Die Debatte um die „Import-Imame“ hält an. Doch wie sieht das Berufsbild des Imams überhaupt aus und wie hat es sich im Laufe der Geschichte entwickelt? Im Gespräch mit Dr. Abdurrahman Reidegeld klären wir die wichtigsten Fragen um den heiß diskutierten Imam.
IslamiQ: Das „Berufsbild“ der Imame ist in großen Teilen der islamischen Welt eher darauf beschränkt, die täglichen Gebete zu leiten, religiöse Fragen zu beantworten und die religiöse Bildung der Gemeinde zu gewährleisten. War das immer so?
Abdurrahman Reidegeld: Das war sicherlich nicht immer der Fall. Ursprünglich betete der Prophet (s) selbst vor, wenn er in Medina war; aber auch die Prophetengefährten nahmen die Imam-Funktion (im Sinne einer Vorbeterrolle) ein, wenn sie auf Reisen ohne den Propheten unterwegs waren. Schon damals erwartete man, dass der Vorbeter im Gebet (arab. „al-imâm fi-s-salâh) auch in Moral und Wissen eine Vorzeigerolle innehatte (arab. „al-imâm al-‚âlim“). Nach dem Tode des Propheten wurde der Titel „Imam“ auch Synonym für bedeutende Gelehrte, denen dieser Titel beigegeben wurde (Imam Abû Hanîfa, Imam asch-Schâfi’î) und entwickelte sich auch nach dem Prophetenvorbild zum Begriff des Staatsoberhaupts, dem Amt des „bedeutendsten Imamats“ (arab. „Al-Imâmatu l-`uzmâ“). Selbstverständlich beantworteten diese herausragenden Personen und Gelehrten auch religiöse und theologische Fragen, aber es handelte sich um große Persönlichkeiten mit enormem gesellschaftlichem Einfluss.
IslamiQ: Wann änderte sich das?
Reidegeld: Diese Stellung wurde stark verringert, als sich der damalige osmanische Sultan Yavuz Selim I. um 1517 entschloss, religiöse Funktionsträger wie Gebetsausrufer (Muezzin) und eben Imam des Gebets zu offiziell besoldeten Verwaltungsbeamten umzuformen. Schon damals stellte sich das Problem, dass die einfachen Menschen in den damaligen frühosmanischen Städten alles andere als intellektuell-gebildet waren und daher nach Meinung des Herrschers vermehrt religiöse Ausrichtung benötigten.
So entwickelte er das noch heute bestehende System, dass sich die Imame „hauptberuflich“ um die religiöse Bildung und Erziehung kümmern und in diesem Sinne bezahlt werden (denn für die eigentliche Gebetsdurchführung dürfen sie nicht bezahlt werden). So wurden aus unabhängigen Denkern staatsbesoldete kleine Religionsbeamte, die aber immerhin einen gewissen Level an religiös-theologischer Grundausbildung bewirken konnten. In diesem Sinne besteht dieses System eben auch in der heutigen Türkei, aber auch in Europa, fort.
IslamiQ: Aus der Vorbeter-Funktion wurde also ein Beruf.
Reidegeld: Ein regelrechter Beruf wurde es da, als die rein religiösen Funktionsträger der Ära des Sultans Selim I. durch Abgänger der ersten Jahrgänge der religiösen Stiftungsbereiche, etwa um die sogenannte Külliye der Süleymaniye in Istanbul, abgelöst wurden. Dort konnten die nur mäßig begabten Abgänger gut unterkommen, und diese Tradition hielt sich nach Republiksgründung der Türkei auch bei den sogenannten theologischen Ausbildungsstätten, den „Ilâhiyât“. Nunmehr wurde aus der formal besoldeten religiösen Funktion ein regelrechter Beruf.
Interessanterweise ist diese Entwicklung im islamischen Westen (Maghrib) nicht ganz so eindeutig verlaufen; dort bilden meist immer noch privat von den Gemeinden bestimmte oder akzeptierte Imame den Hauptanteil. Außerdem kennt man dort keine vergleichbare staatliche Einflussnahme auf Einsetzung der Imame, wie im nationaltürkischen Bereich.
IslamiQ: Wer kann aus theologischer Sicht überhaupt Imam sein?
