CORONA-VIRUS

„Je weniger Gewissheit, desto mehr Angst“

Die Corona-Krise bringt viele Einschränkungen mit sich. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit dem Risikoforscher Prof. Dr. Ortwin Renn über die Risiken und Folgen für die Gesellschaft.

05
04
2020
Corona-Krise
Prof. Dr. Ortwin Renn ©️ IASS/Lotte Ostermann

IslamiQ: Warum und wovor fürchten wir uns?

Prof. Dr. Ortwin Renn: Wir fürchten uns vor allem vor Bedrohungen, deren Umfang und Wahrscheinlichkeit für uns ungewiss sind. Je weniger Gewissheit wir haben, desto stärker wächst unsere Angst. Stellen Sie sich vor, Sie sind allein in einem dunklen Wald und hören verdächtige Geräusche. Sie erstarren, der Blutdruck geht hoch, die Anspannung wächst, ebenso die Angst. Selbst wenn Sie wissen, dass heute im Wald weder wilde Tiere sind, noch Verbrecher, die Sie überfallen wollen, können Sie sich der Angst kaum erwehren. Undefinierbare Geräusche plus mangelnde Sicht schaffen Verunsicherung, und die lässt den Angstlevel nach oben schnellen.

IslamiQ: Sie sind Risikoforscher. Was bedeutet Risiko und wie funktioniert unser Risikoempfinden?

Renn: Risiko bezeichnet ein mentales Konzept, mit dem wir die Möglichkeit einer Bedrohung charakterisieren. Wissenschaftler tun dies mit Hilfe von Statistik und Modellierungen, alle anderen bewerten Risiken auf der Basis ihrer Erfahrungen und dem Signalwert von Eigenschaften der Risiken, der Risikoquellen oder der Situation, in der das Risiko wirkt. Eine Risikoeigenschaft wäre z. B. die Todesrate unter den Personen, die sich infiziert haben; eine Eigenschaft der Quelle wäre die Herkunft des Virus, etwa aus China versus Europa, und die Situationsmerkmale wären z. B., ob das Risiko freiwillig eingegangen wird oder von außen aufgezwungen wurde.

IslamiQ: In den sozialen Medien beobachten wir täglich Gewalt, Vertreibungen und Todesfälle. Wie beeinflussen uns diese Meldungen?

Renn: Je mehr darüber berichtet wird, desto mehr glauben Menschen, dass diese Risiken auch häufig auftreten. Man spricht hier vom Verfügbarkeits-Heurismus. Alles was mental sofort und intuitiv einsichtig verfügbar ist, wird in der Häufigkeit des Auftretens überschätzt. Liest man etwa in der Zeitung immer wieder über einen Überfall oder einen Unfall, gewinnt die Leserin oder der Leser immer mehr den Eindruck, dass solche Ereignisse auch häufiger auftreten. Das gilt vor allem für seltene, aber sehr dramatische Ereignisse, wie etwa eine große Explosion oder ein besonders heimtückisches Verbrechen.  Da alle Medien davon in großem Umfang berichten, überschätzen die meisten Menschen die Häufigkeit solcher Ereignisse.

Wichtig ist es deshalb, bei der medialen Berichterstattung auch immer hinzuzufügen, wie einzigartig dieses Ereignis ist. Manchmal hilft auch darzustellen, wann ein ähnliches Ereignis in der Vergangenheit beobachtet wurde. Das führt den Menschen vor Augen, wie unwahrscheinlich das entsprechende Ereignis ist.

IslamiQ: Das Corona-Virus breitet sich rund um den Globus aus. Sie meinen, dass wir als moderne Gesellschaften trotz Corona risikoärmer leben.

Renn: Im Mittel ja, denn die Lebenserwartung steigt in nahezu allen Ländern der Welt. Auch der Corina-Virus wird statistisch daran kaum etwas ändern. Allerdings können kollektive Risiken wie Pandemien auf einen Schlag ganze Gesellschaften lahmlegen oder wie beim Klimawandel die Lebensverhältnisse drastisch verschlechtern. Dazu kommt noch, dass wir bei Corona-Viren sogenannte Hotspots haben, also Orte, in denen der Virus sich besonders stark verbreitet hat. Dort sind dann die Verhältnisse wesentlich schlimmer als in den übrigen Landesteilen.

IslamiQ: Woher kommt die Panik um Corona in Deutschland?  

Renn: Wir erleben in Deutschland, dass mehr als 80% der Bevölkerung ohne größere Panik und mit Besonnenheit auf diese Krise reagieren. Die wenigen, die panisch und zum Teil aggressiv reagieren, bestimmen aber oft die veröffentlichte Meinung. Die meisten Menschen, die durch Hamsterkäufe oder Übergriffe auf andere reagieren, gehören zu den Kampftypen, die auf Bedrohungen in der Regel mit Gegenreaktionen antworten. Weil sie den Virus nicht direkt attackieren können, werden Ersatzobjekte gesucht. Das können Ausländer, Politiker, Ärzte oder anderen Konsumenten sein, die einem beim Hamsterkauf stören. Natürlich nutzen das die Rattenfänger von der extremen rechten Szene auch aus, um über den Corona-Virus die Flüchtlinge oder die Ausländer insgesamt als Schuldige darzustellen. Sie hätten angeblich das Virus nach Deutschland gebracht. Die Wahrheit ist, dass die meisten Ansteckungen von deutschen Bürgerinnen und Bürger ausgingen, die sich zum großen Teil im Ausland infiziert hatten.

