie „Wallenstein“ beantwortet. Dort heißt es: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut.“

Schiller und Goethe

Schillers Geist strebte nach immer Höherem. 1794 begann die Freundschaft mit Goethe und dauerte mal intensiver, mal weniger intensiv bis zu seinem Tod elf Jahre später an. Sie waren teilweise gegensätzlich, ergänzten sich, inspirierten sich und beflügelten einander zu schöpferischen Werken. Schiller besprach seine Werke mit Goethe und sogar Goethe sprach mit Schiller über seinen entstehenden Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Über Werke zu sprechen, während sie noch entstehen, war nicht Goethes eigentlicher Charakter. Dies zeigt, wie sehr sie dem Urteil des anderen vertrauten auf dem Gebiet der Kunst und Kultur. Diese sahen sie als Bollwerk an gegen die politischen Miseren der deutschen Fürsten in der Weltpolitik. Deutschland war nicht geeint. Es bestand aus zu vielen verschiedene und kleinen Fürstentümern. Während die anderen europäischen Herrscher ihre Schiffe auf den Ozean sandten und kolonialisierten, traten Deutsche international das erste Mal mit kulturell auf, durch Dichter wie Wieland, Herder, Goethe und Schiller. Die deutsche Sprache wurde aufgewertet durch ihr Wirken.

Schillers Lebensprojekt: Menschen kultivieren

Schillers Ansinnen war es jedoch nicht bloß Werke zu schreiben, um sie geschrieben zu haben und Eindruck auf andere Menschen und Nationen zu machen. Solche niederen Absichten sind die Sache von „Brotgelehrten“, wie sie Schiller nennt in seiner eindrucksvollen Antrittsvorlesung in Jena. In dieser erfahren wir, was ein Mensch nicht sein darf, wenn er zu den kultivierten und zivilisierten Menschen gemäß Schiller gehören möchte: „Wer ist unglücklicher als der Brotgelehrte? Er hat umsonst gelebt, gewacht, gearbeitet; er hat umsonst nach Wahrheit geforscht, wenn sich Wahrheit, für ihn nicht in Gold, in Zeitungslob, in Fürstengunst verwandelt.“ Nicht für die Entdeckungen von Wahrheiten zu arbeiten, erachtet Schiller als niederträchtig. Er ist der Feind politischer Ideologien, die nur fördern, was ihren persönlichen Interessen dient. Erkenntnis einer Wahrheit solle der Lohn sein. Menschen, die dies nicht als Erfolg ansehen, seien charakterlich verdorben. Dies drückt sich eben darin, dass die sogenannten „Brotgelehrten“ nur „fremde Anerkennung“, „Ehrenstellen“ und finanzielle „Versorgung“ als Erfolg ansehen. Wenn das Schreiben von Büchern, das Betreiben von Wissenschaft oder die Hervorbringung von Kunst kein Geld einbringt, seien sie wertlos. Gegen diese Ansichten rebelliert Schiller. Solche Menschen seien bloß Sklaven anderer Menschen. Solche Menschen seien nicht frei.

Schiller hat im Fürstentum Weimar-Eisenach relative politische Freiheit erlangt. Er durfte freier schreiben als unter dem Fürsten Karl Eugen. Damit allein war für Schiller der Lebenssinn nicht erfüllt. Schiller stellte sich die Frage, warum Menschen, trotz der Aufklärung des Verstandes, noch immer „Barbaren“ seien. Diese Frage stellt er in seiner philosophischen Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Und er belässt es nicht bei der Frage. Er überlegt, wie er selbst zur Kultivierung der Gesellschaft beitragen kann. Kultivierung meint eine Verbesserung des Charakters. Mehr Güte und auch mehr Mut, mehr Freundlichkeit und auch Förderung von Kreativität der Menschen, damit mehr sich am Projekt der Kulturentwicklung beteiligen.

