MUSLIMISCHE AKADEMIKER

„Migrationserfahrungen sichtbar machen“

Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute mit Dr. Ömer Alkın über die visuelle Kultur der Migration.

08
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2020
Migration
Dr. Ömer AkIn

IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?

Dr. Ömer Alkın: Ich bin Kind einer muslimischen Familie und in zweiter Generation in Köln groß geworden. Als ältester Sohn musste ich relativ früh viel Verantwortung übernehmen. Nachdem ich in jungen Jahren schon viel Interesse an Filmen hatte, wollte ich beruflich in diese Richtung gehen und irgendwann meine eigenen Geschichten erzählen. Mit 17 hatte ich schon mein erstes Drehbuch geschrieben. Weil das Studium von Film für mich viele Hürden besaß, habe ich mit einem medienwissenschaftlichen Studium in Düsseldorf begonnen, ohne genau zu wissen, wohin die Reise geht.

Nachdem die Beschäftigung mit komplexen Themen rund um Audiovisualität mich gefesselt hatte, ist aus dem Studium eine Berufung geworden. Ich habe eine relativ umfangreiche Dissertation geschrieben, an deren Anfang noch nicht feststand, dass sie mich am Ende auch an imaginäre und vergangene Orte führen würde – Orte, die nicht nur mit mir und meiner Familie, sondern auch mit sehr vielen Menschen mit Migrationsbezug zu tun haben würden. Das sind die Heterotopien, wie sie Foucault nennt, also die anderen, die ausgeschlossenen Orte.

IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?

Alkın: „Die visuelle Kultur der Migration“ ist ein komplexes Buch geworden. In der Arbeit geht es konkret um die Filme, die das Thema der transnationalen „Gastarbeiter“-migration verhandeln. Dabei adressiert das Buch im Umfeld des Migrationskinos zwischen der Türkei und dem deutschsprachigen Raum besonders eine Frage: Was ist Migration? Weil es die Filme ins Zentrum stellt, aber andererseits auch einige grundlegende Fragen zu Migration allgemein stellt, gliedert sich das Buch in zwei Teile.

Im ersten Teil erörtere ich die Thematik und erzähle eine mögliche historische Entwicklung dieser Filme. Das Besondere hierbei ist, dass ich die Filme aus dem deutschsprachigen Raum und die Filme aus der Türkei zusammenzudenken versuche. Ich zeige auf, warum es schwierig ist, in dem Bereich zu forschen und biete Möglichkeiten an, die Geschichten des Migrationskinos anders oder – wie ich es nenne – polyzentrisch, also von mehreren Zentren aus zu denken.

Im zweiten Teil stelle ich mehrere Filmanalysen aus den populärkulturellen Yeşilçam-Filmen der Türkei vor. Das waren hauptsächlich kommerziell hergestellte Filme in den 1960er und 70er Jahren, die auch heute noch im türkischen Fernsehen ausgestrahlt werden. Anhand der Filmanalysen gehe ich kulturhistorischen Kontexten aber insbesondere der Hauptfrage der Arbeit nach: Wie lässt sich Migration aus den Filmen heraus als umfassendes Phänomen verstehen? Wie sieht eine visuelle Kultur der Migration aus?

IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?

Alkın: Am Anfang sollte die Dissertation hierzulande einen blinden Fleck sichtbar machen: dass das Thema Migration nicht nur in relativ neuen Filmen in Deutschland ganz vielfältig thematisiert wird, sondern auch in Filmen aus der Türkei. Das sind Filme, die meine Familie schon immer geschaut, die ich aber nie im deutschen Fernsehen gesehen hatte. Irgendwie waren das immer getrennte Welten, das fand ich befremdlich. Das musste sich auf das Zusammenleben negativ auswirken.

Ich wollte mit der Dissertation diese unbeachtet gebliebene soziale Erfahrung von Migranten sichtbar machen. Meine Überzeugung ist, dass hier Vermittlungen geleistet werden müssen: Der Film aus der Türkei muss ins kulturelle Gedächtnis Deutschlands, weil er ein Teil davon ist. Nachfolgende Generationen müssen diese Filme recherchieren und verstehen können ohne Türkisch lernen oder sehr viel englischsprachige Recherche machen zu müssen. Von diesen sehr persönlichen Erfahrungen bin ich dann auf grundsätzlichere Fragen gestoßen. Forschen ist immer auch ein Entdecken.

IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht? Was treibt Sie voran?

Alkın: Positiv war für mich insbesondere die Begeisterung der Menschen, die meine Arbeit kennengelernt haben. Weiterhin motiviert hat mich im Forschungsprozess die Erkenntnis, dass die wissenschaftliche Praxis nicht nur ein Forschen und Schreiben im stillen Kämmerlein ist. Wissenschaftliches Arbeiten ist eine sehr vielfältige Aktivität, zu der der globale Austausch, die Vernetzung, die Institutionalisierung und noch vieles mehr gehört. Deswegen ist das Forschen an sich eine wichtige Praxis, da sie vielfältig in soziale Milieus wirkt. Zum Beispiel wird man Vorbild oder ermöglicht wissenschaftsfernen Milieus ein Verstehen von (Geistes-)Wissenschaft und ihrer Rolle für das Leben. Das Stipendium Avicenna Studienwerks hat die Privilegien für ein solches Forschen besonders möglich gemacht. Damit bieten sich inzwischen für Muslime in Deutschland ganz dezidierte Fördermöglichkeiten.

Negativ war die Erfahrung in den vergangenen Jahren zu sehen, wie wenig Muslime, MigrantInnen und People of Color Philosophie, Kultur- oder Geisteswissenschaften studieren. Ihre Zahl steigt, aber sie ist nach wie vor gering, zumindest in einigen Fächern. Das hat sicherlich soziokulturelle und wirtschaftliche Gründe, denn die ökonomische Situation von Geisteswissenschaftlern ist besonders gefährdet, da das Studium auf keinen Beruf dezidiert hin qualifiziert. Wer das studiert, nimmt in Kauf, nach dem Studium noch mehrere Jahre externe Berufserfahrung zu sammeln. Das schreckt auch junge Menschen aus sozial schwächeren Familien zurück. Gerade in Deutschland muss hier mehr gefördert werden. Denn die Kulturwissenschaften sind eine Transdisziplin, die in viele Disziplinen hineinwirken. Muslime müssen hier mehr aktiv werden und dürfen sich nicht auf die üblichen Studiengänge verlassen. Sicherlich würden sich die Themen in den Kulturwissenschaften ändern, wenn mehr Muslime die Möglichkeit eines solchen Studiums erwählen würden oder könnten.

IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?

Alkın: Die muslimische Gemeinschaft in Deutschland besteht nach wie vor noch aus umfassenden und unablässigen Migrationsbewegungen und lebt in vielfältigen kulturellen Kontexten weiter. Weil meine Dissertation ein besseres Verständnis von Migration ermöglicht, profitieren auch weitere Forschungen zum Islam von den Ergebnissen zur Theoretisierung der Migration.
Aufbauend auf meine Dissertation werden in weiteren Forschungen Filme zum Islam in Deutschland analysiert. Ihre Zahl hat in den vergangenen Jahren immens zugenommen und an ihnen lassen sich, wie bei einem Seismographen, gesellschaftliche Prozesse verstehen, die sonst unsichtbar bleiben. So zeigen Filme welche kulturellen Phantasien zum Islam in der Gesellschaft kursieren, die auf sehr bedenkliche Tendenzen schließen, wie die Überlegenheit der westlichen Kultur und des Rassismus.

Repräsentationsfragen, kulturhistorische und Fragen zu Kunst und Ästhetik werden für die muslimische Gemeinschaft in Deutschland immer zentraler werden. Von den Bildern hängt die Bewertung unserer Welt ab. Hier nicht nur auf die so genannten Alltagsmedien zu achten (Berichterstattung in den Nachrichten), sondern den Blick auch auf Kunst und Populärkultur zu richten: dafür steht meine Dissertation und werden auch meine künftigen Aktivitäten stehen.

Leserkommentare

Vera von Praunheim sagt:
Natürlich gibt es auch Filme, die zeigen, welche religiösen oder kulturellen Phantasien zum Islam bei manchen Islamanhängern kursieren, die auf sehr bedenkliche Tendenzen schließen, wie die Überlegenheit der islamischen Religion und des daraus resultierenden Rassismus. Dazu wäre künftig eine eigene Dissertation mit aufklärerischen Aktivitäten sehr zu begrüßen.
09.08.20
20:57