Deutschland hat ein Problem mit Islamfeindlichkeit. Im Interview sprechen wir mit Islamrat-Generalsekretär Murat Gümüş über die Bedeutung der Betroffenenperspektive.
IslamiQ: Islamfeindlichkeit ist ein Alltagsproblem geworden. Wie ist die Stimmung in den muslimischen Gemeinden?
Murat Gümüş: Sie spüren den antimuslimischen Rassismus. Sie erleben ihn Tag für Tag, ob als Betroffener, Zeuge oder als Vertrauensperson, wenn jemand über negative Erlebnisse berichtet. Sie sehen, dass er real und verbreitet ist. Auch dass er viele Erscheinungsformen hat: Mal subtil, mal versteckt, mal ganz offen zu Tage tretend, wie bei Beleidigungen und körperlichen Angriffen.
IslamiQ: Woran machen Sie das fest?
Gümüş: Wir besuchen unsere Gemeinden bundesweit. Neben dem offiziellen Teil der Besuche nehmen wir uns auch immer Zeit für Gespräche mit unseren Gemeindemitgliedern. Dabei bekommt man mit, wie manche auf der Arbeit, in Behörden oder in der Schule diskriminiert werden.
Ich hatte vor einigen Monaten einen Vortrag vor ca. 60 jungen Musliminnen. Wir sind dabei ins Gespräch gekommen und ich habe sie gefragt, wer denn von ihnen bis jetzt schon mal diskriminiert wurde. Rund 50 haben die Hand gehoben. 50 von 60. Das ist jetzt vielleicht nicht repräsentativ, aber aussagekräftig und besorgniserregend alle Mal.
Diese Menschen nehmen wahr, dass sie in dieser Hinsicht allein gelassen wurden. Laut dem Religionsmonitor 2019 der Bertelsmann-Stiftung sehen 52% der Gesellschaft den Islam als Bedrohung. Für viele Muslime ist das im Alltag mittelbar bis unmittelbar spürbar und nicht nur einfach eine Zahl.
IslamiQ: Muslimen wird immer wieder vorgehalten, sie würden sich zu schnell in die Opferrolle begeben. Wie sehen Sie das?
Gümüş: Wenn Schüler wegen ihrer Glaubenszugehörigkeit schlecht behandelt und schlechter benotet werden, als sie es eigentlich verdienen, ihnen trotz entsprechender Noten der Besuch eines Gymnasiums nicht empfohlen wird, oder wenn Bewerber aufgrund ihrer „fremd“ klingenden Namen aussortiert werden, wenn Muslime oder ihre Religion unter dem Deckmantel der „Islamkritik“ diskreditiert werden, oder wenn Musliminnen auf der Straße bespuckt, beleidigt oder angepöbelt werden, dann sind diese Menschen Betroffene von antimuslimischem Rassismus.
Das „Opfersein“ ist kein Ehrentitel, sondern ein Zustand tiefer Verletzung, meistens psychisch, häufig leider auch physisch. Von ihnen dann auch noch zu erwarten, dass sie das nicht ansprechen, ist kontraproduktiv und verdeckt das eigentliche Problem.
IslamiQ: Wie reagieren Menschen auf antimuslimischem Rassismus?
Gümüş: Grundsätzlich hinterlässt jede Diskriminierung bzw. jeder rassistische Angriff Spuren. Die Schwere der Auswirkung auf die jeweilige Person kann von Fall zu Fall variieren. Ausgehend von meinen Beobachtungen kann ich sagen, dass einige Faktoren dabei eine Rolle spielen. Dazu gehört die Art der Diskriminierung bzw. des Angriffs, das Verhältnis zum Täter, die Ermittlungen zum Vorfall, Sanktionen für die Täter und die Unterstützung aus dem Umfeld. Wenn jemand aufgrund ihres Kopftuches oder seines Bartes diskriminiert oder Rassismus ausgesetzt wurde und diese Person durch Hilfe und Unterstützung am Ende Recht bekam oder Solidarität erfahren hat, dann kann die Person gestärkt aus der Krise hervorgehen.
IslamiQ: Was tun Sie als Islamrat gegen den antimuslimischen Rassismus?
