Islam und Migration. Begriffe die die deutsche Debattenkultur stark dominieren. Wie das Spannungsverhältnis zwischen der Minderheit der Muslimen und der Mehrheit der Nicht-Muslimen im Land bewältigt werden kann, erklärt Prof. Dr. Paul Mecheril im IslamiQ-Interview.
IslamiQ: Erlauben Sie mir zu Beginn eine persönliche Frage: Sie sind in Indien und Deutschland aufgewachsen. Welche Vor- und Nachteile hat das für Sie in Ihrer heutigen Arbeit als Wissenschaftler?
Prof. Dr. Paul Mecheril: Das ist keine ganz einfache Frage, weil ich zu mir gar nicht so schnell ganz so viel Distanz gewinnen kann, um sie zu beantworten. Wenn ich es dennoch versuche, sehe ich, dass ich erstens Erinnerungen an mein Aufwachsen in Indien und Deutschland, meine Erfahrungen in beiden Ländern verstehen kann als eine Art Zeugenschaft: Ich kann als Nicht-Weißer in Deutschland die postnationalsozialistisch völkische Textur einer zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland bezeugen und ich kann meine Aufenthalte in Indien, ich bin dort eingeschult worden, meine Erfahrungen in Indien jetzt verstehen als Momente, in denen die postkoloniale, dem Westen gegenüber einerseits fast devote, andererseits sozialistisch visionäre Gegenwart Keralas sich spiegelte.
Zum Zweiten hat es für mich immer das „kategoriale Andere“ gegeben – ein Begriff, auf den ich etwa 30 Jahre nach meiner Einschulung in meinem Buch „Prekäre Verhältnisse“ gekommen bin. Ich bin in der Kontingenz und zuweilen auch Willkür der Verhältnisse groß geworden, wozu das deutsche Ausländerrecht und die Verweigerung von Aufenthaltsverlängerungen ein gerüttelt Maß beigetragen haben. Kontingenzerfahrungen sind keine schlechten Voraussetzungen dafür, sich der Wissenschaft anzuvertrauen.
Und drittens hatte ich es hier wie da, da wie hier immer mit Zuschreibungen zu tun, gegen die ich fast nie gekämpft habe. Ich wollte mich immer an sie anschmiegen, um in einem günstigen Augenblick Oberwasser zu bekommen und dann ironisch deutlich zu machen, dass es erstrebenswert ist, jenseits der Zuschreibungen zu sein. Alle drei Punkte sind so sehr nachteilig wie von Vorteil. Fragt sich nur für was und für wen und wann.
IslamiQ: Muslime in Deutschland sind eine religiöse Minderheit. Wie ist deren Lage aus herrschaftstheoretischer Sicht einzuordnen?
Mecheril: Was mich als Wissenschaftler an dieser Frage interessiert ist, wann, in welcher historisch-politischen Konstellation, aber auch in welchen Interaktionskontexten Menschen anfangen, andere Menschen als Muslime zu erkennen, zu verstehen und zu beschreiben. Dasselbe gilt für migrationsgesellschaftliche Bedingungen, unter denen Menschen beginnen, sich selbst als Muslime zu verstehen und zu bezeichnen. Dabei interessiert mich insbesondere, was diese Phänomene mit Herrschaftsverhältnissen zu tun haben.
„Religion“ ist eine Differenzkategorie, die sich in den letzten Jahren im europäischen und auch deutschsprachigen Diskursraum zu einer medial, wissenschaftlich und politisch wirkmächtigen Kategorie entwickelt hat. Sie ist zu einer medialen, politischen und auch pädagogischen Kennzeichnung geworden. Mich interessiert, durchaus in der Absicht, Herrschaftsverhältnisse zu identifizieren, in welcher Weise „Religion“ als Mechanismus der Unterscheidung von Menschen und der Zuweisung von Rechten und Pflichten fungiert. Nicht zuletzt im Anschluss an die Anschläge auf das US-amerikanische „World Trade Center“ in New York City 2001 hat sich – bemerkenswerter Weise kurz nach Fall des Gegners des Westen, dem Sozialismus – ein vielverzweigter und widersprüchlicher politischer, kultureller, medialer, militärischer und wissenschaftlicher Diskurs um „internationalen Terrorismus“, „Patriotismus“, „Demokratie“ und „religiöse Identität“ ausgebreitet, der sich häufig auf die Differenz zwischen dem so genannten Westen und Nicht-Westen bezieht.
In diesem Zusammenhang ist eine Intensivierung und Dramatisierung der öffentlichen Aufmerksamkeit für religiöse Differenz und Pluralität zu verzeichnen, interessanter- und bezeichnenderweise mit Fokus auf „die Muslime“ und „den Islam“. „Der Islam“ in europäischen Diskursen und in Europa ist eine Projektionsfläche für vielfältige Bilder und ein Instrument zur Legitimation bestimmter Formen des Ausschlusses oder der rechtlichen Einschränkung.
IslamiQ: Minderheiten haben generell einen schlechten Stand. Was kann die muslimische Minderheit tun, um ihre Lage zu verbessern? Welche Mittel stehen ihr angesichts des asymmetrischen Verhältnisses zwischen Mehrheit und Minderheit überhaupt zur Verfügung?
