Literatur

Was Muslime von Lessing lernen können

Muslime widmen sich den Geistesgrößen, die das Abendland prägten. Einer davon ist Gotthold Ephraim Lessing. Ahmet Aydin stellt den Dichter und Denker vor und zeigt Lehren auf, die Muslime aus seinem Wirken ziehen können.

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01
2024
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Wenn wir die Frage stellen, welche Ereignisse es möglich machten, dass wir als Muslime in Deutschland frei leben dürfen, muss der Name Lessings fallen. Bevor etwas politisch realisiert wird, muss es als Idee in der Gesellschaft kursieren. Durch sein Ideendrama „Nathan der Weise“ bereitete Lessing den ideellen Boden für Freiheiten, die in späterer Zeit zur politischen Realität wurden. Er setzte sich Gefahren aus, um Andersgläubigen das Leben in Deutschland zu ermöglichen.

Geboren wurde Gotthold Ephraim Lessing 1729 in Kamenz (Sachsen) und starb 1781 in Braunschweig. Er ebnete späteren Größen den Weg. So versäumte es Goethe nicht, das Wirken Lessings als vorbildlich hervorzuheben. Ein halbes Jahrhundert nach Lessings Tod findet er die folgenden Worte, wenn er sich seiner erinnert: „Ein Mann wie Lessing täte uns not. Denn wodurch ist dieser so groß als durch seinen Charakter, durch sein Festhalten! So kluge, so gebildete Menschen gibt es viele, aber wo ist ein solcher Charakter!“

Lessings Charakter

Was ist damit gemeint, wenn von Lessings Charakter die Rede ist? Davon zeugt Lessings Aussage in einem Brief an Reimarus am 06. September 1778: „Ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen.“ Lessing will seiner Nation Humanität predigen. Er will lehren, dass die Angehörigen eines Glaubens nicht durch ihr Bekenntnis würdevoller und ehrwürdiger als andere Menschen sind. Das Bekenntnis zu einem Glauben gebe keine Privilegien. Das Bekenntnis bedeutet Verantwortung. Ab dem Zeitpunkt, an dem sich der Mensch zu einem bestimmten Glauben bekennt, trägt er die Verantwortung, inspiriert von seinem Glauben, in der Welt Gutes und Schönes zu wirken und zu tun. Solche Ideen sind revolutionär.

Der Fokus der Menschen soll nicht auf Wundertaten von Jesus oder Heiligen (bei ihm im christlichen Sinne) gelegt werden. Der Fokus soll sich auf die Vernunft richten. Das widersprach der öffentlichen Meinung seiner Zeit. Lessing ließ sich davon nicht hindern. In einem Nachwort zu ausgewählten Werken heißt es, Lessing habe eine „Persönlichkeit, die sich ihren Lebensweg nicht vorschreiben ließ, sondern selbst mühsam suchte, die nicht fremde Gedanken reproduzierte, sondern den eigenen Verstand gebrauchte und selbst urteilte, die nicht Angst vor den Mächtigen hatte, sich duckte und nach oben hin schmeichelte, sondern unerschrocken für die Wahrheit eintrat, auch wenn dies zum eigenen Nachteil führte.“
Nathan der Weise

Es wurde ihm verboten, sich in öffentlichen Schriften zu Fragen der Religion zu äußern. Es wurde versucht ihn zu canceln, doch er war zu wahrheitsliebend, um sich den Mund verbieten zu lassen. Er kehrte, wie er im oben zitierten Brief sagt, zurück zum Theater, um für die Ideen zu kämpfen, welche die Gesellschaft kultivieren sollten. Ein Jahr später erscheint sein dramatisches Hauptwerk: Nathan der Weise. Es ist mehr als revolutionär. Lessing wagte es einen Juden und einen Muslim als anständige Menschen darzustellen. Das war nicht bloß damals, sondern ist heute noch revolutionär.

