Was ist Wissen? Und was ist Recht? Und was ist überhaupt mit Islamischer Theologie gemeint? Das Verständnis über Begriffe hat auch in der islamischen Geschichte dazu geführt, dass viele verschiedene Disziplinen durch Begriffe geprägt und unterteilt wurden. Ein Blick auf diese Unterteilung und die heutige Ordnung gewährt dieser Beitrag von Mehmet Genç.
Nicht nur seit den Diskussionen für eine geeignete Bezeichnung der neuen islamischen Theologie-Studiengänge besteht die Frage, inwiefern der ursprünglich griechische Begriff „Theologie“ („die Lehre von Gott“) auf die „Islamische Theologie“ übertragbar ist. Hinzu kommt auch der Begriff der „Islamischen Wissenschaften“ (vgl. mit „Islamische Studien“), wobei dies die europäische Islamwissenschaft nicht ausschließt, sondern methodisch durchaus miteinschließen kann.
Die islamische Geschichte kennt eine Reihe von Begriffen, mit denen sie die verschiedenen Disziplinen der gesamten „Theologie“ auf- und unterteilt. Diese Differenzierungen in unterschiedliche Wissenschaftszweige (Koran, Exegese, Hadith, Recht, Mystik, Arabisch, Geschichte, Philosophie usw.) hat im Laufe der Jahrhunderte eine nicht nur begriffliche Entwicklung durchlaufen.
Der Begriff „Ilm“ („Wissen“) umfasste zu Beginn der islamischen Geschichte zunächst die Kenntnis des Korans und der Hadithe. Dafür, dass jemand aus den jeweiligen Texten entsprechende Regelungen und Gebote ableitete, benutzte man den Begriff „Fikh“. Das Wort „Fikh“ bedeutet so viel wie „verstehen“, „weitreichende Kenntnis in einer Angelegenheit haben“. Jemand, der die besondere Kenntnis hatte, aus den jeweiligen Texten Bestimmungen abzuleiten, wurde somit „Fâkih“ genannt. In einem Hadith spricht der Prophet Muhammad (s) ein Bittgebet (Duâ) für den Gefährten Abdullah bin Abbâs (r): „Allah mache ihn im Glauben zu einem Fâkih und lehre ihm die Deutung (Ta’wîl).“ und meint hier nicht das islamische Recht. Fikh war mehr als bloßes „Wissen“. Es umfasste ebenso die Fähigkeit, sich mit dem Wissen intellektuell auseinanderzusetzen und zu (neuen) Erkenntnissen zu gelangen. So wurde der Begriff Fikh in der Anfangszeit nicht – wie es heute der Fall ist – auf das islamische Recht begrenzt.
Bei der Verwendung des Begriffs Fikh wurde, unabhängig davon, ob es sich um religiöse Praxis (Amal) oder um Glaubensgrundlagen (Itikâd) handelte, kein Unterschied gemacht. Mit der Zeit setzte sich eine Differenzierung in religiöse Praxis und Glaubensgrundlagen durch. Diese Unterscheidung in Handlung und Glaube hatte auch Auswirkungen auf ihre Terminologie. Zu Beginn der Beschäftigung mit den Glaubensinhalten nannte man diese Disziplin etwa „al-Fikh al-akbar“. Im heutigen Sprachgebrauch würde man von der „höchsten Disziplin“ der „Islamischen Wissenschaften“ sprechen. Diese Begrifflichkeit ist auch der Titel eines der ersten Werke, die uns in diesem Bereich überliefert wurden. Hierbei ist es zweitrangig, ob der Verfasser wirklich Abû Hanîfa ist oder nicht.
In der Folgezeit geht die begriffliche Unterscheidung in die Begriffe „Ilm al-Tawhîd“ („Lehre der Einheit Gottes“) und „Usul al-Dîn“ („Fundament des Glaubens“) über. Diese Bezeichnungen tauchen in vielen Werken seiner Zeit auf und zeigen auf die ursprüngliche Bezeichnung für die Disziplin rund um die Glaubensinhalte. Auch heute noch ist z. B. „Usul al-Dîn“ eine gängige Bezeichnung für diese wissenschaftliche Disziplin.
