Interview mit Hilal Sezgin

Sezgin: „Tiere sind empfindungsfähige Lebewesen“

Die Journalistin und Publizistin Hilal Sezgin plädiert in ihrem aktuellen Buch für eine neue „Ethik für Tiere“. Wir sprachen mit der überzeugten Muslimin und Veganerin über ihre interessanten Ansichten zum Thema Tierschutz und den Konsum von Fleisch.

29
06
2014

Hilal Sezgin, geboren 1970, studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete danach mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Sie schreibt u.a. für DIE ZEIT und die Süddeutsche Zeitung sowie als Kolumnistin für die Meinungsseite der taz, das Feuilleton der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung. Ihre publizistischen Themen sind hauptsächlich Tierethik und Tierrechte, Feminismus, Philosophie und Islam, Islamfeindlichkeit und Multikulti.

Ihr aktuelles Buch heißt „Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen“, erschienen im Verlag C.H. Beck, Januar 2014. Davor erschienen zuletzt ihr Bericht „Landleben. Von einer, die raus zog“ (DuMont Buchverlag 2011) und der Sammelband „Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu“ (hrsg. im Blumenbar Verlag 2011). Wir sprachen mit Frau Sezgin über ihre Vorschläge für eine „Ethik für Tiere“, über den Tierschutz im Allgemeinen und den Konsum von Fleisch.

 

IslamiQ: In Ihrem neuen Buch „Artgerecht ist nur die Freiheit“ konzipieren Sie auf philosophischem Wege eine „Ethik für Tiere“. Sehen Sie dabei Parallelen zur islamischen Ethik für Tiere?

Hilal Sezgin: Wir leben in einer säkularen Gesellschaft, in der die Menschen verschiedenen Religionen oder auch gar keiner angehören. Daher konzentriere ich mich zunächst einmal auf die säkulare Ethik, die also in einer Sprache spricht und mit Konzepten arbeitet, die alle nachvollziehen können. Wenn ich mit diesen Ergebnissen aber wieder auf den Koran zugehe, oder auf gewisse Hadithe, oder Texte von zeitgenössischen, an Tieren interessierten Muslimen lese, stelle ich immer wieder verblüfft fest: Es passt wunderbar zusammen.

Manchmal findet man richtiggehend Unterstützung in den islamischen Quellen! Zum Beispiel trinken wir Veganer keine Milch, weil dafür ja die Kälber der Mutter weggenommen werden. Das haben auch viele frühen und mittelalterlichen Muslime als übel angesehen und teils auf Hadithe zurückgeführt, dass man einer Tiermutter (der Kamelstute o.ä.) nicht das Kind wegnehmen darf. Oder: Ein recht radikales tierethisches Werk heute, Zoopolis, handelt davon, dass manche Tiere eigentlich Mitbürger und andere wie Bürger anderer Nationen sind. Da denke ich an den Koranvers: „Keine Tiere gibt es auf Erden und keinen Vogel, der mit seinen Schwingen fliegt, die nicht Völker (Gemeinschaften) sind wie ihr.“(6:38)

 

IslamiQ: Was sind die zentralen Aspekte Ihrer „Ethik für Tiere“?

Hilal Sezgin: Tiere sind empfindungsfähige Lebewesen, sie haben ein eigenes Wohlbefinden, ein eigenes Leben – und sie hängen an diesem Leben. Wir dürfen ihnen keinen Schaden zufügen, wenn es sich vermeiden lässt. Wir dürfen sie nicht einsperren, ihnen nicht die Kinder wegnehmen, sie nicht töten, wenn es sich vermeiden lässt. Wichtig ist auch anzuerkennen, dass auch das Leben der Tiere mehr bedeutet als nur Atmen, Fressen und Verdauen: Tiere wollen sich bewegen, ihre Umgebung erkunden, sie wollen mit ihren Familien zusammen sein. Wir dürfen sie nicht auf Maschinen oder eine Art Sklaven zu unseren Diensten reduzieren, sondern sie sind Individuen mit eigenen Rechten. – Jeder Tierfreund weiß das übrigens, bei jeder Katze erfährt man es – aber es gilt eben genauso für Kuh, Huhn und Fisch.

 

IslamiQ: Welche Reaktionen erfahren Sie von Ihren muslimischen Mitmenschen auf Ihr Engagement für Tierschutz und Ihre vielen Veröffentlichungen zu diesem Thema? Unterscheiden sich diese von anderen?