Andersdenkende, Andersgläubige nicht zu verteufeln und ihre Lebensphilosophie bzw. ihre Schrift nicht für sie selbst auszulegen, das ist ein Charakterzug Lessings, der mehr als vorbildlich ist. Ohne Appell bleibt Lessing jedoch nicht. Er fordert von Gläubigen aller Art etwas: Er fordert Menschlichkeit:

„Wohlan!
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott,
Zu Hilfe!“

Das ist Lessings Predigt. Wie Sheyh Rumi Geschichten in Geschichten erzählt, wie Shakespeare ein Stück im Stück aufführt, so baut Lessing eine Erzählung ins Drama ein. Die Erzählung: Ein Vater hatte drei Söhne und versprach allen einen Ring, der in seinem Besitz war. Dieser Ring hatte eine besondere Macht, er „hatte die geheime Kraft, vor Gott / Und Menschen angenehm zu machen, wer / In dieser Zuversicht ihn trug.“

Nachdem der Vater starb, beanspruchte jeder Sohn den Ring für sich. Jeder glaubte sich im Recht, da der Vater tatsächlich allen den Ring versprochen hatte. Um keinen seiner Söhne zu enttäuschen, ließ er zwei Kopien des Ringes anfertigen. Jeder Sohn meinte den wahren Ring, die Wahrheit, zu besitzen. Als sie jedoch erfuhren, dass die jeweils anderen Brüder ebenfalls einen Ring besitzen, brach ein Streit aus. Der Richter fragte die Söhne, bei welchem Sohn sich die Macht des Ringes zeige. Doch alle mussten sich eingestehen, dass sie die vom Ring begehrte Wirkung im Leben nicht verwirklicht sahen. Drum antwortete der Richter:

„Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring
Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen;
Vor Gott und Menschen angenehm. Das muss
Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden
Doch das nicht können! – Nun; wen lieben zwei
Von euch am meisten? – Macht, sagt an! Ihr schweigt?
Die Ringe wirken nur zurück? und nicht
Nach außen? Jeder liebt sich selber nur
Am meisten? – O so seid ihr alle drei
Betrogene Betrüger!“

Ringparabel aus muslimischer Sicht

Sich selbst am meisten lieben, wird in Begriffen muslimischer Geistesgeschichte als „Ucb“ bezeichnet, die Selbstgefälligkeit. Sie stellt eine der großen Sünden dar. Diese Sünde ist mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. Denn jemand der „Ucb“ besitzt, tut tatsächlich gute Dinge: er handelt schön, doch im Herzen gefällt er sich selbst so sehr darin, dass er meint aufgrund seiner Taten über anderen zu stehen. Ein Selbstgefälliger im islamischen Sinne blickt auf andere herab, die weniger fleißig sind oder sündhafter scheinen.

Selbstgefälligkeit ist eine Haltung im Herzen, die dazu führt, dass die eigenen eigentlich guten Taten nichtig werden. Wer einen Glauben besitzt, der vor solch einer Handlung nicht reinigt und bewahrt, wurde betrogen und betrügt als Betrogener andere. Wer den wahren Ring besitzt, der ist lediglich darum bemüht als Ergebener in Gott zu leben. Für den Muslim heißt das: Die Ergebenheit drückt sich im Islam dadurch aus, dass ich anderen Geschöpfen wohlwill, unabhängig davon, ob sie an Gott glauben oder nicht. Von Bedeutung ist, wie ich andere qua meines Glaubens behandle, nicht, was sie durch meine Handlung werden. Dies drückt Schems aus Täbris, der Lehrer von Scheikh Rumi, mit folgenden Worten aus: „Habe Prinzipien, aber benutze deine Prinzipien nicht, um andere auszuschließen oder zu verurteilen. Halte dich vor allem Götzen fern, mein Freund. Und erhebe deine eigenen Wahrheiten nicht zu Götzen. Lass deinen Glauben groß sein, aber beanspruche nicht Größe aufgrund deines Glaubens.“