IslamiQ: Neben dem aktuellen Gesundheitsrisiko gibt es auch vermehrt rassistisch motivierte Angriffe gegen Muslime, zuletzt in Hanau.

Renn: Im Rahmen der Corona Krise waren eher Chinesen das Angriffsziel. Aber bei anderen Themen sind auch Muslime häufig Ersatzobjekte, weil man an die „wahren“ Schuldigen nicht rankommt und die Wut bzw. Aggression irgendwo abgelassen werden muss. Angriffe gegen Muslime sind häufig auch Ausdruck der Angst gegenüber dem Fremden und dem Andersartigen. Dieses Gefühl stellt sich häufig ein, wenn man die eigene Lebensweise und die eigenen Werte als bedroht ansieht.

Die meisten Muslime reagieren auf Gewalt und Diskriminierung durch Fluchtverhalten; sie ziehen sich in die eigene familiäre oder kulturelle Umgebung zurück. Sie igeln sich häufig ein. Dadurch wird aber gerade die Integration in die umgebende Gesellschaft nicht befördert.

IslamiQ: Wir leben nicht nur in sogenannten „Risikogesellschaften“, sondern auch in einem postfaktischen Zustand. Es wird z. B. darüber spekuliert, dass Corona eine chinesische Strategie ist, um die Zahl der Älteren zu reduzieren. Wie beeinflusst diese postfaktische Argumentation unser Risikoempfinden?

Renn: In der Tat kursieren die abenteuerlichsten Geschichten in den sozialen Medien zum Ursprung des Corona-Virus. Dabei ist die Kette von Tier auf Mensch relativ gut und klar belegt. Dennoch gibt es Verschwörungstheorien, wie die, dass der Virus vom Geheimdienst eingesetzt worden sei, oder Sündenbock-Theorien wie die, dass die Pharmaindustrie längst ein Gegenmittel gefunden habe, es aber nicht einsetze, um hinterher noch mehr Profit zu machen. Alle diese Theorien sind absurd, werden aber gerne geglaubt, weil die wenig nachvollziehbare Erklärung der Wissenschaft weniger attraktiv ist als die plausible und oft die eigenen Vorurteile bestätigende Erklärung aus dem Internet.

Postfaktisch bedeutet ja, dass Menschen nicht mehr zwischen faktischer Evidenz und platter Lüge unterscheiden können. Wenn sie dann noch kein oder wenig Vertrauen in die Institutionen der Wissenschaft und der Politik haben, suchen sie sich halt das aus dem Internet heraus, was ihnen am ehesten einleuchtet. Und das sind oft geheime Verschwörungen, vor allem von Gruppierungen angezettelt, die man selber ablehnt und denen man schlimme Handlungen zutraut.

In der aktuellen Corona-Krise sehen wir aber, dass sich die große Überzahl der deutschen Bevölkerung vorwiegend an wissenschaftliche und wissenschaftsnahe Institutionen wendet, um Informationen zu erhalten. Das tut auch die seriöse Presse. Allerdings gibt es immer wieder Personen, die auf Fake News in den sozialen Medien reinfallen oder sich täuschen lassen. Hier ist immer anzuraten, sich auf die unabhängigen und fachlich kompetenten Quellen zurückzuziehen. Das wäre in Deutschland etwa das Robert-Koch-Institut.

Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.

