2017 markiert den Beginn der separaten Erfassung islamfeindlicher Straftaten. Doch wie sieht Islamfeindlichkeit im Alltag aus? Journalist Fabian Köhler traf die 17-Jährige Muslimin Elena, die den Hass hautnah zu spüren bekam.
Der Moment, in dem Elena den Glauben verlor, begann mit einem Schrei: „Schlampe, nimm den Lappen runter!“ Und er endete mit einem Schlag ins Gesicht. „Ich wusste, dass es solche Leute gibt. Aber ich hatte nicht geglaubt, dass mir das mal passiert“, erzählt Elena über den Tag, als sie im Sommer letzten Jahres eigentlich auf dem Weg zu einer Freundin war und sie sich plötzlich auf dem Bordstein wieder fand.
Elena ist 17, Schülerin, wohnt im Berliner Stadtteil Wedding. In vielerlei Hinsicht ein ganz normales Mädchen: Ein wenig zu spät, zu viel Puder im Gesicht. Redet viel, kichert noch mehr. Beigefarbener Mantel. Mintgrünes Kopftuch. Warum sie die die wildfremde Frau an jenem Juli-Tag niederschlug, hat Elena nie erfahren. „Ein anderes Mädchen hat mir aufgeholfen und wollte die Polizei rufen, aber da war die Frau schon verschwunden. Ich glaube sie war verrückt also krank oder so.“
Sicher ist hingegen: Elena ist nicht die einzige, der so etwas wiederfährt. Immer häufiger werden in Deutschland kopftuchtragende Frauen und Mädchen zu Opfern, berichten Betroffene, Opferinitiativen und Islamverbände. Die Angriffe reichen von verbalen Beschimpfungen bis zu körperlichen Angriffen. Mindestens einmal pro Woche taucht in irgendeiner Lokalzeitung eine Meldung über einen Fall wie den von Elena auf: Ende März schlugen und traten an einer Bushaltestelle in NRW Unbekannte auf ein 14-jähriges Mädchen ein. Anfang April traf es eine kopftuchtragende Frau in Bayern. Wenige Tage später wurde in Berlin eine 17-jährige mit Kopftuch von zwei Männern und einer Frau angriffen und verletzt.
„An meiner Schule ist es normal, Kopftuch zu tragen. Dort habe ich keine Angst“, erzählt Elena, die in Wahrheit anders heißt, aber nicht will, dass ihre Mitschüler ihren Namen in der Zeitung lesen. Ihre Schule liegt nur wenige Gehminuten entfernt und ist der eigentliche Grund unseres Treffens. Denn eigentlich wollte Elena von der Flüchtlingsarbeit ihrer Schule berichten. Aber relativ schnell kommt das Gespräch auf jene Erfahrungen, die laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Gallups rund jede Dritte muslimische Migrantin in den vergangenen zwölf Monaten in der EU gemacht hat: „In der U-Bahn oder auf der Straße bekommst du schon mal Sprüche: ‚Terroristin‘ oder ‚Taliban-Braut‘. Die Aufforderung, dorthin zurückzukehren, wo sie herkommt, höre sie mindestens ein pro Monat. „Aber was soll ich in Pankow?“, fragt Elena und freut sich sichtlich über ihre Pointe.
Aufgewachsen ist Elena im Berliner Stadtteil am nördlichen Rand von Berlin. Das Gegenteil von einem migrantischen Problemviertel. Zwei Geschwister. Besonders religiös sei keines drei Kinder erzogen worden, erzählt Elena. „Meine Eltern wollten, das alles schön Deutsch ist. Wir sind alle bestens integriert. Mein Bruder geht sogar auf eine Waldorf-Schule“, erzählt Elena und freut sich jetzt noch mehr. Anfang der 90er und damit lange vor Elenas Geburt kamen ihre Eltern aus Ägypten zum Studieren nach Berlin. Der Vater Medizin, die Mutter Architektur. Daran nach Ägypten zurückzukehren, hätten ihre Eltern allerdings tatsächlich schon einmal gedacht. Elena. „Damals als die Sache mit der Apothekerin war.“
Die „Apothekerin“ ist Marwa El-Sherbini. Die Ägyptern war 2008 auf einem Spielplatz in Dresden von einem Deutschen islamfeindlich beleidigt worden und zeigte ihn an. Als ihn am 1. Juli 2009 ein Gericht zu einer Geldstrafe verurteilte, stieß er El-Sherbini noch im Gerichtssaal zu Boden und tötete die junge Frau mit 18 Messerstichen. Internationale Aufmerksamkeit erregte der Fall auch, weil sich deutsche Politiker lange weigerten die Tat öffentlich zu verurteilen und als islamfeindlich einzustufen.
