









Muslime widmen sich Geistesgrößen, die das Abendland prägten. Einer von ihnen ist Rainer Maria Rilke. Ahmet Aydın stellt den Dichter vor und schreibt über die erste Begegnung.
„Ihre Büchersendung befindet sich im Antiquariat in der Straße so-und-so.“ – Das war der Beginn meiner Liebschaft mit Rainer M. Rilke. Es war ein gewöhnlicher Tag. Leicht bewölkt, die Sonne schien und die Temperatur war so mild, dass ich ohne Jacke oder Mantel aus der Wohnung konnte. Ich hatte mir vor längerem zwei Bücher bestellt. Und es dauerte ziemlich lange, bis sie ankamen. Der Tag war nun endlich gekommen.
Ein Buch über Physiognomie eines muslimischen Gelehrten aus dem 13. Jahrhundert und ein Buch über die Erziehung des Herzens, aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Antiquariat war etwas zu weit entfernt, deshalb fuhr ich mit dem Auto. Nachdem ich geparkt habe, bin ich eingetreten. Ein seltsames Gefühl ist in mir aufgekommen: als ob jemand mit starker Ausstrahlung im Raum ist. Solche Momente habe ich selten erlebt. Gewöhnlich empfindet der Mensch so etwas, wenn sein Herz beginnt für jemanden zu schlagen. Mein Puls schlug schneller und ich habe mich umgesehen, ob ich denn nicht beobachtet werde. Weder den Besitzer des Antiquariats konnte ich finden, noch einen Mitarbeiter. Und während ich mich umblickte, blieben meine Augen auf einem Buch haften. „DAS! Das ist es, dieses Buch ist es, das die Atmosphäre im Raum verändert!“
Ich trat näher zum Buch, das einzeln auf Augenhöhe im Regal stand. Das Cover war zu sehen: „Rainer Maria Rilke“ stand in großen Buchstaben auf einem Gemälde des Poeten. Kleiner daneben stand: „Ein Wissender des Herzens“. Das Atmen wurde mir schwerer vor Aufregung. Warum ich so aufgeregt war, konnte ich mir nicht erklären.
Ich schlug das Buch auf und da war es. Ein Zitat, das sich mir ins Herz brennen würde: „Das Wort muss Mensch werden. Das ist das Geheimnis der Welt!“ Mein Herz bebte! Ich musste mich fassen und plötzlich kam der Besitzer und fragte mich, wie er mir helfen könne. Das war mir alles zu viel. Ein Monolog in meinem Innern begann: „Warum war ich eigentlich hier? Was habe ich eigentlich gemacht, bevor ich herkam? Warum lebe ich eigentlich? In meiner Hand ist ein Abholschein, genau. Ich bin hier, um Bücher abzuholen.“ Ich zeige dem Besitzer den Schein und er geht die Bücher holen.
„Aber ich will dieses Buch! Rilke! So oft habe ich den Namen schon gehört, aber ich wusste nicht, welche Tiefe in ihm steckt. Wer so einen Satz schreibt, der wird noch ganz andere Perlen auf seinem Herzensgrund haben. Mein Portemonnaie hatte ich nicht bei mir, Mist! Ich muss wiederkommen, aber ich habe einen Termin – stimmt, da war ja was. Ich wollte nur kurz hierher, damit die Bücher nicht zurückgesendet werden. Ich komme wieder! Aber was ist das für ein Satz: „Das Wort muss Mensch werden. Das ist das Geheimnis der Welt!“ Ich bin Mensch, der lesen und schreiben kann und schon viel gelesen hat, aber das war „ein solches Wort, zu viel für einen Weisen“, wie Rilke in seinem Gedicht „Die Berufung“ über den Propheten Muhammed (s) schreibt.
Ja, das Wort muss Mensch werden. Worte sollen verkörpert werden. Auf die Frage, wie der Charakter des Propheten war, antwortete seine Frau Aischa (r) nach dessen Tod: „Lest ihr nicht den Koran? Der Koran war sein Charakter.“ (Muslim, Musâfirîn, 139) Das Wort, der Koran, war der Charakter des Propheten. Das Wort wurde in ihm Mensch. Und ich fragte mich, in welchem Werk sich wohl das Zitat von Rilke findet. – Schicksal! Er schrieb die Worte, die sich mir ins Herz brannten, am 24.07. – An meinem Geburtstag. – Für mich stand fest: Ich muss Rilke besser kennenlernen.
