Extremismus-Debatte

Deutsche Jugendliche und der „islamistische Extremismus“

Amir Dziri fehlt eine genauere Ursachenanalyse in der aktuellen Debatte um „islamistischen Extremismus“ und den Zulauf, den extremistische Organisationen in Syrien oder Irak erhalten. In seinem Gastbeitrag plädiert er für ein Umdenken und kritisiert herrschendes Scheuklappendenken.

07
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2014

Wenn man die Diskurse zum Problem des islamistischen Extremismusses in Deutschland verfolgt, dann bekommt man schnell beigebracht, dass der islamistische Extremismus ein Phänomen sei, das von Außen an unsere Gesellschaft herangetragen wird. Wir betrachten uns dann als eine Gesellschaft, die nach Innen solidarisch ist und sich nach Außen hin gegen gefährliche politische Ideologien und extremistische Religionsverständnisse zur Wehr setzen muss. Entsprechend werden dann die Forderungen an die deutsche Sicherheitspolitik und den polizeilichen Maßnahmen gestellt, die uns vor diesen Erscheinungen abschirmen sollen.

Wir versuchen daher alles, um unsere deutschen Jugendlichen präventiv zu schützen. Wir flößen ihnen unentwegt ein, wie menschenverachtend der Extremismus ist, und weisen an weltweiten Beispielen seine hässliche Fratze nach. Wir kontrollieren das Einsickern perfider Botschaften durch die digitalen Kanäle unserer Zeit, in dem wir unser Internet wieder und wieder nach entsprechenden Inhalten durchsieben. Wir klären auf und sensibilisieren, in der Hoffnung, unsere Jugendlichen damit immun gegen jegliches Anwerben zu machen. Allein der Erfolg all dieser Maßnahmen scheint sich nicht so recht einstellen zu wollen. Wir reiben uns verdutzt die Augen und beobachten mit tiefer Sorge, dass europäische Jugendliche sich teilweise mit noch größerer Vehemenz einer politischen Ideologie und geistigen Haltung verschreiben, die unsere gegenwärtige Welt tagtäglich in unfassbare Trauer versetzt.

Ursachenanalyse

Aber was läuft schief? Ein simples sowie jedermann einleuchtendes Naturgesetz besagt, dass wenn die eingeleiteten Maßnahmen nicht das Resultat erzielen, das sie eigentlich erzielen sollten, dann kann nur mit der vorangegangenen Ursachenermittlung etwas nicht ganz stimmig sein. Die größte Verkennung, die in den Diskursen um die Gefahr islamistischen Extremismusses in Deutschland Einzug gehalten hat, ist die, den islamistischen Extremismus als ein Phänomen aufzufassen, dessen Wurzeln ausschließlich außerhalb der Grenzen Deutschlands zu verorten seien und das von Außen in unheilvoller Absicht in die deutsche Gesellschaft hineingetragen würde. Solange dieses Mantra bestehen bleibt, werden wir uns auch die nächsten Jahre verdutzt die Augen reiben und uns gegenseitig die genauso leidvolle wie hilflose Frage stellen: Wie konnte das passieren?

Protestkultur

Der islamistische Extremismus in Deutschland ist eine deutsche Protestkultur, die als solche mehrheitlich leider noch nicht erkannt wurde. Wenn deutsche Jugendliche, Mädchen und Jungen, nach Syrien reisen, um sich dort einem wirren Krieg hinzugeben, der bereits alle Wurzeln der Versöhnung abgeschlagen hat, dann ist das nicht ausschlaggebend der Schamlosigkeit und Überredungskunst eines listigen ausländischen Werbers geschuldet, sondern es ist Ausdruck eines hilflosen Protests jener Jugendlichen gegen die unnachgiebigen Strukturen ihrer eigenen Gesellschaften.

Es soll hier nicht das trübe Lied der jahrzehntelang von Deutschland missachteten Migrantenbevölkerung gesungen werden; Jugendliche aber besitzen eine besondere und sensible Kraft, verbunden mit einem besonderen Vorrecht, nämlich töricht sein zu dürfen. Es ist eine törichte Wertenostalgie, die unsere Kinder und Jugendlichen Tag für Tag antreibt, in unserer Welt etwas Besseres zu sehen, als das, was sie derzeit ist, und uns Erwachsenen immer wieder einen Spiegel vorhält, in dem wir erkennen können, was wir aus ihr gemacht haben. Bedauerlicherweise gibt es derzeit wenig Grund stolz darauf zu sein, was wir aus der Welt gemacht haben.

Haltung ist festgefahren

Es ist so, wenn ich eine Person auf einen Drehstuhl setze und anfange, diesen Stuhl in beide Richtungen mit großer Geschwindigkeit hin und her zu drehen, ich möglicherweise auch noch über die technische Funktion verfüge, den Stuhl auch vertikal um seine eigene Achse drehen zu lassen, so dass die Person auch kopfüber kreist, und ich diese Person dann nach einiger Zeit wieder aus diesem Stuhl befreie, dann wird sie nicht anders können, als kräftig hin und her zu taumeln, um möglicherweise ihren sicheren Tritt ganz zu verlieren und schlussendlich zu fallen. Die einzige Möglichkeit, den physikalischen Effekt der Drehungen abzuschwächen besteht darin zu versuchen, einen einzigen Punkt starr mit den Augen zu fixieren, und jegliche Wahrnehmung außerhalb dieses Punktes auszusortieren. Genau dasselbe passiert im Hinblick auf die psychisch-mentale Fähigkeit des Menschen, die Komplexität seiner Umgebung wahrzunehmen. Überschreitet diese Komplexität die individuellen Fähigkeiten des Menschen sie zu verarbeiten, dann liegt seine einzige Rettung darin, einen Punkt zu fixieren, diesen starr festzuhalten, ansonsten fällt er.

