Kopftuch im Gerichtssaal

Kopftuchstreit – Wenn das Grundgesetz missverstanden wird

Erneut diskutiert Deutschland über das Kopftuch – dieses Mal im Gerichtssaal. Burak Altaş beschwert sich über inhaltsleere Argumente und ein fragwürdiges Grundgesetzverständnis.

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08
2016
Gesichtsschleierverbote- ein strittiges Thema. © (metropolico.org/CC 2.0/flickr)

Der Kampf um die Gleichberechtigung und gegen die Diskriminierung von kopftuchtragenden Frauen scheint ein nicht enden wollender Weg zu sein. Bei einem derart politisierten Thema werden gelegentlich auch Urteile des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ignoriert, um dem Kopftuch ja keine unerwünschten Freiräume zu schaffen – so wie in Berlin hinsichtlich der Frage nach dem Kopftuch von Lehrerinnen. Bei der neuesten Debatte geht es nicht um das Kopftuch in den Klassen- und Lehrerzimmern, sondern auf der Richterbank. Wo Recht gesprochen wird, fallen auch kluge Argumente – will man meinen. In Wirklichkeit ist die Diskussion von erbitterter Einseitigkeit und Einfältigkeit geprägt.

Dem grünschnabeligen Rechtsschüler an der juristischen Fakultät wird zuerst Folgendes beigebracht: „Du sollst das Ergebnis nicht vorgeben und im Anschluss daran erklären, sondern das Ergebnis offenstellen und auf dem Weg dorthin erarbeiten.“ Dieser sogenannte Gutachtenstil hat den Vorteil, dass der Leser mit tatkräftigen Argumenten überzeugt werden muss, bevor ihm die Lösung mitgeteilt wird. Diese ist dann nur noch eine logische Konsequenz des zuvor mühsam Erarbeiteten. Nun kann man eine öffentliche Debatte nicht im Gutachtenstil und dem seltsam anmutenden Konjunktiv führen, ohne Gelächter zu ernten. Der Austausch von Argumenten sollte aber eine gewisse qualitative Schwelle nicht unterschreiten. Ein weiterer Grundsatz in der Rechtswissenschaft lautet nämlich, dass bloße Behauptungen keinen Wert haben, solange sie nicht argumentativ unterfüttert werden. Genau das vergessen aber die Befürworter eines Kopftuchverbots.

Den Fall einer Rechtsreferendarin in Bayern, der das Tragen des Kopftuchs im Gerichtssaal oder bei der Zeugenvernehmung verboten wurde, entschied das Verwaltungsgericht Augsburg zugunsten der 25-Jährigen Frau. Eine derart tiefgehende Rechtsbeschneidung könne nicht ohne eine entsprechende gesetzliche Grundlage erfolgen, so die Richter. Denn, auch das weiß der Grünschnabel von der juristischen Fakultät seit seinem ersten Semester: In wesentlichen Angelegenheiten – dazu zählt die Verletzung von Grundrechten, hier der Religionsfreiheit der Referendarin – gibt es einen Parlamentsvorbehalt. Die Exekutive ist nicht befugt, ohne eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage in die Grundrechte einzugreifen.

Richterverbände fordern Verbotsgesetz

Dieser Einwand animierte mehrere Richterverbände, für die Schaffung eines entsprechenden Verbotsgesetzes zu plädieren. Das Kopftuch könne die „Unparteilichkeit der Justiz erschüttern“, weil die einheitliche Kleidung der Richterschaft den Parteien eines Rechtsstreits signalisiere, „dass es auch in ihrem Fall nicht darauf ankommt, welche Person entscheidet, sondern nur auf das, was im Gesetz steht“, so Robert Seegmüller vom Bund Deutscher Verwaltungsrichter. Darin schwebt die Sorge, dass sich Richter bereits durch ihre Kleidung äußerlich sichtbar positionieren könnten und daraus eine Voreingenommenheit abgeleitet werde. Diese Erwägung zu Ende gedacht, müsste aber auch ein Kopftuchverbot abgelehnt werden, da jedes Verbot eine Positionierung gegen das Verbotene bedeutet. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten bedarf es dafür einer Rechtfertigung, zum Beispiel die Verfassungsfeindlichkeit dieses Symbols. Beim Kopftuch – Fehlanzeige.