Um einen Menschen kennenzulernen, muss ich mit seiner Art des Denkens vertrauter werden. Erlebtes und die Umgebung prägt das Denken. Rilke war Zeit seines Lebens ein Reisender. Er hatte kein dauerhaftes Zuhause im klassischen Sinn. Dennoch gab es einige Orte, an denen er länger verweilte oder wiederholt lebte, oft als Gast bei Mäzenen oder Künstlerfreunden. Geboren wurde er 1875 in Prag, das damals Teil der Habsburgermonarchie war. Er hatte Studienaufenthalte in Linz, Prag und München. 1899 und 1900 bereiste er Russland. Ab 1902 war er immer mal wieder in Paris. Sein Weg führte ihn zu Aufenthalten in Italien, Schweden, Dänemark und der Schweiz.
In Paris arbeitete er zwischenzeitlich für Auguste Rodin als Sekretär. In der französischen Hauptstadt entstanden die meisten seiner Ding-Gedichte. Wie es der Name sagt, sind es Gedichte über Dinge. Damit sind nicht einfach Gegenstände gemeint, sondern auch Kunstwerke oder Tiere. Zu den berühmtesten gehören: „Das Karussell“, „Der Panther“ und „Archaïscher Torso Apollos“. Durch diese Art der Dichtung erhält der Leser Einblick in Rilkes Gedankenwelt. Während mancher Mensch die Dinge einfach nur gedankenlos betrachtet, ist der Poet gedankenreich und drückt aus, was der Anblick des jeweiligen Dings ihm inspiriert. Wer die Gedichte liest, erhält den Eindruck, dass die Dinge lebendig wären und sprechen können.
Paris war für Rilke eine ambivalente Stadt: einerseits inspirierend, aber auch bedrückend. Er wählte es als Schauplatz für seinen Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Es beginnt mit dem denkwürdigen Satz: „So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.“ (Das klingt wie ein erster Anflug des Paris-Syndroms.) Rilke erfreut sich der Ruhe. Er mag das Gespräch, das Beisammensein mit Menschen und zugleich ist ihm die Einsamkeit das wertvollste. In einem Brief, sagt er, die höchste Form der Liebe sei es, die Einsamkeit eines anderen Menschen zu achten. Denn: Jeder Mensch sei eine Einsamkeit. Und Liebende seien zwei Einsamkeiten, die einander „schützen, grenzen, grüßen.“
Während Rilke über die Liebe spricht, fühlen sich Muslime an Hafis erinnert. „Im Anfang scheint die Liebe leicht, doch dann erfolgen Schwierigkeiten“, heißt es am Ende des ersten Gedichts in dessen Diwan. Bei Rilke klingt das so: „Liebe ist schwer. Liebhaben von Mensch zu Mensch: das ist vielleicht das Schwerste, was uns aufgegeben ist, das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung, die Arbeit für die alle andere Arbeit nur Vorbereitung ist.“ Liebe sei mit einer „Lernzeit“ verbunden. Dies schreibt er in seinem meistgelesenen Werk, den Briefen an einen jungen Dichter, die posthum von Franz Kappus herausgegeben wurden.
Rilkes Frau respektierte sein Bedürfnis nach Einsamkeit. Und er respektierte ihres. Sie heirateten 1901 und blieben zeitlebens verheiratet. Ab 1911 jedoch lebten sie getrennt. Bevor er sich Ende 1911 das erste Mal nach Triest ins Schloß Duino begibt, bereist er Algier, Tunis und Kairouan. Sein bedeutendstes Werk, die Duineser Elegien, beginnt er Ende 1912. Zwischenzeitlich war er in Spanien und wurde dort fasziniert von der Architektur der damals andalusischen Muslime.
Er wird die Elegien erst nach Ende des ersten Weltkriegs abschließen. Zwar muss er nicht an die Front, doch 1916 wird er für Archivarbeiten einbezogen. 1917 wird er ausgemustert. Die Zeit nach dem Krieg verbringt er größtenteils in der Schweiz und stirbt dort 1926 im Alter von 51 Jahren.
