Nahostkonflikt

Warum wir nicht aufhören, über Palästina zu reden 

Aufgrund der historischen Verantwortung Europas wird das Leid der Palästinenser ignoriert und ihr Existenzrecht kaum erwähnt. Was aber ist die „historische Verantwortung“ der Muslime und warum dürfen sie nicht aufhören, über Palästina zu sprechen?

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2023
Solidarität mit Palästina © shutterstock, bearbeitet by iQ
Symbolbild: Solidarität mit Palästina © shutterstock, bearbeitet by iQ

Wir, Menschen aus dem Globalen Süden, sind mit Palästina aufgewachsen. Wir kennen das Leid Palästinas in- und auswendig. Wenn wir in Palästina/Israel sind, dann verweilen wir nicht nur am Strand in Tel Aviv, sondern sprechen mit Palästinenser, besuchen al-Halil, al-Quds, Ramallah. Unsere Augen sind immer auf Palästina gerichtet, wir demonstrieren seit Jahren für die Rechte der Palästinenser.

Es macht uns wütend zu sehen, dass die „historische Verantwortung“ Europas Palästinenser ausblendet, nie über das Lebensrecht Palästinas spricht, ihr Leid ignoriert.

Seit Wochen sind meine Freunde nicht ansprechbar. Sie erzählen davon, wie oft sie in Tränen ausbrechen, wie Selbstverständlichkeiten im Alltag, wie eine warme Mahlzeit, das Glas Wasser, die heiße Dusche zu einer Qual wird, da sie nur an die Menschen in Gaza denken, denen dies alles verwehrt bleibt. Neben all der Trauer versuchen sie aufzuklären, sind auf der Suche nach den richtigen Worten, nach den richtigen Bildern, um zu zeigen, dass Palästinenser auch Menschen sind, die Träume, Familie und Rechte haben.

Währenddessen wird uns erklärt, wir würden nur so laut für Palästina einstehen, weil hier das „Feindbild“ passe, weil wir ja alle antisemitisch seien. Deshalb würden wir heute auch nicht so laut gegen die Gräueltaten im Sudan oder gegen die massenhafte Vertreibung von Afghaninnen und Afghanen aus Pakistan aufschreien.

Europa zeigt mit dem Zeigefinger auf Muslime

Ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber hier in Österreich habe ich bisher noch keine Politiker gehört, die den Genozid im Sudan befürwortet haben. Ich habe keine Zeitungsartikel gelesen, die versuchen uns zu erklären, dass afghanische Menschen in Pakistan ja patriarchal wären, potenzielle Terroristen, die falsche Partei unterstützen würden und deswegen unsere Solidarität nicht „verdienen“ würden. Dass sie selbst schuld an ihrer Misere wären. Österreich hat auch nicht gegen eine Waffenruhe im Sudan gestimmt oder mit meinen Steuern die Vertreibung von Afghanen aus Pakistan mitfinanziert. Österreich steht nicht in voller Solidarität hinter der pakistanischen Regierung. 

Aber Österreich unterstützt gerade eine rechtsextreme und korrupte Regierung, die offen von „Vertreibung“ und „human animals“ spricht und stimmt gegen eine Waffenruhe, weil Formulierungen, Bezeichnungen unzureichend sind. Kann es vielleicht sein, dass ich deswegen so laut bin, weil dies nicht mit „unseren Werten“ zusammenpasst, von denen man sonst so oft spricht?

Heute sprechen alle wieder von „importiertem“ Antisemitismus. Nutzen die Gunst der Stunde, um wieder mit dem Zeigefinger auf Muslime zu zeigen, von Abschiebungen, Kopftuchverboten zu sprechen. Sie hätten ja immer schon gewarnt, aber man wollte ja nicht auf sie hören. Jetzt habe man den Salat.

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Die Gewalteskalation im Gazastreifen erschüttert Menschen weltweit. In Deutschland leben viele Muslime, die aus Gaza stammen und dort eine Familie haben. Im Gespräch mit IslamiQ sprechen sie über ihre Gefühle.

Ich könnte jetzt mehrere Beispiele von antisemitischen Politikern im österreichischen Parlament aufzählen, auf Statistiken verweisen, die zeigen, wie fast 95 % aller antisemitischen Straftaten von Rechtsextremisten ausgeübt werden, die antisemitischen WhatsApp-Leaks von AG-Funktionären und Juristen in Erinnerung rufen. Die Liste ist lang. Aber darum geht es mir heute nicht.