Das Scheuklappendenken, das Schwarz-Weiß-Malen, der Fundamentalismus, der Extremismus sind hilflose Versuche, das Fehlen der Fähigkeit mit der Komplexität unserer Gegenwart umzugehen, irgendwie zu kompensieren. Die Anhänger eines extremistischen Weltbildes – und ich meine hier nicht die Rädelsführer – sind deshalb nicht mit Gutreden von ihrer Haltung abzubringen, weil diese Haltung für sie existenziell notwendig ist, sie sind ohne die Fokussierung nicht lebensfähig, sie fallen. In unserer Multi-Options-Gesellschaft, in unserer Gesellschaft unnachgiebiger kapitalistischer Ökonomie, in unserer von einer starken Wertepluralität und Ambiguität geprägten Gesellschaft, muss die Fähigkeit, sich in diesem offenen Spektrum orientieren zu können, erst mühsam erlernt, die Heranwachsenden darauf vorbereitet werden. Diese Analyse – so ihr denn gefolgt wird – ist religions- und weltanschaulich-übergreifend. Sie gilt genauso für den Protest anarchistischer Grundhaltung wie für eine rechtsextreme, religiös-fundamentalistische oder eben hier islamistische Grundhaltung. Die Ursache des Phänomens ist überall dasselbe, die jeweilige Ausprägung hängt lediglich vom jeweiligen sozialen Umfeld ab.

Unsere Jugendlichen

Islamistischer Extremismus ist dann, wenn er strafrechtlich relevant wird, mit allen uns polizeilich zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen. Jugendliche, die sich einem bewaffneten Kampf so wie in Syrien anschließen, handeln strafbar und sind mit den entsprechenden gesetzlichen Konsequenzen zu konfrontieren. Es sind aber immer noch unsere Jugendlichen. Es sind die Jugendlichen unserer deutschen Gesellschaft, und das, was sie antreibt, so töricht und fahrlässig zu handeln, wie sie es bisweilen tun, muss uns aufhorchen lassen und dazu aufrufen, immer wieder von Neuem auf die Missstände unserer eigenen Gesellschaft einzugehen, um jedem einzelnen ihrer Mitglieder die Möglichkeit zu bieten, einen würdevollen Platz einzunehmen. Das Versagen der internationalen Gemeinschaft in Syrien wiegt schwer, auch auf den Schultern unserer deutschen Gesellschaft.

Leserkommentare

Ute Diri-Dost sagt:
Es gibt keinen islamischen Extremismus,denn der Islam ist nicht extrem als solcher,sobald man sich nur an Quran und Sunna hält.Es gibt nur fehlgeleitete Menschen,keinen fehlgeleiteten Islam,und zu diesen gehören leider sehr oft Leute,die diesen neuerschaffenen Begriff "islamischer Extremismus" in den Mund nehmen.
07.07.14
20:36
Ali sagt:
Da kann ich nur zustimmen. Auch wenn es dem einen oder anderen zu einfach erscheint: Ich verstehe den Islam als eine "Religion der Mitte", die solche Extreme nicht zulässt bzw. diesen Schranken setzt. Neue Begrifflichkeiten wie "Islamismus" bzw. "islamistisch" sind Äquivalente zu Zuschreibungen früherer Jahrhunderte, in denen dem Islam diese und jene Eigenschaft als wesenhaft vorgenommen wurden. Wo es früher hieß, der Islam sei vom Wesen her primitiv, weltlich oder auf die Lust fixiert, heißt es heute eben, er sei fundamentalistisch, extremistisch und islamistisch. Wir Muslime sollten uns davon fernhalten, uns auf derlei unschuldig daherkommende Begriffe einzulassen.
08.07.14
3:02
Micha sagt:
Das ändert aber nichts daran, dass es nicht wneige Muslime gibt, die eben doch Terroristen sind und sich dabei auf ihren Glauben berufen und einen Staat nach den Regeln des Islam errichten wollen. Dass Muslime dies vehement immer wieder leugnen, trägt nicht gerade zur Glaubwürdigkeit bei. Immerhin hat bereits der Gesannte Gottes Muhammad selbst Kriege gegen Nicht-Muslime geführt, auf die sich die Extremisten berufen bei ihrem Tun. Eine Rechtfertigung für das Töten anderer findet sich immer schnell. Die Christen, deren Kreuzzüge überhaupt nicht vereinbar sind mit den Lehren Jesu, wissen davon ein Lied zu singen. Aber anders als die Muslime leugnen die Christen heute die blutige Vergangenheit nicht, sondern versuchen daraus ihre Lehren zu ziehen.
06.08.14
10:42