









UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese erhebt schwere Vorwürfe gegen die internationale Gemeinschaft. Im Interview kritisiert sie Europas Schweigen und erklärt, warum sie Gaza als Völkermord bezeichnet.
IslamiQ: Viele Menschen haben heutzutage Zweifel am Völkerrecht. Glauben Sie, dass das Völkerrecht angesichts des derzeitigen Massakers in Palästina, des drohenden Völkermords – wie auch vom Internationalen Gerichtshof benannt – noch ein wirksames Mittel ist, oder ist es eher zu einem „Luxus“ für die Mächtigen geworden?
Francesca Albanese: Leider erleben wir genau das: Das Völkerrecht ist zu einem Schutzschild für die Mächtigen geworden. Es wird selektiv angewendet – abhängig davon, wer betroffen ist. Aber Recht darf nicht willkürlich sein. Es lebt von seiner Allgemeingültigkeit, seiner Durchsetzbarkeit. Und daran fehlt es derzeit. Für Palästina war das allerdings nie anders. Es geht hier nicht nur um die letzten 16 Monate; Israel verletzt seit Langem das Völkerrecht.
Ich hege keinerlei persönliche Feindschaft gegenüber Israel. Aber ich bin im Auftrag des UN-Menschenrechtsrats damit betraut, die Verstöße Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten zu dokumentieren. Die Berichte, die ich verfasse, umfassen nicht nur die Rechtsverletzungen Israels, sondern auch diejenigen der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Hamas.
Doch was ich sehe, ist Folgendes: In den letzten 16 Monaten sind sämtliche bisherigen Grenzen überschritten worden. Was sich heute abspielt, ist an Schwere und Ausmaß beispiellos. Und statt einzuschreiten und zu sagen: „Es reicht!“, erleben die Menschen ein Gefühl der Ohnmacht, weil sie sehen, dass ihre Regierungen nichts unternehmen. Und es geht nicht nur darum, dass sie untätig bleiben; sie schaffen vielmehr die Voraussetzungen dafür, dass Israel niemals bestraft und niemals gestoppt wird. Das ist nicht bloß Nachlässigkeit – es bedeutet aktive Unterstützung eines Staates, der offen Verbrechen begeht.
Heute stehen zwei führende Politiker Israels – darunter Premierminister Netanyahu – im Verdacht, vom Internationalen Strafgerichtshof angeklagt zu werden. Und dennoch wird nichts unternommen, um den Staat zur Rechenschaft zu ziehen. Das ist eine höchst bedenkliche Entwicklung.
IslamiQ: Sie gehören zu den wenigen, die offen von „Völkermord“ sprechen, wenn es um Gaza geht. Viele kritisieren das als überzogen. Was sagen Sie ihnen?
Albanese: Ich verstehe sie, wirklich. Denn anfangs habe ich selbst so gedacht. Als Völkerrechtler und einige meiner Kollegen als Sonderberichterstatter sagten: „Das ist entsetzlich, das könnte sich zu einem Völkermord entwickeln, wir müssen Alarm schlagen, denn die Sprache, die der israelische Staat verwendet, trägt einen genozidalen Ton“, antwortete ich: „Nein, Moment, das ist etwas zu schwerwiegend, zu gewagt.“
Aber es genügte, dass ich las und lernte, um besser zu verstehen, was ein Völkermord ist. Man muss ihn sowohl historisch als auch juristisch untersuchen. Ehrlich gesagt wusste ich damals nicht, wohin mich das führen würde. Dieser Prozess hat fünf Monate gedauert. Von Oktober 2023 bis Februar 2024 habe ich alle Handlungen Israels im Gazastreifen untersucht. Und schließlich bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es berechtigte Gründe gibt, von Völkermord zu sprechen.