Juden suchten Zuflucht bei Muslimen

Jüdinnen und Juden haben in der Vergangenheit immer in Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung vor den Pogromen und der Vertreibung durch Europäer Zuflucht gefunden und in Freiheit ihre Religion ausgeübt. Schon vor dem Holocaust.

Als Muslime in Andalusien von 711 bis 1492 regierten, schufen die Araber eine Kultur, in der Muslime, Juden und Christen friedlich zusammenlebten. Diese Zeit wird im Judentum als das „goldene Zeitalter“ bezeichnet. Dieses Zeitalter wird 1492 endgültig mit dem Ausweisungsedikt der katholischen Könige beendet und Juden sowie Muslime entweder zur Konversion zum Christentum oder zur Emigration aus Spanien und Portugal gezwungen. Auf Einladung des damaligen Sultans Bayezid II. nahm das osmanische Reich sephardische Juden auf, die aus der iberischen Halbinsel vertrieben wurden und gewährte ihnen Schutz und eine neue Heimat. Wieder andere flüchteten in die Länder der Levante, nach Nordafrika, in den Balkan.

Als die Nazis an die Macht kamen und Jüdinnen und Juden vor und während des Holocaust aus Europa fliehen mussten, hat erneut die Türkei ihnen Zuflucht gewehrt. Albert Einsteins Brief an den damals amtierenden Ministerpräsidenten Ismet Inönü (17.9.1933) belegt die Bitte des Wissenschaftlers, jüdische Akademiker in der Türkei aufzunehmen. Dank ihnen konnten sich die ersten modernen Universitäten in Istanbul etablieren.

Als Nazis Frankreich besetzten, haben türkische Diplomaten in Frankreich Jüdinnen und Juden türkische Reisepässe gegeben, damit sie in die Türkei fliehen können. Dabei haben sie ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt. In der Dokumentation „Der türkische Reisepass“ erzählen Überlebende eindrucksvoll von ihren Erlebnissen und der Flucht.

Auch in Bosnien haben Muslime den gelben Stern von Jüdinnen und Juden mit ihrem Schleier versteckt, fälschten für ihre jüdischen Mitmenschen Dokumente mit christlichen Namen. Das alles haben sie gemacht, als das Verstecken von Jüdinnen und Juden in Europa mit dem Tod bestraft wurde.

Historische Verantwortung gegenüber Palästina

Palästinenser haben europäische Flüchtlinge, Holocaust-Überlebende willkommen geheißen, weil Europa ein Antisemitismus-Problem hatte. Großbritannien, Kanada und die USA haben damals Schiffe mit Jüdinnen und Juden einfach weggeschickt. Heute sind das aber ausgerechnet jene Länder, die entschieden hinter Israel stehen, Waffen exportieren und gegen eine Waffenruhe stimmen. Palästinenser waren es, die ihre Häuser öffneten, ihre Mahlzeiten teilten, nur um ein bis zwei Jahre später die „Nakba“ zu erleben und selbst zu Flüchtlingen zu werden. Bis heute tragen sie die Schlüssel zu ihren Wohnungen bei sich und warten darauf, zurückkehren zu können, während ihnen nicht einmal die Einreise erlaubt wird.

Und jetzt werfen ausgerechnet Europäer den Palästinensern „Antisemitismus“ vor. Blenden Machtstrukturen aus, verharmlosen 75 Jahre Besatzung und Unterdrückung, schlagen ihnen vor, doch einfach das Land zu verlassen. Unterstützen Krieg gegen sie. Was ist eigentlich mit der historischen Verantwortung Europas gegenüber Palästina und ihren Menschen?

Übrigens waren es Kolonialisten aus Europa, die den modernen Antisemitismus in den Globalen Süden „importiert“ haben.

Es wäre falsch zu behaupten, dass es an diesen Orten überhaupt keine Ausschreitungen gab, keine Vorfälle, keine Vorurteile gegenüber Jüdinnen und Juden. Die gab es, aber sie waren nicht die Norm, wie es in Europa der Fall war. Deshalb bin ich der Meinung, dass es unsere „historische Verantwortung“ ist, dass wir, Menschen aus dem Globalen Süden, erneut unsere Stimme erheben, wenn vor unseren Augen ein Genozid stattfindet und gleichzeitig differenzieren und keine antisemitischen Äußerungen oder Taten dulden.

Weil unsere Vorfahren das so vorgelebt haben. 