Innerhalb der ersten Jahrhunderte des Islams manifestieren sich vor allem zwei Ansätze, die islamischen Glaubensgrundlagen zu bestimmen bzw. zu erläutern. Die „Ahl al-Hadith“ („Anhänger der Überlieferungen“) sahen für diesen Zweck die überlieferten religiösen Texte für ausreichend. Dahingegen waren beispielsweise Abû Hanîfa und seine Anhänger („Ahl al-Ray“) oder aber auch die als die ersten Mu’taziliten bekannten Wâsil bin Ata und Amr bin Ubayd der Auffassung, dass neben den Überlieferungen auch der individuelle Verstand bzw. die Vernunft seinen Platz hat und dieser zu gebrauchen ist. Die Dispute über die Glaubensinhalte wurden als „Kalâm“ bezeichnet. Kalâm ist nichts weiter als das arabische Wort für Disput, Unterhaltung etc. Dieses Wort wurde Anfang des 9. Jahrhunderts noch in der Bedeutung des Disputs benutzt und nicht als Bezeichnung für eine wissenschaftliche Disziplin. Der in dieser Phase der Entwicklung eingesetzte „Verstand“ hatte nichtsdestotrotz seinen Ausgangspunkt innerhalb der Religion. Er unterscheidet sich deutlich von dem „philosophischen“ Verstand, welcher in den nächsten Jahrhunderten Einzug in die islamische Welt erhalten sollte.
In den darauffolgenden Jahrhunderten fand die griechische Philosophie Eingang in die islamische Wissenstradition. Mit dem neuen Begriff der Ratio und der aristotelischen Logik standen den islamischen Gelehrten neue „Werkzeuge“ und Methoden zur Verfügung, mit denen sie die Glaubensinhalte neu aufarbeiteten und auch damit begründeten. Die Vorgehensweise, dass neben den religiösen Texten, Koran und Hadith, nun auch der Verstand ein zentraler Wert und eine bedeutende Funktion beigemessen wurde, stieß in den Reihen der Ahl al-Hadith auf heftige Kritik. Zumal diese neue Methodik im Großen und Ganzen ein Import war. Die islamischen Gelehrten wurden mit einer Reihe von neuen Begriffen konfrontiert, die sie in dieser Form bislang nicht kannten. Ähnlicher Kritik waren zuvor auch die Ahl al-Ray ausgesetzt, wobei diese sich noch nicht einmal auf „fremdes“ Gedankengut gestützt hatten. Die Ahl al-Hadith sahen für die Erläuterung des Glaubens die religiöse Schrifttradition als ausreichend an und warfen den Ahl al-Ray vor, willkürliche Entscheidungen zu treffen. Diese neue Methodik erhielt in dieser Phase den Namen Kalâm. Nicht die Disziplin als solche, sondern nur die angewandte Methodik bei der Aufarbeitung der Glaubensgrundlagen geht von der Wortbedeutung „Disputation“ über in ein bestimmtes Methodikverständnis „Kalâm“.
Die Methodik der griechischen Philosophie wurde von immer mehr Gelehrten, in der einen oder anderen Form, in die eigene Tradition integriert. Diese Übergangs- und Integrationsphase von neuen theologischen/philosophischen Ansätzen hat neben den sozio-kulturellen Entwicklungen auch eine Reihe von anderen Gründen. Ab etwa al-Gazali (gest. 1111) entwickelt sich der Begriff Kalâm weg von einer Bezeichnung für die Methodik hin zu einer Bezeichnung für die Disziplin als solche (Itikâd). In der Folgezeit etabliert sich nun der Begriff Kalâm neben Ilm al-Tawhîd und Usul al-Dîn als Bezeichnung für die Disziplin „Glaubensgrundlagen“ der islamischen Wissenschaften.