Bereits zu Lebzeiten wurde mit der Übersetzung seiner Duineser Elegien begonnen. Sie gelten als sein Hauptwerk. Witold Hulewicz kannte Rilke persönlich und übersetzte einige Werke ins Polnische. Weil Engel eine zentrale Rolle in Rilkes Werk spielen, insbesondere auch in den Elegien, gab Rilke dem Übersetzer Ratschläge zum besseren Verständnis. Am 13. November 1925 schreibt er in einem Brief:
„Der Engel der Elegien hat nichts mit dem Engel des christlichen Himmels zu tun (eher mit den Engelgestalten des Islam) […] Der Engel der Elegien ist dasjenige Geschöpf, in dem die Verwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares, die wir leisten, schon vollzogen erscheint. Für den Engel der Elegien sind alle vergangenen Türme und Paläste existent, weil längst unsichtbar, und die noch bestehenden Türme und Brücken unseres Daseins schon unsichtbar, obwohl noch (für uns) körperhaft dauernd. Der Engel der Elegien ist dasjenige Wesen, das dafür einsteht, im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen. Daher »schrecklich« für uns, weil wir, seine Liebenden und Verwandler, doch noch am Sichtbaren hängen.“
Rilke distanziert sich hier bewusst von der christlichen Vorstellung der Engel. Wenn seine Engel eine Nähe zur Engelsvorstellung einer Religion aufweisen, dann sei es die islamische. Sowohl bei Rilke als auch im Islam sind Engel keine bloß schützenden Himmelsboten, sondern sie stehen für Zeichen einer tieferen Wahrheit, die wir mit den Augen nicht sehen können. Der Engel ist ein lichthaftes, reines Wesen, das in einer unsichtbaren, geistigen Welt lebt. Er hat etwas erreicht, was wir Menschen erst versuchen, nämlich das Sichtbare zu verwandeln und zu übersteigen. Für Engel ist nicht wichtig, ob etwas körperlich da ist. Für ihn existiert auch Vergangenes weiter, weil es geistig noch vorhanden ist. Und das, was für uns noch sichtbar ist, gehört für ihn schon zur unsichtbaren Welt. Der Engel lebt also in einer anderen Wirklichkeit, in der Zeit und Materie keine Rolle mehr spielen. Wer also Rilkes Engel kennenlernt, lernt die islamischen Engel auf Deutsch kennen. Kein Muslim hat in deutscher Sprache bisher, die islamischen Engel so virtuos eingeführt in die deutsche Kultur wie Rilke. Wie beginnen die Elegien?
„Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.“
Der gebildete Muslim fühlt sich hier an die Texte zur Erziehung des Nafs (das Selbst des Menschen) erinnert. Engel besitzen kein Nafs, sie sind pures Licht. Weil sie bereits vollkommen sind, müssen sie sich nicht bilden und erziehen. Der Mensch muss sich erziehen. Das islamische Gebet ist ein Akt des Ins-Licht-Stellens. Wer betet, steht vor Gott, stellt sich ins Licht und wird von Engeln eingehüllt. Ein Muslim der zur Schule oder an einen anderen Lernort geht, glaubt daran, dass Engelsflügel ihn umgeben. Es heißt in einer islamischen Überlieferung:
„Wer sich auf den Weg macht, um Wissen (arab. Ilm) zu erlangen, dem öffnet Allah damit einen Weg ins Paradies. Die Engel breiten aus Zufriedenheit über den Wissenssuchenden ihre Flügel aus. Alle Geschöpfe in den Himmeln und auf der Erde, sogar die Fische im Wasser, bitten Allah um Vergebung für den Gelehrten. Der Gelehrte (arab. Alim) steht in seiner Bedeutung über dem Gottesdiener (arab. Abid), so wie der Vollmond in der Mitte des Monats heller ist als alle anderen Sterne. Gelehrte (arab. Ulema) sind die Erben der Propheten. Die Propheten haben kein Geld hinterlassen, sondern Wissen. Und wer dieses Wissen erlangt, hat einen großen Schatz erhalten.“
Das klingt erstmal nicht schrecklich, sondern wie ein Schutz und befriedend. Doch Wissen anzunehmen, ist alles andere als leicht. Was ist wirklich wahr, gut und schön? Was ist nötig, um das Nafs zu bilden und zu erziehen? Das ist eigentlich auch nicht schrecklich, aber weil der Mensch an dieser sichtbaren Welt hängt, erscheint es ihm schrecklich und fühlt sich so an. Wir Menschen ertragen das Schöne und Wahre nur schwer. Wir bewundern es, wie Rilke es absolut übereinstimmend mit dem Islam sagt, aber es anzunehmen, das ist die nicht endende Lebensherausforderung des Menschen. In seinem Gedicht „Der Schauende“ wird es deutlicher:
„Wen dieser Engel überwand,
welcher so oft auf Kampf verzichtet,
der geht gerecht und aufgerichtet
und groß aus jener harten Hand,
die sich, wie formend, an ihn schmiegte.