Leserkommentare

Evergreen sagt:
Um nachfolgend nicht missverstanden zu werden, vorneweg: Ich lese den Qur’an kritisch mit Gewinn; und Schüler konnten sich bei mir Korane ausleihen. Auch „jüdische“ und „christliche“ Schuld in der Geschichte kenne ich zur Genüge. Doch die Selbstbeweihräucherung und Schwarz-Weiß-Malerei durch Sevde Özdemir dient einem friedlichen Konflikt im Nahen Osten und ehrlichen offenen Diskussionen bei uns in Europa nicht. Auch ich empfinde im Nahostkonflikt die bundesdeutschen Medien großenteils oft als einseitig. Doch auch die Gegenseite kommt zu Wort. Am 1. Oktober 2015 meldeten unsere Nachrichten die Position des früheren israelischen Botschafters in Deutschland, Avi Primor : Die israelische Regierung will keinen Ausgleich, sie will komplett das Westjordanland in jüdische Hand kriegen. Schon als Botschafter hatte Avi Primor vorher die religiösen Parteien in Israel als undemokratisch bezeichnet, weil sie göttlichem Gesetz und Rabbiner-Worten Vorrang geben vor demokratischen Grundsätzen. Wo gab es im Gaza-Streifen diese innerpalästinensische Kritik an der Hamas und ihren Partnerorganisationen, welche Israel ausradieren wollen ? ? ? Ohne Kompromiss wird das Elend weitergehen. Özdemirs Namen bedeutet „echtes Eisen“. Das erinnert mich daran, dass der Islam von Anfang an mit Schwert und Krieg ausgebreitet wurde. Das Christentum setzte sich trotz Verfolgungen in drei Jahrhunderten friedlich durch. [Was ab Kaiser Konstantin (vor etwa 1.700 Jahren) dann passierte, finde ich ganz schlimm politisch und innerkirchlich bis heute.] Durch ihre Schwarz-Weiß-Malerei schürt Sevde Özdemir Hass, obwohl sie Gegenteiliges beteuert. Ich bin für ein freies Palästina und - mit meinen bescheidensten Möglichkeiten - dafür seit vielen, vielen Jahren aktiv. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass man bei der Wahrheit bleibt. „Unsere Augen sind immer auf Palästina gerichtet „ (Sven Özdemir). Sie sollte auch in den Qur‘an schauen, wo Allah das Land den Kindern Israel zuspricht. Wenn Sevde Özdemir behauptet, dass in Europa nie über das Lebensrecht und Leid der Palästinenser geredet wird, sagt sie die Unwahrheit und baut dadurch Aversionen gegen ihr Anliegen auf. „Als Muslime in Andalusien von 711 bis 1492 regierten, schufen die Araber eine Kultur, in der Muslime, Juden und Christen friedlich zusammenlebten.“ (Sevde Özdemir) Özdemir verschweigt, dass Muslime kriegerisch die iberische Halbinsel erobert hatten und Unterworfene nur Menschen zweiten Ranges waren und diesen Frieden anders erlebten. [ In der DDR gab es die FDJ, FDGB, usw. , ebenfalls alles frei - FREIE Deutsche Jugend, FREIER Deutscher Gewerkschaftsbund, usw. ]. Sevde Özdemir verschweigt zum Beispiel das Massaker von Granada 1066, das erste Judenpogrom auf europäischem Boden. Das Ausweisungsedikt der katholischen spanischen Könige 1492 ist entsetzlich, und dass Juden dann großenteils in muslimischen Ländern unterkamen, ist einfach toll. Toll auch, dass nach 1933 Juden und NS-Gegner in der Türkei Unterschlupf fanden, so auch Ernst Reuter nach zwei Aufenthalten in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. (Viele Berliner erinnern sich noch an ihren Bürgermeister Ernst Reuter, der später erfolgreich den Kommunisten die Stirn bot.) Doch Sevde Özdemir verkennt die Motivation der damaligen Türkei Atatürks. Das damalige Staatswesens war in seinem Gesellschaftsmodell nicht dem Islam, sondern westlichem Orientierungsmuster verpflichtet. GLEICHZEITIG vollkommen anders die Orientierung des palästinensischen Imam al-Qassam, nach dem die HAMAS ja ihre Qassam-Raketen und Qassam-Brigaden benennt, mit denen sie Israel ausradieren will. „Übrigens waren es Kolonialisten aus Europa, die den modernen Antisemitismus in den Globalen Süden ‚importiert‘ haben.