EuGH-Urteil

Muslime und Juden kritisieren Urteil zum rituellen Schlachten

EU-Staaten dürfen nach Urteil des EuGH das rituelle Schlachten ohne Betäubung verbieten. Religionsvertreter äußern deutliche Kritik.

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12
2020
Schächten, Schächtverbot Urteil
Symbolbild: Schächten, Schächtverbot © shutterstock, bearbeitet by iQ.

EU-Staaten dürfen nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Freitag bei rituellen Schlachtungen eine Betäubung der Tiere vorschreiben. Zwar schränke eine solche Vorschrift die Ausübung der Religionsfreiheit ein. Konkret sieht das Gericht aber im flämischen Schächtverbot ein „angemessenes Gleichgewicht“ zwischen Tierschutz und Religionsfreiheit. Das Urteil kommt dennoch überraschend, da ein EuGH-Gutachter kürzlich noch zu dem Schluss gekommen war, derartige Vorschriften widersprächen dem Recht auf Religionsfreiheit. Religionsvertreter kritisierten das Urteil.

Beim rituellen Schlachten von Tieren im Judentum und im Islam, werden Tieren ohne Betäubung Halsschlagadern sowie Luft- und Speiseröhre mit einem Schnitt durchtrennt. Die Tiere können so ausbluten. Der Verzehr von Blut ist in beiden Religionen verboten.

Mehmet Üstün, Präsident des „Exécutif des Musulmans de Belgique“ (EMB), einer der Kläger in diesem Verfahren, sagte in einer Pressemitteilung, dass sie den rechtlichen Kampf gegen die Halal-Schlachtung bis zum Ende fortsetzen werden. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Konformität des Gesetzes des flämischen Schächteverbots sei eine große Enttäuschung für europäische Muslime.

Doppelmoral von Gesetzgeber und Justiz: Wettbewerb um billigstes Fleisch

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sprach von einem Angriff auf die Religionsfreiheit. Man hoffe, dass es keine Nachahmer in Europa finde und andere EU-Staaten die religiöse Schlachtung weiterhin ermöglichten. Bini Guttmann, Präsident der Europäischen Union jüdischer Studenten, warnte gar, die Ermöglichung eines Schächt-Verbots „könnte jüdisches Leben, so wie wir es kennen, langfristig unmöglich machen“.

Bekir Altaş, Generalsekretär der der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) beklagte die immer schwieriger werdende Leben für religiöse Minderheiten in Europa. „Gesetzgeber und Justiz überbieten sich beim Thema Tierschutz gegenseitig mit Heuchelei und Verlogenheit“, erklärte Altaş, „Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum betäubungslosen Schächten ist bestenfalls ein weiterer kläglicher Versuch, das eigene Gewissen in Sachen Tierschutz auf dem Rücken religiöser Minderheiten zu entlasten“, so Altaş weiter.

Tierschutz sei beim religiös motivierten Schächten ein hohes religiöses Gebot. Nicht nur der finale Schächtungsvorgang, sondern auch die Tierhaltung und die Zucht seien an strenge religiöse Vorgaben gebunden und werden dem Tierschutz vollumfänglich gerecht. Das krampfhafte Festhalten an der Betäubung reduziere den gesamten Tierschutz auf den finalen Tötungsakt. „Das wird der Sache weder gerecht, noch ist er glaubwürdig, wenn Gesetzgeber und Justiz gleichzeitig der Fleischindustrie im Wettbewerb um das billigste Fleisch fernab jeder Moralvorstellung praktisch unkontrollierte Narrenfreiheit geben“, bekräftig Altaş weiter. Derweil zahlten Muslime und Juden aufgrund der Einhaltung zahlreicher religiöser Tierschutzvorgaben freiwillig ein Vielfaches für ihr Fleisch an der Ladentheke.

Ein unendlicher Diskurs – zu Lasten der Religionsfreiheit

Der Vorsitzende des Islamrats der Bundesrepublik Deutschland, Burhan Kesici, hält das Urteil des EuGH bzw. die Legalität des Schächtverbots in Europa für problematisch. Das Verbot greife tief in die Religionsfreiheit ein. „Das rituelle Schächten ist ein religiöses Gebot sowohl für Juden auch als für Muslime und ist durch die Religionsfreiheit abgedeckt sein“, sagt Kesici. „Wir führen diese Diskussion seit jeher in Europa. Man sollte hier nun endlich zu Gunsten der Religionsfreiheit entscheiden.“

Die Konferenz der Europäischen Rabbiner (CER) befürchtet nach dem Urteil einen „Dominoeffekt“. Weitere Staaten würden weiterführende Verbote oder Einschränkungen erlassen, und so die Religionsausübung und insgesamt die Religionsfreiheit weiter erschwerten.