Des Weiteren ist bereits die Legitimität des Neutralitätsarguments in diesem Zusammenhang fraglich. In der Forderung, dass „jeder äußere Anschein mangelnder Objektivität vermieden werden“ solle, da „im Gerichtssaal ein besonders striktes Gebot staatlicher Neutralität“ bestehe (Mecklenburg-Vorpommerns Justizministerin Uta-Maria Kuder, CDU), wird zum einen auf die Sichtweise eines undifferenziert Denkenden Dritten abgestellt, der, im Gerichtssaal mit dem Kopftuch konfrontiert, dieses augenblicklich mit negativen Konnotationen verbindet und die Richterin für parteiisch erachtet. Wird derartigen Vorurteilen ein entscheidungserheblicher Wert beigezollt, kann von einer Kapitulation vor islamfeindlichen Ressentiments gesprochen werden.

Zum anderen dürfen Rechtseingriffe nicht auf unbegründetem Verdacht, vagen Vermutungen oder persönlichen Vorurteilen fußen. Dass eine Richterin mit Kopftuch ihren persönlichen Glauben und ihren Richterspruch nicht auseinanderhalten kann, ist nicht nur eine Spekulation, sondern auch eine unerhörte Zumutung. Der Pendelblick zur analogen Diskussion um das Kopftuch einer Lehrerin zeigt gerade auf, dass das BVerfG im Kopftuch selbst keine Gefährdung der Neutralität sieht, sondern allenfalls in Verhaltensweisen und Überzeugungen der kopftuchtragenden Person, die aber konkret nachgewiesen werden müssen.[1]

Richterinnen haben auch Persönlichkeiten

Das in diesem Zusammenhang oft bemühte Neutralitätsprinzip verkommt immer weiter zu einer Allzweckwaffe gegen die Religionsfreiheit. Wo auch immer ein religiöses Symbol aus der Öffentlichkeit verdrängt werden soll, werden Befürchtungen um die Neutralität des Staates formuliert. Dabei ist eines vor Augen zu führen, nämlich dass Deutschland im Laufe der Geschichte im Verhältnis des Staates zur Religion und zu den Religionsgemeinschaften eine ausgezeichnete verfassungsrechtliche Balance geschaffen hat. Bereits 1975 hat das BVerfG den „ethischen Standard“ des Grundgesetzes in der „Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Menschenbildes [gesehen], das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist.“[2] Den Vertretern eines strikten Neutralitätsbegriffs, wonach die Religion möglichst im öffentlichen Raum unsichtbar sein müsse, erteilen die Verfassungsrichter eine Absage, indem sie das Neutralitätsprinzip „nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche (…), sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung“ definierten.

Die oftmals vertretene Auffassung, wonach im sogenannten „Kernbereich staatlicher Aufgaben“, eben z. B. im Justizwesen, ein strengerer Neutralitätsbegriff gelten soll, findet in der einschlägigen Rechtsprechung keinen Anhalt. Sie ist auch in sich nicht konsequent, da zuerst die Frage beantwortet werden muss, weshalb das Kopftuch die (ggf. streng verstandene) Neutralität gefährden soll. Das im Neutralitätsprinzip innewohnende Identifikationsverbot des Staates mit einer bestimmten Religion ist nur dann verletzt, wenn ein argumentatives Konstrukt geschaffen wird, wonach das Kopftuch der einzelnen Richterin dem Staat als Gesamtgebilde zugerechnet werden kann.

Ein solches Konstrukt ordnet die Richterin aber dem Bereich der „staatlichen Selbstdarstellung“ unter, sodass sie etwa mit der Ausstattung eines Verhandlungsraumes mit Kruzifixen gleichgesetzt wird. Ein fataler Fehler, denn während dort die Inszenierung unmittelbar durch den Staat erfolgt, wurzelt die Motivation zum Tragen eines Kopftuchs in der gesellschaftlich-privaten Sphäre der Richterin. Die Richterin erschöpft sich nicht in ihrer amtlichen Funktion. Eine Missachtung dieser Differenzierung bedeutet die „Quasi-Verdinglichung“ der Richterin und wird deshalb dem Facettenreichtum der menschlichen Prägung nicht gerecht.

Optische Neutralität

Das öffentliche Vertrauen in die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richterin wird äußerlich maßgeblich durch das Tragen der Robe hergestellt. Diese symbolisiert dann aber auch hinreichend deutlich, dass sich die Richterin in der konkreten Entscheidungssituation in den staatlichen Bereich begeben hat. In dem Bewusstsein, dass Richter_innen neben ihrer amtlichen Sphäre auch eine persönliche Sphäre innehaben, erschüttert das Tragen eines Kopftuches dann diese äußerlich hergestellte Neutralität nicht mehr. Eine deutlichere Symbolik als das Tragen einer Robe ist nicht erforderlich.

