#RAMADANBRIEFE

„Ich vermisse die alten Ramadan-Monate mit dir“

Ramadan ist für viele Muslime eine Zeit der Gemeinschaft und Nähe. Wegen Corona heißt es dieses Jahr jedoch: Abstand halten. IslamiQ-Leser halten ihre Gefühle in Ramadan-Briefen fest. Heute Esra Özgür an ihre verstorbene Oma.

27
04
2020
0
Ramadan-Briefe
Ramadan-Briefe © Hatice Başkaya, bearbeitet by iQ

Liebe Oma,

heute ist der erste Tag des Ramadan und der Klang deiner Stimme ist in meinen Ohren. Du rezitierst den Koran und schaust ab und an zu der Wanduhr hoch, die links neben der Wohnzimmertür hängt. Unter ihr ist ein Ramadan-Kalender mit Gebets- und Fastenzeiten an die Wand gepinnt. Deine Brille liegt tief auf den Nasenflügeln, sodass du nah und fern gleichermaßen gut erkennen kannst, wenn du über die Brille guckst. Gleich geht es in die Moschee, um gemeinsam mit der Gemeinde zu beten und an dem Koranvortrag des Imams teilzunehmen. 

Weitere Beiträge zu den Ramadan-Briefen: Ramadan in Corona-Zeiten: Ein Brief an unsere Leser

„Hast du dich schon gewaschen?“, fragst du mich. „Ja, Oma!“, sage ich fröhlich und selbstsicher. Dieses Jahr darf ich das erste Mal mitfasten. Ich bin aufgeregt und meine Brust ist mit Stolz erfüllt. „Dann müssen wir los“, sagst du und fügst hinzu: „Zieh deine Handschuhe und Mütze an, und vergiss den Schal nicht! “ Es ist Winterzeit und die Tage sind kurz. Der kalte Wind schlägt gegen mein Gesicht und ich kann meinen warmen Atem sehen. In meinen Händen halte ich den Koran wie einen Schatz umklammert und mache große Schritte in Richtung Moschee, während der Boden unter meinen Füßen zu Eis gefroren ist. 

Das bunte Gemeindeleben im Ramadan

Vor dem Eingang der Moschee ist ein Getümmel. Frauen, Männer, Kinder ziehen ihre Schuhe aus und betreten die Gebetsstätte. Ich bin für mein Alter groß gewachsen und stelle meine Schuhe ins Regal, an das jüngere Kinder nicht drankommen. Ständig machen sie sich einen Spaß daraus, die Schuhpaare zu vertauschen und wie Memory-Karten wild im Flur zu verteilen. Mit dicken Socken an den Füßen betrete ich die Moschee. Der Boden ist warm, die Luft von der Heizungsluft etwas stickig, die Fenster sind beschlagen. Der Geruch von warmen Pide, die nach der Moschee an die Gemeinde verkauft werden, steigt in meine Nase und mein Magen knurrt. 

„Assalamu alaykum“, begrüßt sich jede Person freundlich und nimmt Platz auf den mit einem riesigen Teppich ausgelegtem Boden. Kleine Tische dienen als Ablagen für die Korane. Kinder rennen umher, sie spielen „Der Boden ist Lava“. Gelächter ertönt, Geplauder querbeet durch den Raum. Alle Reden durcheinander, doch scheint es sich stets um das Iftar in wenigen Stunden zu drehen. Es werden Rezepte und Ramadan-Menüs ausgetauscht, Einkaufslisten erstellt und Gäste eingeladen. Der Imam räuspert sich. Das lauter Geplauder wird zu einem leisen Gemurmel und verstummt. Kinder flüstern und kichern. „Assalamu alaykum, liebe Glaubensgeschwister! Seid alle willkommen und lasst uns den gesegneten Fastenmonat Ramadan wie einen König in unserer Gemeinde, unseren Häusern, unseren Herzen empfangen. Lasst uns fasten und unsere Körper und Seelen läutern, lasst uns am Tag und in der Nacht beten und dreißig Tage lang aus dem Koran lesen. Bismillah!“ 

„Wir dürfen nicht in die Moschee“

Heute ist der vierte Tag des Ramadan. Wir schreiben das Jahr 2020. Die Erinnerungen an früher sind so lebendig und bunt, wie du in meinen Erinnerungen lebendig bist, Oma. Doch es sind jetzt nun neun Jahre her, seitdem du fort bist. Die Zukunft, in der ich lebe, ist derzeit grau und trist. Ein farb- und geruchloser, unsichtbarer Virus beherrscht die Welt wie ein böser Geist. Die Erde steht still und hört das erste Mal seit Jahrhunderten den eigenen Atem. Alle Menschen auf der ganzen Welt leben zurückgezogen in ihren Häusern. Die Einkaufsstraßen sind leer, Fabriken sind stillgelegt, Geschäfte und Restaurants haben geschlossen, Kirchen, Synagogen und Moscheen haben ihre Türen verriegelt. Es darf nicht verreist werden und auch nicht gepilgert. Kein Mensch dreht sich um die Kaaba, Mekkas Straßen sind menschenleer. Menschen dürfen sich nicht treffen und versammeln. Wir dürfen nicht in die Moschee, um gemeinsam zu beten und an der Mukâbala teilzunehmen. 

Mein Sohn kann nicht „Der Boden ist Lava“ mit anderen Kindern spielen, ich kann keine Rezepte austauschen oder Nachbarn zum Essen einladen. Ich sitze zuhause. Das Fenster ist offen, Vogelgezwitscher ist zu hören. Die Kirschblüten blühen, die Tage sind lang. Es ist warm draußen. Vor mir liegt der Koran aufgeschlagen. Deine Stimme klingt in meinen Ohren, wie du laut aus ihm vorließt. „Herzlich willkommen, Ramadan“, flüstere ich mir selbst zu. „Willkommen in meinem Haus und meinem Herzen. So beginne ich in Allahs Namen. Bismillah.“

PS: Wir rufen unsere Leserinnen und Leser dazu auf, ebenfalls einen Ramadan-Brief zu schreiben und diesen an info@islamiq.de zu schicken.