Für den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) Aiman Mazyek bewerte das Urteil, was als Teil eines religiösen Ritus möglich ist oder nicht, und das sei „der falsche Weg“. Veränderungen sollten durch die Religionsgemeinschaften selbst und nicht von außen erfolgen. „Der Ritus ist jahrtausendalter Teil jüdischen und muslimischen Lebens.“

Leserkommentare

Vera Praunheim sagt:
Leben und Lebensgestaltung unterliegen ständiger Veränderung und Entwicklung. Der Beruf des Henkers war auch jahrtausendalter Teil der Gesellschaft - bis er in zivilisierten Ländern abgeschafft wurde. Somit ist es ganz normal, wenn überholte und schlimme Schlachtmethoden durch neuzeitliche, fortschrittlichere und tierschutzgemäßere Techniken ersetzt werden. Daran gibt es nichts zu kritisieren. Zu kritisieren sind vielmehr die Kritiker dieser tierfreundlicheren Entwicklung, auch wenn diese noch so viel lamentieren und das Altertum rituell heraufbeschwören und verherrlichen wollen.
20.12.20
18:08
Dilaver Çelik sagt:
Die Kritik jüdischer sowie muslimischer Vertreter ist absolut nachvollziehbar. Juden und Muslime müssen sich nicht für das betäubungslose Schächten entschuldigen oder rechtfertigen und sollten sich unter keinen Umständen ein solches Verbot aufzwingen lassen.
20.12.20
19:01
Harousch sagt:
Ein mehr als Schwieriges Thema: 1. Schächtungsverbot vs. Tierhaltung unter tierunwürdigen Verhältnissen Was ist wohl schlimmer, ein qualvolles Leben in den Mastbetrieben oder ein qualvolles Ende bei der Schächtung? Hier wird tatsächlich durch ein eventuelles Schächtungsverbot, auf dem Rücken von Minderheiten, blinder Aktionismus betrieben. Dabei sollten die Haltungsrichtlinien der Tiere eher im Fokus sein, als das Schächten. Aus ethisch-moralischer als auch islamisch theologischer Sicht beinhaltet der helal-Status ebenfalls die gesamte Lebenszeit eines Tieres unter Tierwohl begünstigenden Umständen. Da bei einer Massentierhaltung alles andere als von helal-Haltung gesprochen werden kann, ist die helal-Schächtung am Ende eines Tierlebens keine besonders maßgebende Aktion. Helal heißt auch ein würdevolles Leben während der gesamten Lebensdauer. Hier drehen sich im Endeffekt alle Parteien im Kreis. Die einen reduzieren helal auf eine Schächtung, wobei der größte Teil des Bluts ausgeflossen sein sollte, unabhängig von Tierhalting (tayyib). Die andere Seite konzentriert sich auf das qualvolle Ende eines Tierlebens, ohne dabei das Tierwohl zu Lebzeiten zu begünstigen. Beide Seiten liegen daneben und haben den eigentlichen Kern des Themas „Tierwohl“ regelrecht verfehlt.
20.12.20
20:37
Abendlandchroniken: Der islamophobiekritische Wochenrückblick vom 20.12.2020 | Schantall und die Scharia sagt:
[…] Jüdische und muslimische Organisationen zeigten von dem Urteil sich wenig begeistert. Groß war die Freude hingegen einigen AfD-Politikern, die kurzzeitig ihr Interesse für Tierschutz entdeckten. Man kennt das Phänomen, das bestimmte gesellschaftliche Probleme immer dann relevant werden, wenn sie Minderheiten in die Schuhe schieben kann, ja bereits von Themen wie Antisemitismus, Sexismus oder Jugendgewalt. […]
21.12.20
0:27
Johannes Disch sagt:
Dass eine Praxis seit Jahrhunderten durchgeführt wird, das ist kein Argument für diese Praxis. Ganz abgesehen, dass es seltsam anmutet, dass Menschen im 21. Jahrhundert noch immer glauben, sie müssten zwingend ein uraltes archaisches Ritual durchführen, um ihrer Religion gerecht zu werden. Medizinisch gesichert ist inzwsischen, dass Schächten für die Tiere ein qualvoller Tod ist, wie die Bundestierärztekammer bestätigt. Also ist es im Sinne des Tierschutz-- der ebenfalls Verfassungsrang hat, genauso wie die Religionsfreiheit-- absolut verantwortbar, hier die Religionsfreiheit einzuschränken.
22.12.20
9:15
Abendlandchroniken: Der islamophobiekritische Wochenrückblick vom 20.12.2020 – Schantall und die Scharia sagt:
[…] Jüdische und muslimische Organisationen waren von dem Urteil wenig begeistert. Groß war die Freude hingegen bei einigen AfD-Politikern, die kurzzeitig ihr Interesse für Tierschutz entdeckten. Man kennt das Phänomen, das bestimmte gesellschaftliche Probleme immer gerade relevant werden, wenn man sie Minderheiten in die Schuhe schieben kann, ja bereits von Themen wie Antisemitismus, Sexismus oder Jugendgewalt. […]
22.12.20
12:16
Vera Praunheim sagt:
Arthur Schopenhauer. "Der Mensch hat aus der Erde eine Hölle für die Tiere gemacht. Wer gegen Tiere grausam ist, kann kein guter Mensch sein." Wer Tiere nicht respektiert, verdient selber keinen Respekt.
23.12.20
18:02