Das Ehepaar Monika und Udo Tworuschka beschäftigt sich seit Jahren mit dem Islam in Deutschland. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit ihnen über ihre Arbeit und über die aktuelle Lage der Muslime.
IslamiQ: Frau und Herr Tworuschka. Gemeinsam oder einzeln schreiben Sie seit langen Jahren u. a. Bücher über den Islam und den Koran. Warum sind Ihnen diese Themen so wichtig?
Monika Tworuschka: Daran, dass sich mein Interesse an Religionen schon früh vorwiegend dem Islam zuwandte, mag meine intensive Karl May-Lektüre nicht unschuldig sein. Insgesamt verdanke ich Mays sechs Orientbänden (von „Durch die Wüste“ bis „Der Schut“) ein gewisses islamisches Grundwissen. Dieses musste ich allerdings zum Teil in meinem späteren orientalistischen Studium revidieren. In meiner Jugend tröstete ich mich mit Karl May darüber hinweg, dass in meinem gesamten gymnasialen Religions- und Geschichtsunterricht nichtchristliche Religionen kaum vorkamen.
Im Alter von 15 Jahren wurde meine Beschäftigung mit dem Orient in neue Bahnen gelenkt. Die Lektüre von Thomas Edward Lawrence‘ autobiographischem Erlebnisbericht des arabischen Aufstands (1916-18) „Seven Pillars of Wisdom“ (1926) weckte nicht nur mein Interesse für die Kolonialgeschichte, den arabischen Befreiungskampf sowie die Ursachen des Nahostkonflikts. In jener Zeit meiner Lawrence-Begeisterung wurden wohl auch die Grundlagen dafür gelegt, dass ich mich nicht nur für das Studium der Islam- und Religionswissenschaft, sondern auch Politikwissenschaft entschied. Als mein Vater 1967 tödlich verunglückte, begann ich, mir selbst Arabisch beizubringen, um mich etwas von meiner großen Trauer abzulenken. Doch der Auseinandersetzung mit der arabischen Sprache folgte sehr schnell die Erkenntnis, dass mich in erster Linie der politische zeitgenössische Nahe Osten fesselte.
Udo Tworuschka: Folgenreich waren meine Begegnung mit dem iranischen Muslim und Kölner Islamwissenschaftler Prof. Dr. Abdoldjavad Falaturi (1926-1996). Ich suchte ihn Anfang der 1980er Jahre in seiner kurz vorher gegründeten Kölner „Islamischen Wissenschaftlichen Akademie“ auf, wollte ihn für ein religionspädagogisches Forschungsprojekt gewinnen. Falaturi war von dieser Idee angetan, und so entstanden im Laufe der nächsten 15 Jahre zwei renommierte und einflussreiche Forschungsprojekte: „Der Islam in den Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland“ und das Europaprojekt „Islam in textbooks“. Meine Beziehungen zu Islam und Muslimen sind durch die 15-jährige Freundschaft mit dem fachlich und menschlich herausragenden Wissenschaftler, dessen Festschrift „Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident“ ich 1991 herausgegeben habe, wesentlich geprägt worden.
IslamiQ: Wie hat sich die Stimmung der deutschen Gesellschaft gegenüber Muslimen verändert?
Monika Tworuschka: Bevor wir unser Buch „Der Islam: Feind oder Freund. 38 Thesen gegen eine Hysterie“ (Herder Verlag, 2019) schrieben, hat mich vor allem die unsachliche Diskussion führender deutscher Politiker irritiert und wütend gemacht. In dieser Debatte wurde oft negiert, dass der Islam zu Deutschland gehört, und die islamischen Stränge der europäischen Geschichte wurden ausgeblendet.
Udo Tworuschka: Als wir unsere 38 Thesen schrieben, konnte die allgemeine Stimmung gegenüber dem Islam wohl kaum schlechter sein. Wieder einmal war ein Tiefstand erreicht, wie schon öfter vorher. Meine Frau und ich waren damals viel unterwegs, um aufgebrachten Menschen über den Islam und seine humanen Züge aufzuklären. Die drohten in der allgemeinen Aufregung nämlich komplett „unter den Tisch zu fallen“. 9/11, Karikaturenstreit in Dänemark und Charlie Hebdo: Immer wieder führten spektakuläre Ereignisse dazu, grundsätzlich alle Muslime für suspekt zu halten.
IslamiQ: Einer Ihrer Thesen lautet: „Der Islam ist keine Ideologie, sondern eine Weltreligion“. Also das Gegenteil von dem, was viele sogenannte Islamkritiker und -feinde behaupten.
