Mustafa Yeneroğlu, Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG), beklagt fehlende gemeinsame Ideale bei Muslimen in Europa. Konkurrenzdenken, mangelndes Bewusstsein für Sachthemen und auch ein fehlleitender staatlicher Einfluss müssten überwunden werden. Dies könne nur mit gemeinsamer Anstrengung gelingen, schreibt Yeneroğlu.
Wenn wir in die „Ära der Glückseligkeit“ (Asr-ı Saâdet) zurückblicken, sehen wir, dass unser Prophet (s) in der neu gegründeten islamischen Gemeinschaft zuerst die Blutfehden und das Stammesdenken aus der Zeit der Unwissenheit (Dschâliyya) abgeschafft hat. Aus einer gespaltenen, nach Volk, Stamm, Herkunft und Adel in Hierarchien aufgeteilten Gesellschaft formte er eine Gemeinschaft, die im Glauben und in ihren Zielen miteinander harmonisierte. Dieses Beispiel des Propheten, seine Weigerung das vorgefundene ausgrenzende Stammesdenken sich zu eigen zu machen, sollte auch Muslimen heute – egal in welchem Land sie sich auch befinden mögen – eine Rechtleitung sein.
Die Geschwisterlichkeit des Islams, die besonders für multikulturelle und multiethnische Gesellschaften ein vereinigendes Potenzial birgt, brauchen wir gerade in Europa, wo Muslime mit unterschiedlichen ethnischen, kulturellen und sprachlichen Hintergründen zusammenkommen.
Die Muslime in Europa gehören inzwischen zu einem selbstverständlichen Teil der hiesigen Gesellschaft. Dennoch sind sie zahlreichen Diskriminierungen und teilweise systematischen Ausgrenzungen ausgesetzt. Gerade bei der Diskussion um berechtigte Anerkennungsforderungen zeigt sich, dass sie noch nicht als gleichberechtigte Staatsbürger wahrgenommen werden. Sie werden immer wieder verallgemeinernd im Zusammenhang mit Extremismus, Parallelgesellschaften und Sicherheitsbedenken thematisiert. Probleme, wie der Streit um das muslimische Kopftuch, die Vereinbarkeit islamischer Werte mit dem Leben in Europa und die Vermengung dieser Debatten mit nationalen Zuwanderungsproblemen dienen dann als Begründung für zahlreiche Ausgrenzungsmechanismen.
Zudem missbrauchen Politiker rechtsextremer oder rechtspopulistischer Parteien und manche gesellschaftliche Akteure die Angst vor dem Verlust des wirtschaftlichen Wohlstands in Europa und zeigen vor allem auf Muslime als Verursacher dieser Gefahr. Sie schüren Furcht und Hass gegen vieles, was sie außerhalb der Mehrheitsgesellschaft sehen. Während die Muslime in vielen Ländern in Europa mit solchen Problemen zu kämpfen haben, gehören sie bedingt durch ihre Bildungssituation sowie ihren wirtschaftlichen und sozialen Status noch recht häufig zu den unteren Schichten der westeuropäischen Gesellschaften.
Wegen genau dieser Probleme haben die Muslime die Aufgabe, den Gesellschaften, in denen sie leben, die Möglichkeit einer kosmopolitischen Gesellschaft vorzuleben, intensiv am öffentlich-gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, zum Gemeinwohl beizutragen und die Entwicklung ihrer eigenen Strukturen voranzutreiben. Unter diesen Umständen sollte die Koordination und Zusammenarbeit der Muslime auf den höchstmöglichen Grad ein Thema sein, dem wir viel mehr Anstrengung widmen müssen.
Heutzutage sind es leider nicht die eigenen gemeinsamen Ideale, die in den europäischen Ländern die islamischen Gemeinschaften zusammenbringen. So traurig es ist, irrationales Konkurrenzdenken, mangelndes Bewusstsein für die Sachthemen, teilweise auch der fehlleitende staatliche Einfluss sind keine seltenen Erscheinungen. Die Überwindung dieses Zustands, der im völligen Widerspruch zum islamischen Prinzip der Geschwisterlichkeit steht, kann und muss durch gemeinsame Anstrengungen erreicht werden. Nur auf diesem Weg können wir die Geschwisterlichkeit unter Muslimen beleben, die Anliegen der Muslime auf die beste Weise repräsentieren und über diese Grundhaltung gemeinsame institutionelle Vertretungsstrukturen voranbringen. Als Muslime können wir unserer Verantwortung, die sich nicht nach Gemeinschaft, Rechtsschule, Ethnie oder Sprache verändert, nur gerecht werden, wenn wir die jeder für sich limitierten Möglichkeiten in einem gemeinsamen Großen zusammenführen und weiterentwickeln. Vor uns liegen große Aufgaben.
Dabei ist die herausragende Aufgabe die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse und die Erfüllung der Erwartungen der muslimischen Basis. Vor diesem Hintergrund ist neben den Aufgaben im Innenverhältnis der Religionsgemeinschaften vor allem die Etablierung von islamischen Lehrstühlen, die Ausbildung von Imamen, der islamische Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, die Überwindung von Widrigkeiten beim Moscheebau, die Vertretung in Radio- und Fernsehräten, die gleichberechtigte Teilhabe der Muslime an allen offiziellen Beratungsgremien – so wie es bei anderen Religionsgemeinschaften der Fall ist – und im Bereich der Wohlfahrtspflege die Gründung und Etablierung von Kindertagesstätten, Schulen, Krankenhäusern und Pflegeheimen von großer Bedeutung. Falls wir zu keiner Einheit finden, müssen wir uns als muslimische Gemeinschaft mit dem Zerrbild der theoretischen Möglichkeiten und der Zurückstellung unserer Rechte abfinden.
Zum heutigen Zeitpunkt müssen wir feststellen, dass es in erster Linie Aufgabe der Muslime selbst ist, selbstverantwortete Hindernisse zu beseitigen und gemeinsame religionsverfassungsrechtliche Vertretungsstrukturen in allen Bundesländern zu etablieren. Der Rechtsstaat kann nur Angebote setzen; diese in Anspruch zu nehmen, ist Aufgabe der Beteiligten selbst. Wenn wir in diesem Sinne unsere Verantwortungen genauer betrachten, stellen wir fest, dass wir als Muslime in Europa, mehr denn je, eine Einheit benötigen, die über Organisationen, Rechtsschulen und Nationen steht und sich in der Lebenswirklichkeit und den zukünftigen Herausforderungen verortet. Wir müssen uns als Ganzes auf unsere gemeinwohlorientierten Prioritäten konzentrieren.
Wenn wir die islamischen Gesellschaften betrachten, die in der Geschichte ihr Dasein bewahren konnten und nützliche Dienste für die gesamte Menschheit erbracht haben, stellen wir Folgendes fest: Der Grund hierfür ist, dass diese Gesellschaften in Bezug auf Gerechtigkeit, Moral und Wissen Epochen geprägt haben und ein ausgeprägtes Verständnis für Geschwisterlichkeit hatten, dass keine Unterschiede hinsichtlich Ethnie, Sprache und Hautfarbe zuließ. Für unsere Zukunft ist die Geschwisterlichkeit unsere wichtigste Basis.