„Keine Zeit für Konflikte“

Intrareligiöse Diversität zwischen pakistanischen Muslimen in Deutschland

In Pakistan bekämpfen sich Angehörige verschiedener Untergruppen des Islam erbittert. In Deutschland leben sie friedlich zusammen. Wie sieht die innere Einstellung aus?

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2014
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Seit Jahren wächst in Pakistan die Gewalt zwischen Untergruppen des Islam. „Immer wieder gibt es zum Beispiel Bombenanschläge auf Schreine, in denen die Sunniten für die Toten und die Lebenden beten“, erzählt Sajida Fazal. Die Doktorandin am Centrum für religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität erforscht, ob und wie sich das Verhältnis der Gläubigen zueinander ändert, wenn sie ihre Heimat verlassen.

Der Islam in Pakistan gliedert sich in drei große Gruppen: Schiiten, Sunniten und Ahmadiyya. Letztere werden nicht als Muslime anerkannt und in weiten Teilen der Gesellschaft gemieden. Unter den Sunniten, die in Pakistan die große Mehrheit stellen, gibt es verschiedene Untergruppen, zum Beispiel die Barelvi, die Deobandi, die Wahabi. Von den Schiiten, der zweitgrößten Gruppe, unterscheiden sich die Sunniten hauptsächlich darin, wer ihrem Glauben zufolge nach dem Tode des Propheten Mohammed als dessen legitimer Nachfolger über die Muslime herrschte: Während die Schiiten Ali, den Schwiegersohn des Propheten, als seinen Nachfolger ansehen, sehen die Sunniten Abu Bakr in dieser Rolle. Er war einer der ersten Anhänger Mohammeds und sein Schwiegervater. Die einzelnen Untergruppen unterscheiden sich zudem unter anderem darin, ob sie Heilige verehren und wie sie die Person des Propheten sehen. So sind die Deobandi der Ansicht, Mohammed sei tot, höre also auch keine Gebete. Die Barelvi hingegen feiern seinen Geburtstag und sind überzeugt, gehört zu werden. Die einzelnen Gruppen bekämpfen sich zum Teil erbittert. Bei Anschlägen auf religiöse Stätten einzelner Gruppierungen gibt es nicht selten Tote.

Einstellung der Pakistanischen Muslime in Deutschland

Sajida Fazal, selbst Muslima aus Pakistan, widmet sich der Einstellung ihrer Landsleute in Deutschland. Rund 35.000 pakistanische Muslime leben hier. Um herauszufinden, ob und wie sich die intrareligiöse Diversität unter ihnen verändert, nachdem sie ihre Heimat verlassen haben, führte sie strukturierte Interviews mit je vier bis sechs Personen in Bonn, Berlin, Stuttgart, Hamburg und Frankfurt. Befragungen in München stehen noch aus. Ihre Interviewpartner suchte Fazal über pakistanische Studierendenorganisationen, per Facebook, per Schneeballeffekt. „Ich war überrascht, wie schwierig es war, Leute zu finden, die zu einem Interview bereit waren“, erzählt sie. Obwohl die Interviews auf Urdu, der Landessprache Pakistans, stattfanden und sie ihren potenziellen Gesprächspartnern so weit wie möglich entgegenkam – Ort und Zeit des Interviews konnten sie zum Beispiel frei wählen –, sagten viele ohne Angabe von Gründen ab.

„Ihre Religion ist für pakistanische Muslime ein extrem sensibles Thema“, sagt Sajida Fazal, „wohl auch wegen der Konflikte in der Heimat.“ Alle eint die Angst vor Zurückweisung durch Deutsche, vor allem wegen der Medienberichterstattung über Anschläge. Aus ihrem Glauben machen deshalb viele ein Geheimnis, auch gegenüber Sajida Fazal. Die Zurückhaltung ging so weit, dass die sunnitischen Interviewpartner, die sie schließlich fand, im Gespräch keine Angaben machten über ihre Zugehörigkeit zu einer der verschiedenen Untergruppen. Für eine Zuordnung musste die Forscherin Rückschlüsse aus den Antworten auf Fragen zu anderen Themen ziehen. „Um niemanden zu brüskieren war es allerdings sehr wichtig, dass die Fragen vorsichtig formuliert waren“, erzählt sie. „Es durfte zum Beispiel keine Frage dabei sein, die sich offensichtlich auf die Bräuche einer bestimmten Untergruppe bezieht, weil das Angehörige anderer Untergruppen beleidigt hätte.“ So veränderte sich das Interview auch im Laufe der Studie mehrfach, weil es an die Befindlichkeiten der Gesprächspartner angepasst werden musste.

