Zwischen Minbar und Gemeinde

Was Muslime in Deutschland von der Freitagspredigt erwarten

Jeden Freitag versammeln sich Tausende Muslime in Deutschlands Moscheen zur Freitagspredigt – doch was kommt dabei eigentlich bei den Zuhörenden an? Dr. Murad Karacan gibt einen Einblick.

24
05
2025
0
Symbolbild: Freitagspredigt und Minbar © Shutterstock, bearbeitet by iQ.
Symbolbild: Freitagspredigt und Minbar © Shutterstock, bearbeitet by iQ.

Die Freitagspredigt (arab. Hutba) gilt als eines der zentralen Elemente islamischer Gemeindearbeit und Pflichtbestandteil des wöchentlichen Freitagsgebets. In ihr verbinden sich Spiritualität, religiöse Unterweisung und gesellschaftliche Orientierung. In den Moscheen Deutschlands nehmen jeden Freitag Zehntausende Muslime daran teil. Doch wie werden diese Predigten eigentlich wahrgenommen? Was erwarten die Zuhörenden? Welche Themen berühren sie, welche stoßen auf Desinteresse oder Unverständnis?

Diesen Fragen ging ich in einer offenen, anonymen Online-Umfrage nach, die von 606 Personen aufgerufen und von 140 vollständig beantwortet wurde. Die Umfrage war weder auf eine bestimmte Gemeinde noch auf einen bestimmten Bezirk eingeschränkt, sodass die Teilnahme von Gemeindebesuchern aus verschiedensten Gemeinden und Regionen Deutschlands erfolgte.

Die Ergebnisse mögen aufgrund des niedrigen Konfidenzniveaus nicht repräsentativ für die wöchentliche Menge an Besuchern der Freitagspredigt sein, aber sie eröffnen einen wertvollen Einblick in die Perspektive der Zuhörer, die bisher nicht systematisch untersucht wurde.

Lesen sie auch

STUDIE
Studie zeigt, worum es in Freitagspredigten wirklich geht
Die Freitagspredigt ist fester Bestandteil des muslimischen Freitagsgebets. Ein Erlanger Forschungsprojekt zeigt klare Ergebnisse: es geht um Alltag, Familie und Umwelt.

Ursprünglich entstand die Idee zur Umfrage im Rahmen meiner Lehrtätigkeit im Modul Islamische Predigtlehre. Ziel war es, den Teilnehmenden, den angehenden Predigern und religiösen Multiplikatoren, eine praxisnahe Orientierung an die Hand zu geben, wie Freitagspredigten in den Gemeinden wahrgenommen werden und welche thematischen Erwartungen die Zuhörenden an sie richten. Die Rückmeldungen aus den Gemeinden sollten dabei als Impuls dienen, um das Spannungsfeld zwischen Predigttext, Vortrag und Zuhörerschaft bewusster zu reflektieren und die eigene Ansprache stärker auf die Bedürfnisse und Lebensrealitäten der Gemeindemitglieder auszurichten.

Eine vielfältige Zusammensetzung

Die Vielfalt der Teilnehmenden ist groß: Die Altersangaben reichen von 14 bis über 60 Jahren, überwiegend Männer (lediglich 2 Frauen) beteiligten sich an der Umfrage. Auch die religiöse Praxis variiert: Einige besuchen die Moschee täglich (21 Personen), 64 mehrmals in der Woche, andere nur gelegentlich. Die Mehrheit der Befragten wurde in Deutschland geboren oder lebt bereits seit vielen Jahren hier, wobei auch Neuzugewanderte vertreten waren. Beruflich reichen die Angaben von Schülern und Studierenden über Handwerker, Sozialarbeiterinnen und IT-Fachleute bis zu Imamen und Führungskräften.

Diese Heterogenität ist ein Spiegel der Realität muslimischer Gemeinden in Deutschland: Vielsprachig, unterschiedlich sozialisiert, generationenübergreifend – und dennoch verbunden durch den gemeinsamen Ort Moschee und die gemeinsame Zeit am Freitagmittag.

Predigtbewertung: Zwischen „sehr gut“ und „irrelevant“

Die Bewertung der Freitagspredigten fällt überwiegend positiv aus: Viele (55 Personen) stufen sie als „gut“ oder „sehr gut“ (31 Personen) ein, 32 als befriedigend, 13 als „ausreichend“, einige (9) sogar als „mangelhaft“. Besonders geschätzt wird die Kürze der Predigt, die darin vermittelten klaren Botschaften sowie die aufgegriffenen Themen. Mehrsprachigkeit, vor allem die Kombination aus Deutsch und Türkisch oder Arabisch, wird vielfach als Stärke genannt.

Allerdings erweist sich die Wahrnehmung der Predigtlänge als ambivalent: So gibt es neben den vorhin erwähnten positiven Anmerkungen auch kritische Stimmen, die die Langatmigkeit der Predigt als ermüdend empfinden. Diese Einschätzungen verweisen jedoch nicht auf die tatsächliche Länge der Predigt, die ohnehin von Gemeinde zu Gemeinde variiert, sondern spiegeln nicht selten subjektive Maßstäbe, wobei erfahrungsgemäß eigenständig geschriebene und frei gehaltene Predigten zuweilen langatmig sein können.

Zudem wird kritisch angemerkt, dass Predigten oft nur vorgelesen wirken und den Bezug zur Lebenswelt der Zuhörenden vermissen lassen. Wiederholungen und monotone Vortragsweise wurden ebenso bemängelt wie die Verwendung religiöser Fachbegriffe, die ohne Erklärung bleiben. Besonders jüngere Muslime und jene mit begrenzten Sprachkenntnissen äußern, dass sie sich sprachlich und inhaltlich nicht ausreichend abgeholt fühlen.

