Interview mit Prof. Dr. Paul Mecheril

„Religion wird zu einer Differenzkategorie gemacht“

Islam und Migration. Begriffe die die deutsche Debattenkultur stark dominieren. Wie das Spannungsverhältnis zwischen der Minderheit der Muslimen und der Mehrheit der Nicht-Muslimen im Land bewältigt werden kann, erklärt Prof. Dr. Paul Mecheril im IslamiQ-Interview.

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2017
Minderheit und Mehrheit: ein Spannungsverhältnis? © shutterstock

IslamiQ: Erlauben Sie mir zu Beginn eine persönliche Frage: Sie sind in Indien und Deutschland aufgewachsen. Welche Vor- und Nachteile hat das für Sie in Ihrer heutigen Arbeit als Wissenschaftler?

Prof. Dr. Paul Mecheril: Das ist keine ganz einfache Frage, weil ich zu mir gar nicht so schnell ganz so viel Distanz gewinnen kann, um sie zu beantworten. Wenn ich es dennoch versuche, sehe ich, dass ich erstens Erinnerungen an mein Aufwachsen in Indien und Deutschland, meine Erfahrungen in beiden Ländern verstehen kann als eine Art Zeugenschaft: Ich kann als Nicht-Weißer in Deutschland die postnationalsozialistisch völkische Textur einer zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland bezeugen und ich kann meine Aufenthalte in Indien, ich bin dort eingeschult worden, meine Erfahrungen in Indien jetzt verstehen als Momente, in denen die postkoloniale, dem Westen gegenüber einerseits fast devote, andererseits sozialistisch visionäre Gegenwart Keralas sich spiegelte.

Zum Zweiten hat es für mich immer das „kategoriale Andere“ gegeben – ein Begriff, auf den ich etwa 30 Jahre nach meiner Einschulung in meinem Buch „Prekäre Verhältnisse“ gekommen bin. Ich bin in der Kontingenz und zuweilen auch Willkür der Verhältnisse groß geworden, wozu das deutsche Ausländerrecht und die Verweigerung von Aufenthaltsverlängerungen ein gerüttelt Maß beigetragen haben. Kontingenzerfahrungen sind keine schlechten Voraussetzungen dafür, sich der Wissenschaft anzuvertrauen.

Und drittens hatte ich es hier wie da, da wie hier immer mit Zuschreibungen zu tun, gegen die ich fast nie gekämpft habe. Ich wollte mich immer an sie anschmiegen, um in einem günstigen Augenblick Oberwasser zu bekommen und dann ironisch deutlich zu machen, dass es erstrebenswert ist, jenseits der Zuschreibungen zu sein. Alle drei Punkte sind so sehr nachteilig wie von Vorteil. Fragt sich nur für was und für wen und wann.

 IslamiQ: Muslime in Deutschland sind eine religiöse Minderheit. Wie ist deren Lage aus herrschaftstheoretischer Sicht einzuordnen?

Mecheril: Was mich als Wissenschaftler an dieser Frage interessiert ist, wann, in welcher historisch-politischen Konstellation, aber auch in welchen Interaktionskontexten Menschen anfangen, andere Menschen als Muslime zu erkennen, zu verstehen und zu beschreiben. Dasselbe gilt für migrationsgesellschaftliche Bedingungen, unter denen Menschen beginnen, sich selbst als Muslime zu verstehen und zu bezeichnen. Dabei interessiert mich insbesondere, was diese Phänomene mit Herrschaftsverhältnissen zu tun haben.

„Religion“ ist eine Differenzkategorie, die sich in den letzten Jahren im europäischen und auch deutschsprachigen Diskursraum zu einer medial, wissenschaftlich und politisch wirkmächtigen Kategorie entwickelt hat. Sie ist zu einer medialen, politischen und auch pädagogischen Kennzeichnung geworden. Mich interessiert, durchaus in der Absicht, Herrschaftsverhältnisse zu identifizieren, in welcher Weise „Religion“ als Mechanismus der Unterscheidung von Menschen und der Zuweisung von Rechten und Pflichten fungiert. Nicht zuletzt im Anschluss an die Anschläge auf das US-amerikanische „World Trade Center“ in New York City 2001 hat sich – bemerkenswerter Weise kurz nach Fall des Gegners des Westen, dem Sozialismus – ein vielverzweigter und widersprüchlicher politischer, kultureller, medialer, militärischer und wissenschaftlicher Diskurs um „internationalen Terrorismus“, „Patriotismus“, „Demokratie“ und „religiöse Identität“ ausgebreitet, der sich häufig auf die Differenz zwischen dem so genannten Westen und Nicht-Westen bezieht.