Die Aufgabe der Kunst und Kultur sei es, einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich die Menschen zu reiferen, kulturelleren Menschen ausbilden. Dies schrieb Schiller nicht nur und forderte es von anderen. Er trank das Wasser, das er predigte selbst. Goethe sagt über Schiller nach dessen Tod: „Alle acht Tage war er ein anderer und vollendeterer; jedes Mal, wenn ich ihn wiedersah, erschien er mir fortgeschritten in Belesenheit, Gelehrsamkeit und Urteil.“ Schiller lebte selbst aus, was er von anderen wünschte und forderte. Er war selbst der Kulturmensch, den er in anderen erwecken wollte.

Notwendigkeit zur Bildung

Schiller fragt nicht bloß nach dem Produkt. Er fragt, welche Wirkung ein Werk auf den Menschen macht. Kultiviert es oder barbarisiert es? Das ist es, was Schiller interessiert. Damit das Kultivierende jedoch von breiten Bevölkerungsschichten konsumiert wird, müsse es unterhaltend dargestellt werden. So inszenierte Schiller seine herausgegebenen Zeitschriften regelrecht und passte sein Auftreten, ohne sich jedoch zu verstellen, seinem Publikum an. Für Philosophen schrieb er etwa philosophische Abhandlungen und für die Bevölkerung, die nicht lesen und schreiben konnte, schrieb er Theaterstücke. Darin drückt sich sein Genie aus.

Trotz finanzieller Not und Missstände im Privaten, ja sogar trotz gesundheitlicher Schwierigkeiten engagierte sich Schiller für das Wohl der Gesellschaft. Er wollte in Menschen den göttlichen Funken wecken. Dieser göttliche Funken drückt sich dadurch aus, dass wir nicht bloß zum Essen, Trinken und Schlafen leben; sondern auch Zeit investieren für bewusstes Engagement in der Gesellschaft.

Dazu gehört es, die Entwicklung des eigenen Charakters niemals, außer Acht zu lassen. Die Notwendigkeit zur Bildung hört niemals auf, doch Bildung ist nicht bloß Seminare und Workshops zu besuchen. Das ist nur ein Teil. Bildung ist auch, sich zu belesen, nachzudenken, Ideen zu entwickeln und Werke in jeglicher Form hervorzubringen, die dazu beitragen, dass andere Teile der Gesellschaft sich bereichert fühlen, etwas Neues lernen, beim Anblick sagen: Das ist schön!

Schiller für Muslime

Die Arbeit am eigenen Charakter wird niemals abgeschlossen sein. Als Muslim ist es eine Pflicht beständig Vorurteile in uns abzubauen, regelmäßig gelehrter zu werden und Charaktereigenschaften wie Geduld und Standhaftigkeit zu entwickeln. Diese Prinzipien finden sich im Koran und der Sunna und das Leben zahlreicher muslimischer Gelehrten ist uns ein Beispiel dafür. Schiller suchte diese guten Eigenschaften zu entwickeln. Er sah die Missstände der Gesellschaft, doch beschwerte sich nicht bloß stumpf. Er schrieb Werke und stellte die Missstände auf kreative Art und Weise dar. Schiller fürchtete sich nicht davor zu sagen, dass große Teile der Gesellschaft trotz Aufklärung noch barbarisch sei. Er hatte den Mut, diese Wahrheiten auszusprechen.

Wenn wir Begriffe der muslimischen Geistesgeschichte verwenden, können wir sagen, dass es der Dschihad Schillers war, sich einerseits zu einem Menschen zu entwickeln mit vorzüglichen Charaktereigenschaften. Andererseits gesellschaftlich zu wirken und teilzunehmen am öffentlichen Leben, um zur Verbesserung gesellschaftlicher Missstände beizutragen. In Schillers Leben vollzog sich keine Trennung. Er saß in keinem Elfenbeinturm. Er zog sich zeitweise zurück, um dann wieder hinauszutreten. Das ist vorbildlich.