Monika Tworuschka: Seitdem die Angst vieler Deutscher vor dem Islam zugenommen hat, sei es aus Furcht vor Überfremdung, aus Angst vor einer schleichenden Islamisierung, Terroranschlägen oder vor der Scharia, stellen immer mehr „Islamkritiker“ den Religionscharakter des Islams in Frage. Sie erklären den Islam kurzerhand zu einer „Ideologie der Macht“, einer „Gesellschaftsbewegung“, einem „politischen Konzept“, einer „politischen Ideologie“, einer „als Religion getarnten Ideologie“, ja sogar zu einer „faschistischen Ideologie“. Und wenn man nicht mehr weiterweiß, hilft die Pathologisierung des Definitionsobjektes: Anscheinend bedenkenlos wird der Islam zur „Geisteskrankheit“ erklärt. Selbstverständlich sind derartige Einschätzungen samt und sonders wissenschaftlich inakzeptabel. Es sind falsche Beschreibungen, polemische Wertungen auf der Basis einer schwachen Empirie und aufgrund willkürlich herausgegriffener Merkmale.
Udo Tworuschka: Als Vergleichender Religionswissenschaftler begegnet mir der Islam, wie Buddhismus, Christentum, Judentum u. a. zunächst einmal als Religion. Islam (die freiwillige „Hingabe an den einen Gott“) ist die Selbstbezeichnung einer Religion, genauer gesagt, einer monotheistischen Universal- oder Weltreligion. Wenn ich von der Welt– oder Universalreligion Islam spreche, drücke ich damit aus, dass diese Religion, wie andere Weltreligionen – zumindest tendenziell – gewillt ist, sich auf der ganzen Erde auszubreiten, um ihre prinzipiell an die ganze Menschheit gerichtete Heilsbotschaft mitzuteilen. Christen nennen dies Mission, Muslime sprechen von „Dawa“, dem „Ruf“ bzw. der „Einladung“ zum Glauben. Die Tendenz, sich ausbreiten zu wollen, ist also keine islamische Besonderheit, sondern konstitutives Merkmal jeder Weltreligion.
Der Islam versteht sich als die eine und wahre Religion. Diese Aussage klingt zunächst einmal anmaßend und überheblich. Doch muss sofort relativiert werden: Alle Universalreligionen behaupten dies von sich. Schließlich: Wer von „Islam“ spricht, muss Ross und Reiter benennen. Welcher Islam ist im Spektrum seiner ethno-kulturellen, sprachlichen und konfessionellen Vielfalt gemeint? Es ist eine Binsenweisheit: Den Islam gibt es ebenso wenig wie das Christentum, den Buddhismus oder das Judentum. Und zur Ideologie können alle Religionen werden.
IslamiQ: In Bezug auf die aktuellen Islamdebatten sprechen Sie von einer „Hermeneutik des Vertrauens“ und einer „Hermeneutik der Denunziation“. Was meinen Sie damit?
Monika Tworuschka: Der Rechtsruck in unserem Land ist die Folie, auf der unser Buch gelesen werden will. Wir wenden eine besondere Hermeneutik an, also eine spezifische Art des Verstehens. Dabei favorisieren wir eine „Hermeneutik des Vertrauens“: Wir wollen den Islam „in seinen starken Seiten zur Geltung bringen“, jedoch ohne seine schwachen zu verschweigen. Aber es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ich Schwächen in den Mittelpunkt rücke oder Stärken. Da uns an Verständigung, gutem Zusammenleben, Dialog gelegen ist, favorisieren wir diesen Verstehenszugang. Im Übrigen gehen wir so auch mit den Traditionen anderer Religionen um, die christlichen eingeschlossen.
Udo Tworuschka: Vor Blauäugigkeit, die man uns vorwirft, bewahrt uns eine „Hermeneutik des Verdachts“. Diese hat zwei Seiten. Die eine sollte man besser „Hermeneutik der Denunziation“ nennen. Diese halten wir für gefährlich und sozialschädlich. Viele der sogenannten Islamkritiker üben Zweifel an allem und jedem, glauben Aussagen prinzipiell nicht mehr, stellen ganze Menschengruppen unter Generalverdacht: die Juden, die Muslime, die Zigeuner, die Fremden. Sie machen oft aus Mücken Elefanten: Die schiitische Takiyya-Lehre, also die Erlaubnis, unter lebensbedrohlichen Umständen den eigenen Glauben zu verbergen und Menschen zu belügen, erheben sie zur allgemeinen islamischen Maxime. Sie behaupten, dass man Muslimen grundsätzlich nicht trauen kann, weil sie Andersgläubige anlügen dürfen. Als im katholischen Rheinland aufgewachsener Protestant glaubte ich als Kind tatsächlich, dass ein derartiges Verhalten typisch für Katholiken ist, weil sie ja anschließend wieder zur Beichte gehen… Dummer Unsinn, Vorurteil! Wir sind heute auf dem besten Wege dahin, eine Verdächtigungs-Gesellschaft zu werden. Das antiislamische Gift der Verdächtigung verbreitet sich immer weiter. Die „Hermeneutik der Denunziation“ ist fürchterlich und inhuman.
Die zweite Form der „Hermeneutik des Verdachts“ hat dagegen eine gesellschaftskritische, also positive Ausrichtung. Sie versetzt in die Lage, entschieden allen Hasspredigern entgegenzutreten, Frauenunterdrückung, Zwangsheirat, Verfolgung Andersgläubiger als das zu ächten, was sie sind: inhuman, asozial und böse.