Leserkommentare

Dilaver Çelik sagt:
Wenn den Verschwörungstheorien was wahres dran ist, dann ist es die Aufgabe von Interpol, dem nachzugehen, die Verschwörer zu ermitteln und sie dem internationalen Gerichtshof zu überführen. Eine absichtliche Ansteckung durch einen potentiell tödlichen Virus stellt schließlich einen Straftatbestand dar. Doch von derartigen Ermittlungen hören wir bisher nichts. Wobei anzumerken ist, dass falsche Anschuldigungen sowie deren Verbreitung ebenfalls strafbar sind.
06.04.20
17:47
Ethiker sagt:
"Je weniger Gewissheit wir haben, desto stärker wächst unsere Angst." Das ist eine tautologische Aussage. Es stimmt nämlich der Satz auch: "Je mehr Gewissheit wir haben, desto stärker wächst unsere Angst." Die Aussage ist also mehr als dürftig. Und dann widerspricht sich der Herr Renn ausdrücklich: "Je mehr darüber berichtet wird, desto mehr glauben Menschen, dass diese Risiken auch häufig auftreten." Wenn die Gewissheit über Risiken (der Glauben der Menschen, dass diese Risiken auch häufig auftreten) steigt, dann steigt auch die Angst. Das ist ein Widerspruch zur Aussage: "Je weniger Gewissheit wir haben, desto stärker wächst unsere Angst." "Die meisten Menschen, die durch Hamsterkäufe oder Übergriffe auf andere reagieren, gehören zu den Kampftypen, die auf Bedrohungen in der Regel mit Gegenreaktionen antworten." Das ist wieder eine schwache Kategorisierung, wenn nicht falsche Einordnung von Menschengruppen. Wer sagt das die Ursache nicht der Kampftyp selbst ist, sondern nicht vielmehr die neoliberale Erziehung und Idendifikation der Menschen, die einen Narzismus und einen starken Egoismus hervorgebracht hat, welcher dann derart (Hamsterkäufe etc.) in Erscheinung tritt. "Im Rahmen der Corona Krise waren eher Chinesen das Angriffsziel." Das ist nicht wahr, denn es wahren allgemein Asiaten und ihre Kulturpraktiken im Fokus. "Aber bei anderen Themen sind auch Muslime häufig Ersatzobjekte, weil man an die „wahren“ Schuldigen nicht rankommt und die Wut bzw. Aggression irgendwo abgelassen werden muss. " Das ist eine sich entschuldigende Tätersicht. Herr Renn konstruiert eine Entschudligung, mit paternalistischen Zügen ( einige Bürger wüssten ja nicht warum sie Muslime angreifen), auch setzt er die Aggressionbewältigung vor den möglichen Schäden der Opfer hervor (. Aggression irgendwo abgelassen werden muss). Nein die Aggression muss nicht irgendwo abgelassen werden, eine irrationale Aggression kann durch Anbetracht von Wahren und nahe an der Vollständigkeit erzielten Zusammenhängen ganz ohne Ablass erklärt werden. "Angriffe gegen Muslime sind häufig auch Ausdruck der Angst gegenüber dem Fremden und dem Andersartigen. Dieses Gefühl stellt sich häufig ein, wenn man die eigene Lebensweise und die eigenen Werte als bedroht ansieht." Hier wirbt Herr Renn wieder für die Tätersicht. Nein Herr Renn die Angst über Fremde ergibt sich aus Interessenbezug. Es werden Interessen abgewogen und dann eine Angst entwickelt. "Angriffe gegen Muslime" sind vielmehr mit der Mentalität einer Menschengruppe zu beschreiben und zu erklären, als mit der Bedrohung von Werten oder Lebensweisen. Die Erklärung "wenn man die eigene Lebensweise und die eigenen Werte als bedroht ansieht." wirkt mehr als eine Entschuldigung und ist für das friedliche Zusammenleben kontraproduktiv. Sie verhindert auch eine genaue Auseiandersetzung mit dem Sachverhalt und den Tatsachen. Nein, dem RKI sollte man nicht alles abnehmen, den selbst das Robert Koch Institut hatte anfangs z.B. das Maskentragen als unnütz für den Selbstschutz propagiert. Es stellte sich nach und nach heraus, dass das RKI damit falsch lag.
06.04.20
23:12
Dilaver Çelik sagt:
@Ethiker Wer andere Menschen aufgrund ihres Andersseins angreift, der hat vielmehr ein Selbstwertproblem als ein Problem mit dem Anderssein eines anderen Menschen. Meistens ist da etwas in der Kindheit oder Jugend gründlich schief gelaufen. Das allerdings ist keine Entschuldigung für das Fehlverhalten des Täters, weil der Täter immer noch die Möglichkeit hatte und hat, an sich selbst zu arbeiten.
07.04.20
14:32
Ortwin Renn sagt:
Zwei Punkte zu dem differenzierten Kommentar von Ethiker: A) Die Umkehrung, dass mehr Gewissheit mehr Angst erzeugt, stimmt definitiv nicht. Insofern ist die ursprüngliche Aussage nicht trivial. B) Ich bin nach den Motiven der „Täter“ gefragt worden und dazu habe ich versucht, Erklärungen zu geben. Erklärungen sind keine Entschuldigungen oder sogar Rechtfertigungen, sie helfen aber, Motive besser einzuordnen. Eine Dämoinisierung hilft dagegen nicht, auch und gerade wenn man die Situation verbessern will.
08.04.20
11:15
Ethiker sagt:
"A) Die Umkehrung, dass mehr Gewissheit mehr Angst erzeugt, stimmt definitiv nicht. Insofern ist die ursprüngliche Aussage nicht trivial." Nehmen sie sich mal das simple Beispiel eines Kindes. Ein Puma stürmt auf das Kind zu. Wenn das Kind nicht gelernt hat, dass ihm der Puma gefährlich werden kann (weniger Gewissheit über die Gefährlichkeit des Pumas), wird das Kind weniger Angst haben, als wenn es mehr Gewissheit über die Gefährlichkeit des Pumas besittzt. Der Satz "mehr Gewissheit erzeugt mehr Angst" offenbart die Problematik der subjektiv wahrgenommen Gewichtung zwischen Glauben und Wissen.
09.04.20
9:49