Denn Völkermord ist letztlich ein gezielter Akt der Vernichtung. Es ist die Absicht, ein Volk oder eine Gruppe allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe zu zerstören. Menschen – besonders in Europa – stellen sich Völkermord oft als etwas vor, das mit Krematorien oder Macheten geschieht. Aber nein, was einen Völkermord definiert, sind nicht die eingesetzten Mittel, sondern die dahinterstehende Absicht. Es ist wichtig, diesen Unterschied zu verstehen, denn es geht nicht um das „Warum“ – also darum, weshalb man ein Volk vernichten will. Entscheidend ist das Vorhandensein des Willens, der Entschlossenheit und der Absicht zur Vernichtung – im juristischen Sprachgebrauch: der mens rea.
Und genau diese Absicht können wir heute im Gazastreifen klar erkennen. Denn im Gazastreifen sind 50.000 Menschen getötet worden – nur, weil sie Palästinenser waren. Es spielt also keine Rolle mehr, wer die Einzelnen sind – ob Ärztin, Krankenpfleger oder Journalist: Alle werden mit der Hamas in Verbindung gebracht, nur weil sie Palästinenser sind. Das Wort „Hamas“ ist zu einer Lizenz zum Töten geworden.
Und ich sage das, weil wir die Vergangenheit nicht verstanden haben, weil wir nicht begriffen haben, was Völkermord bedeutet und was das System der Kolonialisierung ist. Was Israel tut, ist die Aneignung von Land und die Vernichtung der dort lebenden Bevölkerung. Israel betrachtet dieses Land als sein eigenes, als göttliches Recht. Das haben wir nicht verstanden. Es gibt dafür nur einen Begriff: kolonialer Völkermord.
Das weiß ich aus der Geschichte, indem ich auf andere koloniale Völkermorde blicke: auf diejenigen gegen indigene Völker in Nord- und Südamerika oder in Afrika. Immer gibt es die gleiche Logik: Ein als wild wahrgenommener Feind soll unterdrückt und vernichtet werden, um Ordnung herzustellen. Dies ist ein typischer kolonialer Völkermord, der mit den typischen Mitteln des Völkermords begangen wird: durch das Schaffen von Bedingungen, die zur Vernichtung führen. Was in Gaza geschieht, wird Folgen haben, die über Generationen spürbar bleiben. Das wird hier nicht enden. Falls überhaupt noch Palästinenser in Gaza bleiben, werden wir diese Folgen sehen.
IslamiQ: Der Internationale Gerichtshof hat den September 2025 als klares Datum für das Ende der Besatzung festgelegt. Schafft dieses Datum tatsächlich eine rechtliche Verpflichtung? Oder hat es nur symbolische Bedeutung, ohne jede Sanktionskraft?
Albanese: Tatsächlich sehen wir, dass dieser Entscheidung des Gerichts kein Respekt entgegengebracht wird. Die Staaten verhalten sich, als hörten oder wüssten sie von nichts. Wenn sie sagen: „Wir können nicht von Völkermord sprechen, weil das Gericht das nicht gesagt hat“, dann denke ich, dass es für diese Staaten selbst dann keinen Unterschied machen würde, wenn das Gericht es gesagt hätte.
Denn der Internationale Gerichtshof hat bereits erklärt, dass die Besatzung rechtswidrig ist und vor dem 13. September 2025 beendet werden muss. Deshalb ist die Frage an die Regierungen zu richten – besonders an Frankreich: Was tun Sie? Welche Maßnahmen ergreifen Sie, um Israel zur Einhaltung der Entscheidung des Gerichts zu bewegen?
Das Gericht verlangt, dass Israel seine militärischen Einheiten abzieht, die Siedlungen stoppt, die bestehenden Siedlungen abreißt, die Kontrolle über natürliche Ressourcen, den Luftraum, die Grenzen, das Wasser, das Land, die landwirtschaftliche Produktion und die Kontrolle über die verbleibenden 22 Prozent des palästinensischen Gebiets beendet.
Aber was wird getan? Wo sind die Maßnahmen, um die Umsetzung dieser Entscheidung durch Israel zu gewährleisten? Wenn es sich um Russland handeln würde, wäre das Ergebnis ganz anders. Denn in Europa gibt es eine gemeinsame Haltung gegenüber Russland. Wenn es Bürger gäbe, die in der russischen Armee kämpften oder in russischen Siedlungen in der Ukraine lebten – wie würde man mit ihnen umgehen? Das ist die Doppelmoral, die eine nur schwer zu heilenden Wunde im internationalen System hinterlässt.