Paul Mecheril ist Professor für Migration und Bildung am Institut für Pädagogik der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg und leitet dort des Center for Migration, Education and Cultural Studies.

In diesem Zusammenhang ist eine Intensivierung und Dramatisierung der öffentlichen Aufmerksamkeit für religiöse Differenz und Pluralität zu verzeichnen, interessanter- und bezeichnenderweise mit Fokus auf „die Muslime“ und „den Islam“. „Der Islam“ in europäischen Diskursen und in Europa ist eine Projektionsfläche für vielfältige Bilder und ein Instrument zur Legitimation bestimmter Formen des Ausschlusses oder der rechtlichen Einschränkung.

IslamiQ: Minderheiten haben generell einen schlechten Stand. Was kann die muslimische Minderheit tun, um ihre Lage zu verbessern? Welche Mittel stehen ihr angesichts des asymmetrischen Verhältnisses zwischen Mehrheit und Minderheit überhaupt zur Verfügung?

Mecheril: Ich bin der Ansicht, dass es ein hohes Gut ist, sich nicht in erster Linie für die Verbesserung der eigenen individuellen oder kollektiven Situation zu engagieren, sondern für allgemeine Regeln der Anerkennung von Unterschieden einzustehen. Vielleicht ist das zu schwärmerisch, aber ich glaube, das zentrale Ziele ist nicht so sehr, kollektiven Identitäten zu ihrem Recht zu verhelfen, sondern sich für die allgemeine Regel der Anerkennung von Unterschieden einzusetzen. Ich bin nicht auf der Seite einer Minderheit, aber ich bin gegen den Totalitarismus jeder Mehrheit, auch jener, die ehemals minoritär war.

IslamiQ: Migration ist so alt wie die Menschheit. Wieso ist es für manche Gesellschaften in Europa, z. B. Deutschland, so schwer, zu akzeptieren, dass eine Einwanderungsgesellschaft heute ganz normal ist?

Mecheril: Es geht um Privilegien, um symbolische und materielle Privilegien und einen Verteilungskampf auf beiden Ebenen. In Deutschland gibt es eine dominanzkulturell und institutionell nach wie vor tief eingeschriebene Unterscheidung zwischen Anderen und Nicht-Anderen. Diese operiert mit der Vorstellung und der imaginären Praxis eines physiognomisch und/oder kulturell irgendwie erkennbaren „Wir“.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist eine weitreichende Unruhe in dieses Selbstverständnis gekommen. Die Revision des Staatsbürgerschaftsrechtes Anfang des 21. Jahrhunderts ist ein wichtiges symbolisches Anzeichen dieser Unruhe. Dennoch ist die Rede von „Fremden“, „Zugewanderten“, „Migranten“ oder auch „Integration“, in der sich die andere Seite als einheitliches Kollektiv entwirft, nach wie vor ein bedeutsames Muster, das die imaginäre Unterscheidung zwischen „Wir“ und „Nicht-Wir“ bestätigt. Die Trägheit beispielsweise der deutschen Bildungseinrichtungen, ihr nationales Selbstverständnis und ihre monokulturellen Praktiken zu verändern, sind ein wichtiges Indiz dieser Verhältnisse und ein wichtiger Mechanismus, der diese gesellschaftlichen Verhältnisse hervorbringt.

Ich gehe davon aus, dass Migration solche Privilegienverhältnisse in Aufruhr versetzt und in Frage stellt. Hierbei geht es aber nicht nur um symbolische, sondern selbstverständlich auch materielle Privilegien. Die Abschottung Europas gegenüber den Ansprüchen und dem Leid Geflüchteter macht dies ja sehr deutlich.