Gümüş: Die Bekämpfung des antimuslimischen Rassismus ist für uns ein sehr wichtiges Anliegen. Entsprechend versuchen wir uns vielseitig einzubringen. Der antimuslimische Rassismus wurde lange Zeit kaum beachtet, das Problem eher klein geredet. Es hieß immer wieder, dass das Problem nur künstlich aufgebläht sei und man keine validen Zahlen dazu habe. Aus diesem Anlass und um zu verdeutlichen, dass das Problem doch weit verbreitet ist, haben wir uns für die gesonderte Erfassung antimuslimischer Straftaten durch zahlreiche Initiativen und Projekte eingesetzt. So sollte deutlich werden, dass das Problem existiert und dass viele Ausprägungen des antimuslimischen Rassismus strafrechtlich relevant sind. Das haben unsere Beobachtungen immer wieder gezeigt. Seit 2017 werden sie nun erfasst.
Neben diesem strafrechtlichen Bereich haben wir zum Beispiel eine Ausarbeitung zum antimuslimischen Rassismus in Deutschland veröffentlicht. Darin werden Bereiche, in denen Muslime besonders häufig Rassismus erfahren oder diskriminiert werden, aufgezeigt. Dazu zählen vor allem Bildungseinrichtungen, der Arbeitsplatz, Dienstleitungsanbieter, der Wohnungsmarkt usw.
Wir fordern, dass dieses Thema auch auf die politische Agenda kommt. Ich hoffe, dass der im Bundesinnenministerium jüngst gegründete Unabhängige Expertenkreis Muslimfeindlichkeit diese Bereiche besonders in den Blick nimmt.
Weiter haben wir den Antidiskriminierungsverein FAIR international e.V. um die Erarbeitung eines Projektes zur Durchführung in unseren Moscheen gebeten. Dadurch sollen muslimische Jugendliche, die bei uns den Religionsunterricht an den Wochenenden besuchen, in Workshops für das Thema Rassismus und Diskriminierung sensibilisiert werden. Es soll aufgezeigt werden, wie sie sich in entsprechenden Situationen verhalten können, wie sie sich für andere von Rassismus und Diskriminierung betroffene Menschen einsetzen können und was sie dazu beitragen können, dass Rassismus generell und der antimuslimische Rassismus langfristig bekämpft werden kann.
IslamiQ: Sie haben den Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM) angesprochen. Viele sehen in dessen Einrichtung eine Reaktion auf die Angriffe in Halle und Hanau.
Gümüş: Es ist in jedem Fall ein richtiger und wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Aber so richtig und wichtig er auch ist, so sehr war er auch längst überfällig. Es gab genügend Anzeichen dafür, dass der antimuslimische Rassismus real und virulent ist. Jeder wusste, dass Mölln, Solingen, die Ermordung Marwas, die NSU Morde nur die Spitze des Eisberges waren. Es ist schon seit langem bekannt, dass die Ablehnung des Islams und der Muslime nicht nur bei Rechtsextremisten weit verbreitet ist, sondern längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.
Zwischen 2014 bis heute gab es über 600 Angriffe auf Moscheen. Diskriminierungen in der Schule oder im Beruf sind weit verbreitet. Für das Jahr 2018 registrierten die Behörden 910 antimuslimische Straftaten, darunter 122 Moscheeangriffe. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.
München, Halle und Hanau haben gezeigt: Es ist 10 nach 12! Es müssen jetzt Schritte kommen, die über Symbolik und Projektgelder hinausgehen. Die Kommission muss in Ruhe arbeiten können und vor allem unabhängig von irgendwelchen Wahlen oder Wahlkämpfen, die demnächst anstehen, oder ohne Rücksicht auf rechte Kreise.
IslamiQ: Werden die berufenen Personen der Herausforderung gerecht werden können?
Gümüş: Ob der Expertenkreis am Ende erfolgreich wird oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. In erster Linie davon, dass er die nötige Unterstützung bekommt. Personell finde ich die Besetzung bis auf einige wenige Ausnahmen weitestgehend gut. Was mir fehlt, ist die praktische Ebene, die Betroffenenperspektive. Die ist meiner Meinung nach nicht ausreichend berücksichtigt. Es gibt keine Personen in der Kommission, die diese Perspektive hinreichend ausfüllen könnten. Diese Perspektive ist jedoch besonders wichtig, um zur Entwicklung des Gesamtbildes über den antimuslimischen Rassismus beizutragen.