Trend feststellbar: Einstellung genauso wie in Pakistan

Die Interviewpartner waren häufig Studierende oder ehemalige Studierende. Viele lebten schon lange in Deutschland, manche aber auch erst ein Jahr. Als besonders schwierig stellte es sich heraus, Frauen für ein Interview zu gewinnen. In Bonn fand sich keine einzige, in Frankfurt und Berlin je nur eine. Die schließlich befragten Frauen waren meistens die Ehefrauen befragter Männer. Die Antworten auf die Interviewfragen waren generell häufig einsilbig. „Einige meiner Gesprächspartner sagten nur ‚ja‘ und ‚nein‘. Da war es extrem schwierig, Einblick in ihre Einstellung zu gewinnen“, bedauert Sajida Fazal.

Nachdem sie einen guten Teil der Interviews ausgewertet hat, kann sie jedoch einen Trend feststellen: Die Einstellung gegenüber anderen Glaubensgruppen ist in Deutschland genauso wie in Pakistan. Auch hier gibt es zum Beispiel keinen Kontakt zwischen den Ahmadiyya und anderen Gruppen. Die Menschen behalten ihren Glauben und ihre Bräuche bei, wenn sie auch zunächst oft von den persönlichen Freiheiten der westlichen Gesellschaft beeindruckt sind. „Vor allem junge Studierende haben den Wunsch geäußert, an den Annehmlichkeiten der westlichen Kultur teilzuhaben“, erzählt Sajida Fazal. „Aber nach der Heirat und der Geburt von Kindern besinnen sie sich stark auf ihren Glauben und empfinden eine besondere Verantwortung, ihn durch vorbildliches Verhalten weiterzugeben.“ Koranschulen können die Kinder online besuchen. Man kleidet sich dem Glauben entsprechend, man hängt zu Hause Koranverse auf.

Kein Bezug zu Glaubensorganisationen

Auffällig im Vergleich mit Pakistan sei aber, dass die Menschen hier in Deutschland keinen Bezug zu Glaubensorganisationen haben. Während eines Studiums gehören sie zwar häufig (nicht-religiösen) Studierendenorganisationen an. Nach dem Examen ist es damit aber vorbei, und es tritt auch keine religiöse Organisation an diese Stelle. Während man in Pakistan deutlich stärker innerhalb der einzelnen Glaubensrichtung organisiert ist und jede von ihnen über eigene Moscheen verfügt, gehen in Deutschland alle in dieselbe Moschee, begehen religiöse Feste gemeinsam und essen gemeinsam – in Pakistan undenkbar.

„Zusammenfassend kann ich festhalten, dass es in Deutschland dieselben intrareligiösen Unterschiede gibt wie in Pakistan. Anders als dort werden sie hier aber nicht thematisiert“, sagt die Forscherin. „Die Leute hier sagen: Wir haben keine Zeit für so was. Es gibt keinen Grund für Konflikte.“

Diese Gelassenheit in ihr Heimatland zu übertragen, ist ein großer Wunsch von Sajida Fazal. „Man muss sehr früh anfangen, den Menschen eine tolerantere Einstellung zu vermitteln. Zurzeit ist es so, dass sich in Pakistan jeder dafür verantwortlich fühlt, wie sein Nachbar den Islam lebt. Wir müssen aber dahin kommen, dass die Menschen sehen: Allah ist dafür verantwortlich. Ich kann nur mein eigenes Leben richtig leben.“

Meike Drießen

Dieser Text erschien zuerst im Onlinemagazin RUBIN,
dem Wissenschaftsmagazin der RUB:
http://www.rubin.rub.de/de/keine-zeit-fuer-konflikte.