Hilal Sezgin: Ach, das ist ganz unterschiedlich, unter Muslimen wie unter Nichtmuslimen. Meine Eltern sind ja auch Muslime und seit Jahrzehnten Vegetarier. Ich selbst lebe seit sechs Jahren vegan, meine Eltern unterstützen es komplett. Ich kenne viele vegetarische und vegane Muslime. Gewiss, manche sagen: „Aber es wurde uns im Koran erlaubt!“ Das ist aber nichts anderes, als wenn Nichtmuslime sagen: „Menschen haben immer Fleisch gegessen.“ – Gewiss. Früheren Generationen war es nötig, und natürlich war es den Menschen zu Mohammeds Zeiten erlaubt. Aber nicht alles, was damals nötig und ihnen daher erlaubt war, ist es heute noch. Die (Menschen)Sklaverei war im Koran erlaubt; heute sind wir dagegen. Und wir sind überzeugt, dass das dem Koran vom Gedanken her völlig entspricht!

 

IslamiQ: Was wünschen Sie sich von Muslimen in dieser Debatte? Inwiefern muss sich die muslimische Haltung gegenüber Tieren und Tierethik ändern?

Hilal Sezgin: Wir Muslime leben nicht wie in einer Blase, wir sind Teil der hiesigen (Industrie)Gesellschaft. Manchmal reden hiesige Muslime so über Massentierhaltung, als sei das eine böse, spezifisch deutsche Erfindung, mit der man selbst nichts zu tun habe – aber das stimmt nicht. All die Tiere, die hier gegessen werden, auch die vermeintlich halal geschlachteten, stammen aus Massentierhaltung. Massentierhaltung kommt daher, dass wir massenhaft Menschen sind, die massenhaft Tiere essen wollen. Auch als Muslime dürfen wir diese Verantwortung nicht von uns schieben oder vergessen – oder sogar gerade als Muslime. Meine Hoffnung ist ja, dass wahrhaft fromme Menschen es mit der Verantwortung für diese Welt und die anderen Geschöpfe noch einen Tick ernster nehmen sollten als die anderen. Okay, vielleicht stimmt das – leider – nicht.

 

IslamiQ: Wie beurteilen Sie die politische und gesellschaftliche Debatte um Halal-Schächtung?

Hilal Sezgin: Ich glaube, die nichtmuslimische Diskussion im halal ist oft antimuslimisch verzerrt, das sage ich auch immer den Nichtmuslimen, die fragen. Aber hier, unter Muslimen sozusagen, ist mir etwas anderes wichtiger: Regelgetreues Schächten ist viel anspruchsvoller, als es heute praktiziert wird. Jedes Tier muss einzeln beruhigt werden, keines darf das Blut der anderen riechen. Daher kann Massenschlachtung niemals halal sein. Überhaupt kann kein Produkt aus Massentierhaltung sein! Halal zielt auf eine bestimmte Ethik, nicht auf die Technik. Übrigens gibt es ja Fatwas, auch eine von der Azhar-Universität, dass Schächten mit Betäubung erlaubt ist. Aber wichtiger ist mir noch daran zu erinnern: Das Essen von Fleisch ist keine religiöse Pflicht! Wir müssen kein Fleisch essen. Vielmehr sollen wir milde sein, wo es nur geht.

 

IslamiQ: Welche Empfehlung können Sie für den Alltag geben, um den Fleischkonsum zumindest zu reduzieren und bewusster mit dem Thema umzugehen?

Hilal Sezgin: Lernen, immer mehr Gerichte vegetarisch oder noch besser vegan zuzubereiten. Nicht bloß weglassen, sondern dazulernen: Rezepte für ein Kochen ohne Tierleid. Natürlich ist es erst einmal eine gewisse Umstellung, aber es ist auf Dauer kein Verzicht; es hilft uns, die anderen Geschöpfe und die Erde besser zu würdigen – und auf Dauer zu bewahren! Denn die Umweltfolgen durch unseren Fleischkonsum, der Land- und Wasserverbrauch, die multiresistenten Keime, sind ja enorm. Der Prophet hat sich einen Ärmel abgeschnitten, nur damit er das Kätzchen nicht aufwecken musste, als der Muezzin zum Gebet rief. Und da sagen wir, wir wollen nicht vegetarisch kochen lernen, um Millionen von Tieren dieses Elend zu ersparen und einen kleinen Beitrag zur Bewahrung der Umwelt zu leisten? Das wäre doch gelacht!

Leserkommentare

Astrid Pauli sagt:
Dieser Kommentar war sehr aufschlussreich für mich. Ich habe immer geahnt, dass es so ist. Ich denke, der Prophet Muhammad mochte Tiere.
03.12.18
17:36