In dem Buch „Die Dämonisierung der Anderen“, das María do Mar Castro Varela und ich herausgegeben haben, finden sich eine Reihe von Analysen, die darauf verweisen, dass die Dämonisierung der migrationsgesellschaftlichen Anderen der Erhaltung einer globalen Ordnung dient, in der der Wohlstand der privilegierten statistischen Minderheit auf Kosten der globalen Anderen geht. Wer es mit transnationaler Migration ernst meint, muss sich mit Fragen globaler Ungleichheit und Ungerechtigkeit kritisch auseinandersetzen. Da diese Kritik für die bestehende politisch-kulturelle Ordnung sozusagen kritisch wird, wird transnationale Migration, zumindest jene, die der Ordnung nicht dienlich ist, und die Tatsache der Weltmigrationsgesellschaft gern so lange es geht ignoriert, dann denunziert.

IslamiQ: Kulturelle bzw. religiöse Vielfalt wird oft als Abweichung bzw. Ausnahme wahrgenommen. Wann und wie kann sie als Normalfall betrachtet werden?

Mecheril: Wenn alle bereit sind, sich selbst auf das Gewaltpotenzial ihrer eigenen Werthaltungen befragen zu lassen. Ein Beispiel: Ich bin in Indien wie in Deutschland in kulturellen Räumen groß geworden, in denen Schwule und Lesben Glück gehabt haben, wenn über sie nur gelacht und sie nicht angegriffen wurden. Ich kritisiere diese Form menschenverachtender Kultur. Zugleich will ich mir mit dieser Kritik nicht die Möglichkeit vergeben, die zum Teil antimigrantischen Ressentiments in homosexuellen Milieus zu kritisieren.

IslamiQ: Im Zuge der zerrütteten deutsch-türkischen Beziehungen wird von Türkeistämmigen bzw. Muslimen immer öfter „Loyalität zu Deutschland“ gefordert. Ähnliches kommt aus Richtung der türkischen Politik. Gibt es keine Alternative für die türkisch-muslimische Community in Deutschland?

Mecheril: Ich freue mich über jede Community, der das Kommunitäre suspekt ist und die darin, über sich selbst lachen kann und derartige Loyalitätsaufforderungen zurückweist – Aufforderungen vielleicht gerade von denen, die keine Steuern zahlen und sich auch anders aus der politisch und ethisch gebotenen Solidarität mit den unbekannten Anderen verabschiedet haben. Mir geht es gar nicht so sehr darum, darüber nachzudenken wie es „Deutschland“ besser gehen kann oder der „Türkei“ oder „den Deutschen“ oder „den Türken“. Mich interessiert vielmehr, wie es möglich ist, Verhältnisse möglich werden zu lassen, in denen weniger Gewalt gegen andere sinnvoll und attraktiv ist.

Das Interview führte Ali Mete. 