Der renommierte Berliner Verfassungsrechtler Prof. Dr. Klaus Finkelnburg weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass ein christlich geprägter Richter, der „das Kreuz vor dem Gerichtssaal ablegt, trotzdem ein kämpferischer Katholik bleibt.“[3] Er sehe in der Debatte über das Kopftuch eine Scheindiskussion: „Ich meine, wir sollten die Freiheit des Individuums so weit wie möglich zulassen.“

Im Geiste des Grundgesetzes

Die wahre Stärke des freiheitlich-demokratischen Staates erwächst daraus, keine Angst vor mehr Pluralität in der staatlichen Sphäre zu haben, sondern diese zu gewährleisten und zu fördern. Liest es sich nicht wie ein Eingeständnis, wenn Herr Seegmüller vom Bund Deutscher Verwaltungsrichter zur Einführung eines Kopftuchverbots „möglicherweise sogar eine Änderung des Grundgesetzes“ für erforderlich hält? Eine Änderung, die freiheitliche Garantien entziehen wird und deswegen dem Geist des Grundgesetzes widerspricht. Eine reaktionäre Entwicklung, gegen die sich alle an Freiheitlichkeit und Pluralität interessierten Fraktionen im Lande wehren sollten.

Das Recht hat eine befriedende Funktion. Dazu gehört das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz, aber auch, dass nicht neue Wunden geschaffen werden. Eine falsch verstandene Neutralität schafft unzählige Opfer, verletzt die Religionsfreiheit und stellt deswegen einen Bruch mit dem Grundgesetz dar.

Unparteilichkeit durch Parteiergreifung contra Kopftuch? Ein Paradox, das sich rational nicht auflösen lässt.

[1] BVerfG, Beschl. v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10.

[2] BVerfG, Beschl. v. 17.12.1975 – 1 BvR 63/68.

[3] Berliner Zeitung, Verfassungsrechtler Klaus Finkelnburg im Interview, 22.06.2015, in: http://www.berliner-zeitung.de/berlin/verfassungsrechtler-klaus-finkelnburg-im-interview–eine-richterin-mit-kopftuch-geht-heute-noch-nicht-,10809148,31016204.html?dmcid=sm_tw (zuletzt abgerufen am: 26.06.2015)