Lessing: Ein Pionier

Lessing kehrte an seinem Lebensabend auf das Theater zurück, um seiner Gesellschaft weiterhin zu Diensten zu sein. Er war der Erste, der in einem Theaterstück nicht den Adel oder antike Muster darstellte, sondern einfache Bürger und ihr Leben abbildete. Das war eine ideelle Revolution, die uns heute selbstverständlich scheint. Er war der Erste, der es tat und bereitete den Stürmern und Drängern, von Herder und Goethe angeführt, die Bühne. Auch war es Lessing, der vom französischen Vorbild als erster wegführte. Das französische Vorbild beherrschte die deutsche Kunst- und Kulturszene. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf Shakespeare. Dieser hielt sich nicht an die traditionelle Theatertheorie Aristoteles‘.

Indem die Zuschauer Figuren auf dem Theater sahen, mit denen sie sich identifizieren konnten, war es ihnen möglich, nachzufühlen, was die Personen im Stück fühlten. Dies ermöglichte es ihnen eine Katharsis zu durchleben, eine Reinigung. Lessing deutete den Zweck des Theaters um. Aristoteles sei missverstanden worden. Mit den Figuren im Werk zu leiden, das sei das Ziel. Dies war aber nicht möglich, wenn nur Aristokratie abgebildet wird. Das Leben und Leiden der Gesellschaft wurde in den Fokus gerückt. „Mitleiden“ ist der Begriff, den Lessing dafür verwendete. (Wer mehr dazu lesen möchte, dem sei Lessings „Hamburgische Dramaturgie“ empfohlen.)

Vorbild für Muslime

Die Kunst ermöglicht das Innenleben von Personen darzustellen. Bisher wurde weder im Fernsehen noch in Theaterstücken das Innenleben von Muslimen abgebildet. Muslime Deutschlands und Europas sind angehalten, Formen und Mittel eines Aufklärers wie Lessing zu benutzen. Muslime können zu Pionieren ihrer eigenen Geistesgeschichte werden und Theaterstücke schreiben, in denen ihr Innenleben dramatisch dargestellt wird. Sie können Gedichte und Kompositionen hervorbringen, die ihre Gefühle verständlich und nachvollziehbar machen für andere. Solange ihre Gefühle nicht nachvollziehbar sind für die Mehrheitsgesellschaft, werden sie als etwas Fremdartiges angesehen.

Ein Beispiel: Muslime beten und fasten nicht, weil sie von ihren Eltern oder der Gesellschaft dazu gezwungen werden. Sie tun es, weil sie überzeugt sind, so mehr Menschlichkeit zu entwickeln. Wenn Muslime diesen Aspekt aus dem Blick verlieren, ist ihr Gebet nichts weiter als rituelle Litanei. Wo sind die literarisch schön verfassten Ramadangeschichten der Muslime? Wo das Gebet, das uns erzieht? Wo ein Abendlied auf Deutsch, Englisch, Französisch?

Lessing nahm den Stoff für sein Drama aus den italienischen Klassikern. Er las Boccaccios „Decameron“ und arbeitete eine kurze Erzählung zu einem Theaterstück um. Sind die Werke von Scheikh Rumi und Saadi und Feriduddin Attar nicht voller Erzählungen, die darauf warten, von uns genutzt und ideell ausgearbeitet zu werden? Wir leben in Deutschland, in Europa. Wir lernen vom deutschen Pionier, wie universale Wahrheiten in ein neues Gewand gepackt werden können. Dieses Vorbild bietet uns Lessing. Die Bemühung, die Schönheiten in unserem Herzen für andere nachvollziehbar zu machen, stellt eine aufrichtige Handlung dar, mit der wir unsere Ergebenheit in Gott ausdrücken können. Denn Allah ist der Schöne und er liebt das Schöne. Mögen wir Ergebene des Schönen sein.

Leserkommentare

E m r e sagt:
Danke. Ursprung von Liebe, Rückkehr gen Schöne. Übrig bleiben Streben und Warten.  جميل  ودود
29.01.24
15:31