Leserkommentare

Manuel sagt:
"Was kann die muslimische Minderheit tun, um ihre Lage zu verbessern?" Die islamischen Minderheiten könnten beispielsweise endlich aufhören ständig auf mittelalterliche Dogmen, wie dem islamischen Kopftuch zu bestehen, Selbstkritik üben, den Säkularismus akzeptieren, Frauen nicht ständig als Menschen zweiter Klasse zu sehen, Aufzuhören außereheliche Sexualität und Homosexualität zu verteufeln, usw,. usw.
11.11.17
18:00
Johannes Disch sagt:
Es ist kein Fehler, sondern eine unvermeidliche Notwendigkeit, dass im Falle islamischer Migration die Religion zu einem Differenzfaktor wird. Schließlich bringen muslimische Migranten Welt-und Menschenbilder mit, die mit denen des säkularen Europa nicht unbedingt vereinbar sind. Es geht nicht darum, dass mit den Migranten immer mehr Islam nach Europa kommt, sondern welcher Islam? a) Ein orthodox-konservativer Islam? Oder b) Ein liberaler Islam? Das ist die entscheidende Frage! Und die Antwort kann nur lauten: Option b). Nur solch ein Islam ist mit dem säkularen Europa kompatibel. Und leider vertreten die großen Islam-Verbände keinen solchen liberalen Islam, weshalb sie als Gesprächspartner oder gar als Kooperationspartner nicht in Frage kommen.
11.11.17
19:41
Frederic Voss sagt:
Der Migrationsprofessor möchte die zum Teil antimigrantischen Ressentiments in homosexuellen Milieus kritisieren können. Möchte er auch die antihomosexuellen Ressentiments in islamischen Milieus ebenfalls kritisieren können? Gerne würde ich von ihm auch eine qualifizierte Äußerung über die wahren Herrschaftsverhältnisse in islamisch dominierten Ländern lesen - im Vergleich zu europäischen, nicht islamisch gesteuerten Ländern.
11.11.17
23:57
Ute Fabel sagt:
Durch Bibel und Koran zieht sich die Trennung in die guten Rechtgläubigen und die schlechten Anders- oder Ungläbigen wie ein roter Faden. Dieses Auseinanderdividieren der Menschen ist Wesensmerkmal der abrahamitischen Religionen. Liberales, tolerantes Christentum, wie es Katrin Göring-Eckhardt vertritt oder offener barmherziger Islam in Sinne von Mouhanad Khorchide sind zwar sympathisch aber intellektuell unredlich. Die Schrifttexte sagen einfach anderes.
15.11.17
7:10
Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel So, ein liberaler Islam und ein liberales Christentum sind nicht möglich, da die Schrifttexte etwas anderes sagen? Dann glauben Sie also, die endgültige Interpretation / die wahre (Be)Deutung dieser Texte zu kennen? Glückwunsch.
16.11.17
18:36
Dilaver Çelik sagt:
@Johannes Disch Der sogenannte "liberale Islam", für den Sie plädieren, ist nichts anderes als eine künstlich geschaffene Sekte von bestimmten Leuten, welche sich dem System sowie der Mehrheitsgesellschaft anbiedern wollen. Die vier (informellen) islamischen Religionsgemeinschaften DITIB, VIKZ, Islamrat sowie der ZMD hingegen vertreten bei aller Pluralität die islamische Religion authentisch. Und diese werden weiterhin den Islam in Deutschland prägen, ob das gewissen Leuten passt oder nicht. Keine anderen sonst. Und diese vier werden immer mit Vertretern der Politik Gespräche führen. Und wer kein Muslim, dem kann das alles sowieso egal sein. So wie es Muslime auch nicht sonderlich interessiert, wenn Vertreter der beiden großen Kirchen Gespräche mit Vertretern der Politik führen.
17.11.17
15:59
Ute Fabel sagt:
In Johannes 14:6 werden folgende Jesusworte zitiert: „ Ich bin die Wahrheit, das Leben und das Licht. Das Weg zum Vater führt nur durch mich“ In Markus 16:16 können wir folgende Jesusworte lesen: Wer da glaubt und getauft ist, der wir erlöset sein, wer nicht glaubt, der wird verdammt sein. Klarer kann doch absoluter Wahrheitsanspruch, religiöse Intoleranz und Geringschätzung von Anders- öde Nichtgläubigen wohl kaum ausgedrückt werden.
18.11.17
3:56
Ute Fabel sagt:
In Johannes 14:6 werden folgende Jesusworte zitiert: „ Ich bin die Wahrheit, das Leben und das Licht. Das Weg zum Vater führt nur durch mich“ In Markus 16:16 können wir folgende Jesusworte lesen: Wer da glaubt und getauft ist, der wir erlöset sein, wer nicht glaubt, der wird verdammt sein. Klarer kann doch absoluter Wahrheitsanspruch, religiöse Intoleranz und Geringschätzung von Anders- öde Nichtgläubigen wohl kaum ausgedrückt werden.
18.11.17
3:57
Johannes Disch sagt:
@Deliver Celik (17.11.17, 15:59) Man muss nicht um Etiketten streiten. Verbindlich für alle Muslime sind au´sschließlich die "5 Säulen" des Ismam. Und diese "5 Säulen" sind auch problemlos mit unserer Verfassung vereinbar. Und nur für diese gilt die Religionsfreiheit. Alles Andere-- die Interpretationen verschiedener Rechtsschulen, die unterschiedlichen islamischen Konfessionen, postkoranisches wie Scharia und Kopftuch, etc.-- haben nix mit dem "wahren Islam" zu tun und fallen auch nicht unter Religionsfreiheit.
20.11.17
22:57
Ute Fabel sagt:
@Johannes Disch: Der Koran, und damit der ihrer Meinung nach "wahre" Islam stehen in eklatantem Widerspruch zum Grundgesetz: In Sure 4: 34 steht: Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie (von Natur aus vor diesen) ausgezeichnet hat. In Artikel 3 Grundgesetz steht hingegen in Absatz 2: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
21.11.17
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