Die Siege laden ihn nicht ein.
Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte
von immer Größerem zu sein.“
In diesem Gedicht spricht er vom Engel des Alten Testaments. Islam ist weder bloß das Alte noch bloß das Neue Testament. Es ist beides. Streng und gütig zugleich. So auch die Engel. Was heißt das konkret?<
Manchmal geschieht etwas im Leben, das uns nicht gefällt. Wir stehen vor der Wahl es anzunehmen oder abzulehnen. Dem Engel ist die wahre Bedeutung des Geschehenen bereits bekannt, dem Menschen nicht. Er kann es nur erahnen. Alles Geschehene anzunehmen, als sei es eine Wohltat, ist schwer, doch der Schlüssel zur Bildung und Erziehung des Menschen. Das bringt Rilke in seinem Gedicht „Gott spricht zu jedem“ zu Wort:
„Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.“
Schönheit, die uns geschieht, und Schrecken, der uns geschieht: Beides ist von Gott. Das glauben auch Muslime. Weil Rilke in Muhammed (s) einen Menschen erkannt hat, der dem Schrecken des Engels standhält, hat er das Gedicht „Die Berufung“ geschrieben. Er symbolisiert das, was der Mensch ertragen muss, um ein wirklicher Künstler zu sein: ein Vermittler des Unsichtbaren im Sichtbaren. Für Rilke ist Muhammed (s) ein Prisma, durch den das Göttliche in die sichtbare Welt bricht. Wie es stattfindet, beschreibt er in seinem Gedicht. Das bekräftigt ein Aussage Rilkes – etwa 15 Jahre nach dem Verfassen des Gedichts über Muhammed (s) – in einem Brief an Marie von Thurn und Praxis: „Über den Künstler muss es doch kommen, so gut wie über Mohammed mindestens.“ Dies beweist auch, dass Muhammed (s) nicht bloß vorübergehend Teil von Rilkes Gedankenwelt war, sondern einen festen Platz in seinem Herzen hatte. Er schrieb diese nach Abschluss der Duineser Elegien, in denen er die islamische Engelsvorstellung in die deutsche Kultur eingeführt hat.
Genau darin liegt eine große Chance für Muslime: Rilke zeigt, wie man spirituelle Tiefe in deutscher Sprache ausdrücken kann – ohne sich vom eigenen Glauben zu entfernen. Muslime können von ihm lernen, wie man unsichtbare Wahrheiten in eine Sprache fasst, die Herz und Verstand zugleich berührt. Sein Satz „Das Wort muss Mensch werden“ erinnert an den Propheten Muhammed (s), über den Aischa sagte: „Der Koran war sein Charakter.“ Für Rilke ist Muhammed (s) nicht nur Religionsstifter, sondern das Ideal eines Menschen, der Engel willkommen heißt und das göttliche Wort verkörpert.
Rilkes Gedichte machen Mut, auch das Schwere im Leben als Teil eines höheren Plans zu begreifen. Seine Zeilen wie „Lass dir alles geschehn: Schönheit und Schrecken“ spiegeln islamische Überlieferungen, die zum Vertrauen auf Allahs Weisheit ermutigen. Er zeigt: Wer sich dem Licht aussetzt – im Gebet, im Wissen, im Alltag – wird verwandelt. Rilke hilft dabei, diese Erfahrung in Worte zu fassen. Und genau darin liegt sein Wert für die Muslime Europas: Er gibt dem inneren Weg eine Sprache, die tief vertraut ist und zugleich neu klingt.