Die Betroffenenperspektive vervollständigt das Bild. Sie kann zeigen, wie sich die Betroffenen fühlen, wie es um die Betroffenenbetreuung bestellt ist und welche Bedürfnisse sie dabei verspüren. Sie kann deutlich machen, wieso manche Betroffene ein Interesse daran haben, dass ihr Fall rechtlich aufgearbeitet wird, andere hingegen eher weniger. Ferner kann sie aufzeigen, was man tun könnte, um sie bei der Aufarbeitung ihrer Diskriminierung zu unterstützen, wie ihre Betreuung verbessert werden kann, wie aussichtsreich eine juristische Aufarbeitung ist und welche Chancen und Hürden dabei eine Rolle spielen können. Schließlich hilft die Betroffenenperspektive bei der Ursachenanalyse und der Problemlösung. Eine direkte Anbindung an die muslimische Gemeinschaft hätte dazu beigetragen, dass diese Lücke nicht entsteht. Hier sehe ich noch Nachholbedarf.
IslamiQ: Ihre konkreten Erwartungen sind?
Gümüş: Dass der UEM das Problem vieldimensional angeht und zunächst feststellt, über welches Wissen man derzeit verfügt und wo es noch Lücken gibt. Und da gibt es eine Reihe von Bereichen, die noch nicht oder nicht ausreichend ausgeleuchtet wurden. Grundsätzlich wäre es zum Beispiel wichtig, dass wie bereits erwähnt die Betroffenenperspektive bei der Erstellung eines umfassenden Lagebildes mit einbezogen wird. Studien zu Diskriminierung im Berufs-, Bildungs-, Privatbereich und in der Öffentlichkeit existieren zwar ansatzweise. Sie kratzen jedoch nur an der Oberfläche.
Es müssen Anstrengungen unternommen werden, um die Produktion und Reproduktion antimuslimischer Narrative nachzuvollziehen, sie zu lokalisieren und Gegenmaßnahmen einzuleiten. Dazu zählt auch, dass die Alltagssprache, Politsprache, Schulmaterialien und auch die Behördensprache einem rassismuskritischen Blick unterzogen werden. Zur Beobachtung der Implementierung nötiger Maßnahmen sollten in den Bundesländern Instanzen geschaffen werden.
Grundsätzlich sollte dafür gesorgt werden, dass Antidiskriminierungsvereine mehr Unterstützung erfahren. In einer Zeit, in der der gesellschaftliche Zusammenhalt durch Rassismus und Diskriminierung so sehr bedroht wird, spielen sie eine wichtige Rolle. Ausgehend von der zunehmenden Zahl von rassistischen Übergriffen, vielfältigen Diskriminierungen und der täglichen Hetze im Netz muss konstatiert werden, dass sich sowas negativ auf das gesellschaftliche Klima auswirkt. Das heißt aber auch, dass insbesondere Antidiskriminierungsvereine durch Aufklärung, Betroffenenberatung bzw. -begleitung eine gesellschaftlich-strukturrelevante Leistung erbringen. Entsprechend sollten sie in ihrer Arbeit unterstützt werden: Finanziell, aber auch durch Vermittlung von Know-How. Ihnen sollte der Zugang zu Kursen zur Optimierung ihrer Arbeit erleichtert werden, für sie sollten Weiterbildungen möglichst kostenlos angeboten werden.
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes aber auch andere Träger können hierbei eine wichtige Rolle übernehmen. Es wäre sinnvoll, wenn sich der Expertenkreis auch diesen Aspekt auf die Agenda setzt und versucht hier Abhilfe zu leisten.
Ein weiterer wichtiger Punkt wäre die Einbindung der Muslime in zum Beispiel die Krankenhausseelsorge, in die freie Wohlfahrt, in die Rundfunkräte, in die Politik usw. Denn das würde vor Augen führen, dass muslimisches Leben in Deutschland Normalität ist. Der UEM könnte auch hier wichtige Entwicklungen anstoßen.