“ (Sevde Özdemir) Auch hier verbreitet Özdemir eine Unwahrheit. Zwar musste sie als Frau nicht freitags an Freitagspredigten teilnehmen. Aber im Ramadan musste sie den Qur’an von vorne bis hinten durchlesen. Und dann kennt sie auch die schlimmen grundsätzlichen antijüdischen Passagen. Wenn nicht, dann bitte im nächsten Ramadan endlich mal gründlicher den Qur’an studieren und die massiven antisemitischen Passagen registrieren und ihre schlimmsten Folgen durch ca. 1700 Jahre bis heute studieren. Auch die europäische Geschichte, zumal die deutsche, ist schlimm von Antisemitismus gezeichnet. Aber wenn Sevde Özdemir behauptet, dass sei generell die NORM gewesen, sagt sie wieder die Unwahrheit und wirkt wie eine Hetzerin im Schwarz-Weiß-Schema. „Auch in Bosnien haben Muslime den gelben Stern von Jüdinnen und Juden mit ihrem Schleier versteckt, fälschten für ihre jüdischen Mitmenschen Dokumente mit christlichen Namen. Das alles haben sie gemacht, als das Verstecken von Jüdinnen und Juden in Europa mit dem Tod bestraft wurde.“ (Sevde Özdemir) Doch warum verschweigt sie, dass muslimische Bosniaken freiwillig in die nationalsozialistische Waffen-SS gingen und aktiv die Organisation des Massenmords an Juden förderten? „Palästinenser haben europäische Flüchtlinge, Holocaust-Überlebende willkommen geheißen, weil Europa ein Antisemitismus-Problem hatte.“ (Sevde Özdemir) Wieder pauschalisiert sie und verschweigt wieder den Imam al-Qassam. Bewusst nach ihm sind die Qassam-Raketen und Qassam-Brigaden benannt, mit denen man immer noch Israel ausradieren will – ohne Rücksicht auf die eigene Bevölkerung. Und Sevde Özedemir verschweigt auch al-Qassams Geistesbruder, den Mufti von Jerusalem Al-Husseini. Freiwillig, wissentlich und aktiv förderte er die Massenmorde an Millionen Juden. Häufig bei unterschiedlichen Gelegenheiten Mufti Al-Husseini : „Tötet die Juden, wo immer ihr sie findet. Das gefällt Gott, der Geschichte und dem Glauben.“ Bis heute auffällig bei Anschlägen auf Synagogen und Juden die Parallelen zwischen Rechts-extremisten und Islamisten. Auch hiervon kein Wort bei Sevde Özdemir. Auch von der Zusammen- arbeit zwischen PLO und RAF kein Wort : unerwähnt die palästinensischen Terroranschlägen auf Juden in München während der Olympuschen Spiele 1972, unerwähnt der palästinenische Terroranschlag 1976 in Uganda und die Geiselnahme von über 100 Personen, usw., usf. „ Bis heute tragen sie (palästinensische Flüchtline) die Schlüssel zu ihren Wohnungen bei sich und warten darauf, zurückkehren zu können, … „ (Svenje Özdemir) Offensichtlich will hier Svenje Özdemir (Özdemir = das echte Eisen) Verständnis wecken für die Hamas. Mir graust bei der Vorstellung, dass solche eisernen Ladies und Gentlemen im Gegenzug auch die Terrororganisation PKK zur Befreiungsorganisation aufwerten könnten. Es hilft nichts, wenn sich verschiedenste Seiten weiterhin unvollständige Geschichtsfragmente um die Ohren schlagen und man weiterhin wie seit 1948 immer wieder Israel ausradieren will – weiterhin wird des massenhaft Opfer geben und am Ende ein millionenfaches Sterben oder vorher kommt es zu einer Kompromisslösung, was die Hamas und ihre Partnerorganisationen nicht wollen. Sie wollen bisher weitermachen bis zum Endsieg – ohne Rücksicht auf eine Opferobergrenze der eigenen Bevölkerung. Gegenüber Muslimen darf es weder Generalverdacht noch Generalimmunität geben. Aber es fällt auf, auf wessen Konto weltweit die meisten Terroranschläge gehen und wie wenig man sich mit deren Drahtziehern auseinandersetzt und sich davon explizit distanziert.
12.11.23
17:33
Ethiker sagt:
Der Hass auf Muslime hält unweigerlich an. Es ist eine Frage der Selbsterhaltung einer ganzen Gemeinschaft. Der Krieg Muslime nimmt totale Züge an, vermutlich ist er es schon.
16.11.23
20:54
Michi sagt:
@Ethiker: Das Hass der islamischen Welt auf alles westliche hält an, so sieht es aus.
17.11.23
12:36
ludwig sagt:
warum lebt er genau denn in dieser Gemeinschaft und nicht in einer islamischen?
17.11.23
19:59