IslamiQ: Und die USA? Glauben Sie, dass es rechtliche Konsequenzen für die militärische Unterstützung Israels geben könnte?
Albanese: Nach meiner Beobachtung beschleunigt die Trump-Administration die Normalisierung der letzten Phase der Kolonisierung Palästinas. Seit seinem Amtsantritt verblüfft uns der neue US-Präsident ja beinahe jeden Morgen mit fragwürdigen Aussagen. Etwa zu Gaza: „Wir werden die Region in eine Riviera des Mittelmeers verwandeln, die Menschen dort umsiedeln. Wir sagen den Palästinensern, wohin sie gehen sollen.“
Nach seinen Plänen sollen sie nach Ägypten, Jordanien, Sudan, Somalia geschickt werden. Und, um es klar zu sagen: Kein einziges UN-Mitgliedsland will ernsthaft dazu beitragen, dass Menschen gewaltsam aus den verbliebenen Teilen Palästinas vertrieben werden. Aber stammt dieser Gedanke wirklich von Trump? Nein. Trump normalisiert lediglich diese groteske Sprache, er normalisiert, was Israel tut. Denn die Idee, Gaza zu entvölkern, ist nicht Trumps Idee – es ist die Politik Israels.
Ich habe das am 14. Oktober 2023 bereits öffentlich gesagt: „Israels Endziel ist es, Gaza zu entvölkern.“ Eine Woche nach dem 7. Oktober sagte ich: „Das ist Israels Absicht.“ Denn sobald ein Krieg ausbricht, nutzt Israel die Gelegenheit, um das Gebiet zu räumen, alles zu zerstören, was die Palästinenser zurücklassen mussten, und eine Rückkehr zu verhindern. Gleichzeitig tötet man all jene, die sich diesem Plan widersetzen. Das geschah schon 1947 bis 1949. Danach leerte Israel Palästina schrittweise. 1967 wiederholte sich dasselbe. Und heute ist es nicht anders.
IslamiQ: Ihre Berichte haben schockiert, manche sogar in Angst versetzt – aber gleichzeitig auch das Bewusstsein geschärft. Nun wurde Ihr Mandat bis 2028 verlängert. Möchten Sie dazu etwas sagen?
Albanese: Ich übe mein Amt unabhängig aus und halte mich an die Berichtsgrundsätze der Vereinten Nationen – andernfalls wäre mein Mandat niemals verlängert worden. Gleichzeitig möchte ich den Menschen aber auch sagen: Mein Verbleib im Amt war nur möglich, weil niemand mich aus dem System drängen wollte. Denn letztlich wissen sie, dass das System – zumindest zeitweise – einen entschlossenen Ansatz benötigt.
Obwohl ich sicher bin, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union mich inzwischen nicht mehr unterstützen – weil ich sie zwinge, sich selbst im Spiegel zu betrachten –, wissen sie dennoch, dass ich die Wahrheit sage. Aus diesem Grund werde ich von den diplomatischen Vertretungen Frankreichs, Deutschlands und der Niederlande auf jede erdenkliche Weise beleidigt.
Warum? Weil ich weiterhin zu ihren Bevölkerungen spreche, weil ich Informationen bereitstelle, ihre begangenen Vergehen und die von ihnen verletzten Rechtsgrundsätze offenlege. Ich halte ihnen den Spiegel vor. Sie müssen erkennen, dass sie zur Schwächung des Systems der Vereinten Nationen beitragen. Ich weiß, dass sie mich dafür nicht besonders mögen, aber ich werde weiterhin das tun, was ich im Rahmen des Völkerrechts zu tun habe.
Das ist gewiss kein einfacher Weg. Aber ich bin überzeugt: Jeder sollte das tun, was er zu tun hat.
IslamiQ: Vielen Dank für dieses Gespräch.
Albanese: Ich danke Ihnen:
Das Interview führte die französische Journalisten Amina Kalache während der Veranstaltung „Begegnungen für Palästina“ in Paris.