IslamiQ: Islam und Deutschland. Für viele passt das nicht zusammen. Für Sie sind die Werte der islamischen Ethik mit der deutschen Kultur jedoch vereinbar.
Monika Tworuschka: Mehr als die Hälfte der „praktizierenden Christen“ in Deutschland sind laut einer Studie der Ansicht, dass der Islam nur schwer mit der deutschen Kultur und deutschen Werten vereinbar ist. Dem Islam aber eine am Wohl des Menschen orientierte Ethik abzustreiten heißt, die Wahrheit auf den Kopf zu stellen. Schon aus dem Glauben an den einen Gott ergibt sich ein Berg ethischer Gemeinsamkeiten mit dem Christentum. Dazu zählen: Liebe, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, die Verpflichtung, an der Seite der Armen und Bedrückten zu stehen, gegen die Reichen und Ausbeuter. Christen sind überzeugt, dass Gott „Liebe“ ist, Muslime vertrauen seiner „Barmherzigkeit“. Dem christlichen Gebot der Nächstenliebe entsprechen die islamischen Gebote der Brüderlichkeit und Gastfreundschaft: „Die wertvollste aller Handlungen ist für Gott zu lieben.“ „Ihr könnt nicht ins Paradies, ohne zu glauben, und ihr könnt nicht glauben, ohne einander zu lieben.“ Der Koran bringt es auf die schöne Formel: „Wetteifert miteinander um das Gute und die gegenseitige Hilfe.“
Udo Tworuschka: Der Sittenkodex mit den ethischen Vorstellungen des Islams lehrt die Disziplin Ahlâk, die Lehre von „Tugend und Moral“, und Adab, das „richtige Benehmen“, die „guten Manieren“. Die Läuterung des Herzens spielt eine ebenso wichtige Rolle wie das Gottesgedenken. Von folgenden Handlungen rät der Koran ab: Götzendienst, Mord, Verleumdung, üble Nachrede, Unzucht, Spott, Neid, Lüge, Hochmut und Stolz, Heuchelei, Tyrannei, Verschwendung, Alkohol und Glücksspiel. Zum anständigen Verhalten zählt der Koran: Ehrlichkeit, Selbstprüfung, Geduld, Nachsicht und Vergebung, Bescheidenheit und Demut, einfacher Lebensstil, Genügsamkeit, Nächstenliebe. Im sozialethischen Bereich spielt das Maslaha-Prinzip eine Rolle, das „allgemeine Interesse“, das Religion, Leben, Nachkommenschaft, Besitzes erhalten soll. Übrigens haben die Muslime in Deutschland in den letzten Jahren ein bemerkenswertes zivilgesellschaftliches Potential entwickelt.
IslamiQ: Herr Tworuschka, Sie sind Mitherausgeber des „Handbuchs der Religionen“ (HdR), das seit 1997 vierteljährlich ergänzt wird. Mit welcher Motivation erschien dieses Werk und welche Bedeutung hat es heute?
Udo Tworuschka: Ich sage es nicht ohne Stolz: Nach inzwischen bald 24 Jahren hat das Loseblattwerk HdR, das ebenfalls online erscheint, ca. 8000 Seiten und umfasst zehn Bände. Jährlich erscheinen vier Ergänzungslieferungen mit insgesamt 700 Seiten. Die beiden Herausgeber – alte Kollegen und Freunde aus Kölner Uni-Zeiten, bevor ich nach Jena berufen wurde –, eine Team von über 20 Facheditoren sowie hunderte Autoren haben ein interdisziplinäres und interreligiöses Handbuch geschaffen, das umfassend über Geschichte und Gegenwart der im gesamten deutschsprachigen Bereich vertretenen Religionsgemeinschaften (einschließlich Adressen, Webauftritten usw.) informiert und ihre Kernaussagen und Autoritäten, Organisationen, Verbreitung, Glaubenspraxis sowie ihr Verhältnis zum Staat und zu anderen Religionen reflektiert.
Mein Anliegen war und ist, dass alle, die sich professionell oder aus einer persönlichen Leidenschaft heraus mit dem Thema Religion/en beschäftigen – Theologen, Geistliche, Religionslehrer aller Religionstraditionen sowie Publizisten und Journalisten – ein profundes Informatorium mit soliden Beiträgen ausgewiesener Fachwissenschaftler zur Verfügung haben.
Ich sage einmal selbstbewusst: Gerade in der heutigen Zeit, in der so viel über das Thema Religion debattiert wird und zugleich der allgemeine Kenntnisstand darüber spürbar sinkt und manche sogar von „religiösem Analphabetismus“ sprechen, sollte das „Handbuch der Religionen“ bei jedem im Regal stehen oder auf den Bildschirm geholt werden können, der mitreden will.
Das Interview führten Kübra Layık und Muhammed Suiçmez.