Die Ermordung El-Sherbinis ist nicht der einzige Fall, an dem sich die Ignoranz gegenüber dem Thema Islamfeindlichkeit in Deutschland zeige. Lange hat es gedauert bis sich Politiker und Behörden bereit erklärten, islamfeindliche Straftaten überhaupt polizeilich gesondert zu erfassen. Wie viele Übergriffe es auf kopftuchtragende Musliminnen gibt, ist nicht nur schwierig zu sagen, weil wie sich wie Elena die meisten Opfer scheuen, den Angriff zur Anzeige zu bringen.
Erst seit Januar 2017 führt die Polizeistatistik des BKA eine eigene Unterrubrik für islamfeindlich motivierte Straftaten. Angesichts zunehmender Islamfeindlichkeit hatten Opferverbände, Anti-Rassismusinitiativen und muslimische Organisationen bereits seit Jahren auf die Erfassung gedrängt, die bei antisemitisch motivierten Straftaten längst üblich ist. Politiker hingegen verwiesen lange Zeit, dass dies entweder nicht nötig oder nicht möglich sei.
Ohnehin sind offene Angriffe nicht die einzige Form der Diskriminierung, denen sich kopftuchtragende Musliminnen in Deutschland ausgesetzt sehen. Im vergangene Jahre zeigte eine Studie der Uni Linz, wie schwer es ist, als Muslimin einen Job zu finden. Rund 1.500 Bewerbungen verschickten die Wissenschaftler – mal mit deutsch klingendem Namen, mal mit türkischem, mal zusätzlich mit Kopftuch. Das Ergebnis: Als kopftuchtragende Türkin mussten sie vier bis fünfmal so viele Bewerbungen schreiben, um eine Antwort zu erhalten wie ihr gleich qualifiziertes deutsches Alter Ego.
Die Ausgrenzung von Musliminnen auf dem Arbeitsmarkt könnte sich in Zukunft noch deutlich verschärfen: Anfang März hatte der Europäische Gerichtshof in Luxemburg die Klage einer belgischen Rezeptionistin abgewiesen, der aufgrund ihres Kopftuchs gekündigt worden war. Die EuGH-Richter argumentierten, dass Arbeitgeber das Tragen von Kopftüchern verbieten können, wenn dies für alle religösen Symbole gleichermaßen gelte. Betroffen sind demnach theoretisch auch Träger von indischen Dastars, spanischen Mantillas und jüdischen Kippas betroffen. Doch in der Praxis dürfte das Urteil vor allem kopftuchtragende Musliminnen treffen, kritisieren neben islamischen Organisationen auch Vertreter der Opposition im Bundestag.
„Früher haben die Leute nur hinter vorgehaltener getuschelt: ‚Guck mal, was ist das für eine‘ oder so. Heute spucken sie dich, beschimpfen dich, oder fragen dich, ob mich mein Mann dazu gewungen habe.“ Die Entscheidung, das Kopftuch zu tragen, habe sie vor drei Jahren getroffen, erzählt Elena. „Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, ob ich es machen soll. Irgendwann hat es einfach richtig angefühlt. Für mich ist meine Kleidung Ausdruck meiner Persönlichkeit. Dazu gehört eben auch Gott und das zeige ich mit dem Kopftuch.“ Auf sie eingewirkt, dass Kopftuch zu tragen, habe niemand, versichert sie. Im Gegenteil: „Meine Mutter sagt, es ist meine Entscheidung. Mein Vater will, dass ich es abnehme. Er hat Angst davor, was passiert, wenn die Stimmung noch schlechter wird.“
Wie schlecht die Stimmung gegenüber den fünf Millionen Muslimen in Deutschland jetzt schon ist, haben mehrere Studien ermittelt. Eine repräsentativen Umfrage der Universität Leipzig ergab im vergangenen Jahr, dass rund 41 Prozent der Bundesbürger fordern, Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland zu untersagen. 2009 waren es nur halb so viele. Sogar Zweidrittel der Deutschen äußerten die Meinung, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. In einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur sprach sich jeder zweite Befragte außerdem für ein generelles Kopftuchverbot an Schulen aus. Der Soziologe Florian Kreutzer hat außerdem Musliminnen zu Diskriminierungserfahrungen interviewt. Das Fazit seiner Studie „Stigma Kopftuch“ : Kopftuchtragende Frauen hätten oft nur die Wahl zwischen Assimilation und Ausgrenzung.
Ernsthaft darüber nachgedacht, ihr Kopftuch abzulegen habe Elena nicht. Zumindest nicht nach dem Angriff vom letzten Sommer. „Vor zwei Monaten habe ich das erste Mal darüber nachgedacht“. Jemand habe damals ihrer Schwester versucht, das Kopftuch herunterzureißen. Aus Angst vor weiteren Übergriffen habe ihre Schwester schließlich das Kopftuch abgelegt. Ob das für sie auch infrage käme? Elena überlegt eine Weile, bevor sie dann doch den mintgrünen Kopf schüttelt: „Am schönsten wäre, wenn es irgendwann einfach keine Rolle mehr spielt.“