„Nicht nur für das Jenseits, auch für das Hier und Jetzt“

Ein zentrales Ergebnis der Umfrage ist die große Bedeutung, die die Zuhörer der inhaltlichen Relevanz der Predigten beimessen. Die Themen sollen nicht nur theologisch korrekt, sondern auch lebensnah sein. Viele wünschen sich mehr Bezug auf konkrete Herausforderungen in Familie, Schule, Beruf und Gesellschaft. Die Predigt solle auch eine Form religiöser Orientierung im Alltag bieten – und dabei Fragen aufgreifen wie: Wie gehe ich als Muslimin oder Muslim mit sozialen Medien um? Wie wahre ich als Jugendlicher meine Werte in einer pluralen Gesellschaft? Welchen Beitrag kann ich im Rahmen der gesellschaftlichen Teilhabe leisten? Wie kann ich im Berufsalltag meinen Glauben leben? Wie lässt sich eine Ehe im Sinne islamischer Wertevorstellungen verantwortungsvoll und gesund gestalten, und inwiefern sind Kreditaufnahmen bei konventionellen Banken mit dem im Islam geltenden Zinsverbot vereinbar?

Diese Erwartungen zeigen: Die Predigt ist in den Augen vieler Gemeindebesucher nicht bloß eine Wiederholung religiöser Grundsätze, sondern ein spirituelles Werkzeug, um den eigenen Lebensweg zu reflektieren und zu festigen. Nicht selten wird hierzu der Wunsch geäußert, dass sich die Freitagspredigt stärker mit der islamischen Geschichte und dem Leben herausragender Persönlichkeiten befassen möge, insbesondere mit dem Vorbild des Propheten Muhammad (S) und seiner Gefährten.

Wenngleich das Interesse an theologischen Grundsatzthemen im Vergleich zu praxisorientierten Inhalten geringer ausfällt, werden sie dennoch nicht gänzlich ausgeklammert. So finden etwa der Glaube an das Jenseits oder die Frage, wie der Imân gestärkt werden könne, vereinzelt Erwähnung.

Mehr als ein Vortrag: Die Predigt als gemeinschaftliches Erlebnis

Trotz meiner anfänglichen Annahme, dass viele Freitagspredigten die thematischen Erwartungen der Gemeindebesucher verfehlen würden, fielen die Rückmeldungen zum inhaltlichen Gehalt der Freitagspredigt überwiegend positiv aus. Offenbar betrachten viele Muslime die Predigt nach wie vor als bedeutenden Ort religiöser Unterweisung, insbesondere im Hinblick auf klassische Inhalte wie gottesdienstliche Praxis (wie das Fasten im Ramadan oder das rituelle tägliche Pflichtgebet) und muslimische Tugenden. Allerdings scheint bei der positiven Bewertung folgender Aspekt einen mitentscheidenden Einfluss besitzt zu haben, nämlich dass die Predigt nicht nur inhaltlich geschätzt, sondern vielfach auch als ganzheitliches, gemeinschaftliches Ereignis positiv wahrgenommen wird.

Die wohlwollenden Reaktionen beziehen sich nicht allein auf den Inhalt oder die rhetorische Ausführung, sondern auf die Predigt als Geschehen. Mehrere Teilnehmende empfinden hiernach die Predigt nicht bloß als Vortrag, sondern als spirituelles Erlebnis sowie als besonderen Moment der Versammlung.

Nicht ohne die Zuhörenden denken

Eine zentrale Erkenntnis der Umfrage lautet: Die Predigt ist nicht vollständig, wenn nur vom Prediger und vom Text die Rede ist. Die Zuhörenden sind nicht bloß passive Empfänger – sie sind ein essenzieller Bestandteil des kommunikativen Geschehens. Ihre Interessen, Fragen, Sorgen und Erwartungen verdienen es, berücksichtigt zu werden. Muslimische Verbände, Moscheegemeinden und Prediger sind daher gut beraten, regelmäßig Rückmeldungen einzuholen, Feedbackmöglichkeiten zu schaffen und gezielt auf die sprachlichen und inhaltlichen Bedürfnisse ihrer Gemeinden einzugehen.

Impulse für eine neue Predigtkultur

Die Umfrage zeigt, dass viele Muslime sich eine stärkere Verbindung zwischen Religion und Lebenswelt wünschen. Das erfordert eine Predigtkultur, die zielgruppensensibel ist (z. B. Jugendliche, Konvertiten, ältere Muslime), sprachlich inklusiv respektive mehrsprachig agiert, inhaltlich relevant bleibt (soziale Themen, gesellschaftliche Verantwortung, Werteerziehung), didaktisch ansprechend ist (klare Struktur, praktische Beispiele und eine nachvollziehbare Sprache). Zugleich bedeutet das nicht, dass Predigten zu „populär“ werden sollen. Religionsdidaktische sowie spirituelle Orientierung bleiben unersetzlich.

Die Ergebnisse dieser Umfrage sind ein Anfang. Sie ersetzen keine umfassende Feldforschung, aber sie bieten eine Momentaufnahme und erste Hinweise, worauf es Gemeindemitgliedern beim Zuhören wirklich ankommt. Darüber hinaus geben sie Impulse für die homiletische Ausbildung, indem sie zukünftigen Predigern ein Gespür dafür vermitteln, wie ihre Botschaft aufgenommen wird – nicht nur performativ oder inhaltlich, sondern auch als Teil eines gemeinschaftlichen und spirituellen Erlebens.