Leserkommentare

Manuel sagt:
Religion hat im Gerichtssaal nichts verloren! Finde es wirklich schlimm, wie hier ständig mit Scheinargumenten versucht werden soll, den säkularen Charakter unseres Staates zu unterwandern. Wenn die Moslems ein Problem mit dem Säkularismus haben, dann steht es ihnen völlig frei in islamische Länder zu gehen, es zwingt sie niemand hier zu bleiben. Stänig diese ewige Diskussion, bei uns ist halt in manchen Bereichen ein Kopftuch nicht erwünscht, punkt, akzeptiert das endlich mal, liebe Moslems. Ihr habt euch unserer Kultur anzupassen und nicht wir eurer islamischen Gesellschaftsordnung. Als nächstes fällt es jemanden ein, er müsse nackt vor Gericht erscheinen, weil ihm seine Religion das vorschreibt.
13.08.16
14:22
Johannes Disch sagt:
Neutralität (vor Gericht) bedeutet nicht, dass die Person, der man gegenübersteht -- in dem Fall eine Richterin mit Kopftuch-- keine Überzeugung hat. Es bedeutet, dass Sie ihr Urteil nicht von ihrem Glauben abhängig macht. Und das muss man ihr im Einzelfall nachweisen. Das Augsburger Urteil macht deutlich: Das konkrete Recht auf Religionsfreiheit muss hinter dem abstrakten Recht, von diesem Glauben nicht behelligt zu werden, zurückstehen. lg Johannes Disch
14.08.16
1:17
Ute Fabel sagt:
Mich würde interessieren, ob nach Meinung von Herrn Altas auch Salafisten berechtigt sein sollen ihre Strickmützen zu tragen, währen sie als Repräsentanten der Justiz tätig werden wollen. Auch Parteiabzeichen sind für Richter selbstverständlich im Dienst tabu. Diese Begehrlichkeiten betreffend Kopftuch auf Sonderbehandlung unter dem falschen Deckmantel der Antidiskriminierung finde ich einfach empörend: Es ist ein Armutszeugnis, wenn einem religiösen Dogma so ein unverrückbarer Stellenwert beigemessen wird, dass man dann lieber das rechtsstaatliche Ideal der Neutralität der Justiz versucht zurechtzubiegen. Keine positive Imagepflege für den Islam, eher ein Beleg dafür, dass für manche Angehörige dieser Religionsgemeinschaft (keineswegs für alle) Grundsätze des säkularen Rechtsstaats tatsächlich zweitrangig und nebensächlich sein dürften.
15.08.16
5:39
Beyza Nur sagt:
"Das Kopftuch war kein Problem, solange die Trägerinnen nur putzten. Es wurde ein Problem als sie studierten und Lehrerinnen, Richter, Anwälte, etc. wurden." :)
15.08.16
19:37
Johannes Disch sagt:
@Manuel Der Artikel verwendet keine Scheinargumente, sondern argumentiert juristisch korrekt. Ein pauschales Kopftuchverbot ist ein Eingriff in die Religionsfreiheit. Dieses ist ein Grundrecht! Und ohne gesetzliche Grundlage darf der Staat dieses Grundrecht nicht beschneiden. lg Johannes Disch.
15.08.16
23:27
Manuel sagt:
@Johannes Disch: Ich würde mich in meiner säkularen Weltanschauung diskriminiert fühlen, wenn ich vor einer Richterin mit Kopftuch stehen müsste. Religion hat im Gerichtssaal nichts verloren. Und es wird endlich Zeit, dass hier der Staat zum Schutze des Säkularismus klare Gesetze erlässt.
16.08.16
19:00
Manuel sagt:
@Beyza Nur: Also mich haben diese Symbole eines mittelalterlichen Frauenbildes schon immer gestört.
16.08.16
19:02
Johannes Disch sagt:
@Manuel Ob Sie sich von einem Kopftuch gestört FÜHLEN, ist zweitrangig. (Demokratische) Politik richtet sich nicht nach subjektiven Empfindlichkeiten, die bei jedem anders gelagert sind, sondern nach Werten und Gesetzen. Der Säkularismus muss geschützt werden? Der Säkularismus ist geschützt. Wir haben keine Staatskirche. Was vor allem geschützt werden muss, dass sind die Grundrechte. Und zu denen zählt auch die Religionsfreiheit. Und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit / Grundrecht der Selbstbestimmung. Und das Grundrecht, aufgrund seiner Abstammung, Herkunft, Ethnie und Religion nicht diskriminiert zu werden. Integration schaffen sie nicht alleine durch immer mehr Verordnungen und Gesetze. Und nicht alles, was einem missfällt oder wovon man sich gestört FÜHLT, kann man auch verbieten. Da lag Innenminister Thomas de Maiziere völlig richtig, als er sich so zu einem angedachten Burkaverbot äußerte. lg Johannes Disch.
17.08.16
18:54
Ute Fabel sagt:
Herr Burak Altaş missversteht das Grundgesetz. Für ihn bedeutet Religionsfreiheit offenbar die Ausübung eines Faustrechts - ohne Rücksicht auf das Allgemeininteresse an einer Justiz mit religiös und weltanschaulich neutralem Erscheinungsbild
18.08.16
10:08
Ute Fabel sagt:
@Beyza Nur: Wenn ein kommunistischer Straßenkehrer oder ein marxistischer Müllmann eine rotes T-Shirt mit aufgedrucktem Hammer-Und-Sichel-Emblem trägt, erscheint es klar, dass das weniger Anstoß erregt, wie wenn sich ein kommunistischer Richter, der zur Unparteilichkeit verpflichtet ist, während einer Gerichtsverhandlung eine Hammer-Und-Sichel-Plakette an den Talar steckt. Ich finde es immer sehr sympatisch, wenn einem Menschen nicht immer und überall durch Kleidungsstücke oder sonstige sichtbare Zeichen ihre Gesinnung unter die Nase halten. Das Kopftuch hat so etwas Fetischhaftes, was ich ablehne. Religiöse und weltanschauliche Haltungen sollten sich durch innere Werte ausdrücken, die gelebt wurden und nicht durch Äußerlichkeiten, an die man sich ohne Wenn und Aber klammert
18.08.16
10:58
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