Reidegeld: Als Vorbeter jeder männliche Muslim, der ausreichend über die Regeln des Gebets bescheid weiß. Bei Frauen kann auch eine Frau mit entsprechender Eignung Vorbeterin des Gebets sein. Versteht man Imam aber weitergehend, dann muss diese Person auch über die grundsätzlichen religiösen Pflichten und rituellen Handlungen wissen, muss die grundsätzlichen Glaubensinhalte mit ihren internen Herleitungen und Begründungen verstehen und beibringen können. Ein Iman, der ständig den Dienst in einer Gemeinde ausübt, muss darüber hinaus auch die Bestattungsregeln beherrschen, die Menschen auf die Pilgerfahrt vorbereiten können und den Kindern der Gemeindemitglieder die elementaren Grundlagen des Islams in Handlung und Überzeugung vermitteln können. Dasselbe gilt für eine weibliche Imama, nur mit dem Unterschied, dass sie sich vornehmlich um die weiblichen Gemeindemitglieder kümmert und nicht bei Gemeinschaftsgebeten der Männer vorbetet.
IslamiQ: Von einem Imam in Europa wird sehr viel erwartet. Er soll als Vermittler zwischen den Kulturen agieren, ein Vorbild für Jugendliche sein und die geistige und moralische Führung der Gemeinde übernehmen. Zudem soll er auch Gefängnisbesuche machen, sich am interreligiösen Dialog beteiligen, Integrationsarbeit leisten und an Präventionsprojekten mitwirken. Was davon ist aus religiös und historisch gesehen für den heutigen Kontext vertretbar?
Reidegeld: Diese Aufgaben entstanden weitgehend in den letzten 20 Jahren in Europa, weil die Imame in der Sicht ihrer Gemeinden zu Integrationsfiguren und Stellvertretern der religiösen Standpunkte wurden. Es gab und gibt ja in Europa – von Bosnien und den Balkanstaaten abgesehen – keine echte und anerkannte Form des Mufti-Amtes, des Kadi-Amtes oder eines Scheich al-Islam (auch wenn das von manchen Dachverbänden gern deklariert wird). So blieb in der Struktur der islamischen Gemeinden nur der einfache, arme Imam übrig, der zumindest manchmal auch islamische Theologie im Ausland studiert hatte.
Es muss auch anerkannt werden, dass einige der Imame hervorragende Erfolge dabei erzielten, die nichtmuslimischen Nachbarn, Schulklassen und Ansprechpartner von Stadtverwaltungen und kirchlichen Einrichtungen mit islamischen Standpunkten, den Moscheen usw. bekannt zu machen – und das vor dem Hintergrund, dass ja seinerzeit solche interkulturellen Begegnungen nicht erprobt waren, niemand ein Patentrezept dafür hatte.
Heute sind hingegen viele Gemeinden fest in dieser intersozialen Schiene, machen regelmäßig Moscheeführungen und versuchen, sich den nichtmuslimischen Mitmenschen gut zu präsentieren. Gefängnisbetreuung ist ein relativ neues Feld, das aber recht erfolgreich von vielen Imamen und religiösen Freiwilligen in Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen beackert wird – wenn auch meist ehrenamtlich. Im Gegensatz dazu ist Prävention von gewaltbereiten Jugendlichen eher ein Feld von Streetworkern, die aus den Gemeinden stammen und in ihrer Art die oft Gemeinde-fernen Jugendlichen erreichen; die Imame können das meist nicht mehr, weil die Problemkinder längst mehr dem Internet als einer lebendigen Gemeinde verbunden sind.
Trotzdem – oder vielleicht gerade darum – ist eine Mitarbeit ausgebildeter Imame für einen Erfolg der diversen gesellschaftlichen Projekte unabdingbar; ohne die Imame wird man die Gemeinden und die praktizierenden Muslime nicht erreichen.
IslamiQ: Ist es nicht widersprüchlich, dass die Politik den Imamen immer mehr Aufgaben überträgt, sie aber gleichzeitig stark kritisiert?
Reidegeld: Die Imame sind in den Augen mancher Politiker Erfüllungsgehilfen, bessere Helfer, um den Staatswillen in die Gemeinden zu transportieren. Untergründig wird auch eine Anklage gegen die Imame mitschwingen: sie seien potentiell für Radikalisierung mitverantwortlich, etwa durch zu wenig Integrationswillen. Dabei wird oft gesellschaftliches Engagement der Imame schlicht ausgeblendet. Die Imame wiederum können ohne Identitätsverlust diese aufgezwungene Rolle nicht annehmen, und auch die Gemeinden würden solche politikhörigen Imame nicht akzeptieren. Die oben erwähnten neuen gesellschaftsbezogenen Aufgaben haben Imame und Gemeinden aber schon angenommen, einfach weil die gesellschaftliche Realität das erforderte, aber nicht, weil eine populistische Sicherheits-affine Beauftragung von manchen Lokalpolitikern akzeptiert wurde.