Mecheril: Ich bin der Ansicht, dass es ein hohes Gut ist, sich nicht in erster Linie für die Verbesserung der eigenen individuellen oder kollektiven Situation zu engagieren, sondern für allgemeine Regeln der Anerkennung von Unterschieden einzustehen. Vielleicht ist das zu schwärmerisch, aber ich glaube, das zentrale Ziele ist nicht so sehr, kollektiven Identitäten zu ihrem Recht zu verhelfen, sondern sich für die allgemeine Regel der Anerkennung von Unterschieden einzusetzen. Ich bin nicht auf der Seite einer Minderheit, aber ich bin gegen den Totalitarismus jeder Mehrheit, auch jener, die ehemals minoritär war.
IslamiQ: Migration ist so alt wie die Menschheit. Wieso ist es für manche Gesellschaften in Europa, z. B. Deutschland, so schwer, zu akzeptieren, dass eine Einwanderungsgesellschaft heute ganz normal ist?
Mecheril: Es geht um Privilegien, um symbolische und materielle Privilegien und einen Verteilungskampf auf beiden Ebenen. In Deutschland gibt es eine dominanzkulturell und institutionell nach wie vor tief eingeschriebene Unterscheidung zwischen Anderen und Nicht-Anderen. Diese operiert mit der Vorstellung und der imaginären Praxis eines physiognomisch und/oder kulturell irgendwie erkennbaren „Wir“.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist eine weitreichende Unruhe in dieses Selbstverständnis gekommen. Die Revision des Staatsbürgerschaftsrechtes Anfang des 21. Jahrhunderts ist ein wichtiges symbolisches Anzeichen dieser Unruhe. Dennoch ist die Rede von „Fremden“, „Zugewanderten“, „Migranten“ oder auch „Integration“, in der sich die andere Seite als einheitliches Kollektiv entwirft, nach wie vor ein bedeutsames Muster, das die imaginäre Unterscheidung zwischen „Wir“ und „Nicht-Wir“ bestätigt. Die Trägheit beispielsweise der deutschen Bildungseinrichtungen, ihr nationales Selbstverständnis und ihre monokulturellen Praktiken zu verändern, sind ein wichtiges Indiz dieser Verhältnisse und ein wichtiger Mechanismus, der diese gesellschaftlichen Verhältnisse hervorbringt.
Ich gehe davon aus, dass Migration solche Privilegienverhältnisse in Aufruhr versetzt und in Frage stellt. Hierbei geht es aber nicht nur um symbolische, sondern selbstverständlich auch materielle Privilegien. Die Abschottung Europas gegenüber den Ansprüchen und dem Leid Geflüchteter macht dies ja sehr deutlich.
In dem Buch „Die Dämonisierung der Anderen“, das María do Mar Castro Varela und ich herausgegeben haben, finden sich eine Reihe von Analysen, die darauf verweisen, dass die Dämonisierung der migrationsgesellschaftlichen Anderen der Erhaltung einer globalen Ordnung dient, in der der Wohlstand der privilegierten statistischen Minderheit auf Kosten der globalen Anderen geht. Wer es mit transnationaler Migration ernst meint, muss sich mit Fragen globaler Ungleichheit und Ungerechtigkeit kritisch auseinandersetzen. Da diese Kritik für die bestehende politisch-kulturelle Ordnung sozusagen kritisch wird, wird transnationale Migration, zumindest jene, die der Ordnung nicht dienlich ist, und die Tatsache der Weltmigrationsgesellschaft gern so lange es geht ignoriert, dann denunziert.
IslamiQ: Kulturelle bzw. religiöse Vielfalt wird oft als Abweichung bzw. Ausnahme wahrgenommen. Wann und wie kann sie als Normalfall betrachtet werden?
Mecheril: Wenn alle bereit sind, sich selbst auf das Gewaltpotenzial ihrer eigenen Werthaltungen befragen zu lassen. Ein Beispiel: Ich bin in Indien wie in Deutschland in kulturellen Räumen groß geworden, in denen Schwule und Lesben Glück gehabt haben, wenn über sie nur gelacht und sie nicht angegriffen wurden. Ich kritisiere diese Form menschenverachtender Kultur. Zugleich will ich mir mit dieser Kritik nicht die Möglichkeit vergeben, die zum Teil antimigrantischen Ressentiments in homosexuellen Milieus zu kritisieren.
IslamiQ: Im Zuge der zerrütteten deutsch-türkischen Beziehungen wird von Türkeistämmigen bzw. Muslimen immer öfter „Loyalität zu Deutschland“ gefordert. Ähnliches kommt aus Richtung der türkischen Politik. Gibt es keine Alternative für die türkisch-muslimische Community in Deutschland?
Mecheril: Ich freue mich über jede Community, der das Kommunitäre suspekt ist und die darin, über sich selbst lachen kann und derartige Loyalitätsaufforderungen zurückweist – Aufforderungen vielleicht gerade von denen, die keine Steuern zahlen und sich auch anders aus der politisch und ethisch gebotenen Solidarität mit den unbekannten Anderen verabschiedet haben. Mir geht es gar nicht so sehr darum, darüber nachzudenken wie es „Deutschland“ besser gehen kann oder der „Türkei“ oder „den Deutschen“ oder „den Türken“. Mich interessiert vielmehr, wie es möglich ist, Verhältnisse möglich werden zu lassen, in denen weniger Gewalt gegen andere sinnvoll und attraktiv ist.
Das Interview führte Ali Mete.