Debatte um Leitkultur

De Maizières Leitkultur-Vorstoß stößt auf Kritik

Wahlkampf oder ernsthafte Debatte über die deutsche Leitkultur. Innenminister de Maizière erntet mit seinem Vorstoß viel Kritik, auch von muslimischer Seite.

01
05
2017
Thomas De Maizière Leitkultur
Bundesinnenminister Thomas De Maizière und seine Leitkultur© BMI / Peter Lorenz

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat die Bundesbürger aufgerufen, sich selbstbewusst zu einer deutschen Leitkultur zu bekennen und sie vorzuleben. „Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark“, schrieb de Maizière in der „Bild am Sonntag“. Wenn diese eigene Kultur «uns im besten Sinne des Wortes leitet, dann wird sie ihre prägende Wirkung auf andere entfalten. Auch auf die, die zu uns kommen und bleiben dürfen».

Der Innenminister erhielt aus den eigenen Reihen Zustimmung. Der politische Gegner sieht in der von de Maizière angestoßenen Debatte um eine deutsche Leitkultur dagegen vor allem Wahlkampf und rechte Stimmungsmache.

De Maizière nannte einen Katalog von zehn Punkten, der jenseits von Grundrechten und Grundgesetz nach seiner Einschätzung die Leitkultur ausmacht. Dies seien keine Rechtsregeln, „sondern ungeschriebene Regeln unseres Zusammenlebens“, die durchaus um weitere Punkte ergänzt werden könnten, argumentierte der Innenminister. Unter anderem hob er hervor, dass Deutschland eine „offene Gesellschaft“ sei. „Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka.“

In Deutschland sei „Religion Kitt und nicht Keil der Gesellschaft“. Kirchliche Feiertage „prägen den Rhythmus des Jahres. Kirchtürme prägen unsere Landschaft“. Gleich wohl sei Deutschland weltanschaulich neutral. „Für uns sind Respekt und Toleranz wichtig.“ Zum Mehrheitsprinzip gehöre der Minderheitenschutz. Gewalt werde grundsätzlich nicht akzeptiert. „Wir verknüpfen Vorstellungen von Ehre nicht mit Gewalt.“ Die Deutschen „sind aufgeklärte Patrioten. Ein aufgeklärter Patriot liebt sein Land und hasst nicht andere.“

Zur Leitkultur gehörten zudem ein gewisses Bildungsideal, der Leistungsgedanke, das Erbe der deutschen Geschichte mit dem besonderen Verhältnis zu Israel und der kulturelle Reichtum, so de Maizière.

„Rechte Stimmungsmache“

Aus den Reihen von SPD, FDP und Grünen kam Widerspruch. SPD-Generalsekretärin Katarina Barley erklärte: „Unsere Leitkultur heißt Grundgesetz. Darin sind alle wichtigen Aspekte des Zusammenlebens in Deutschland geregelt. Die Gleichstellung von Mann und Frau, die Presse-, Meinungs- und Religionsfreiheit sowie das Gewaltmonopol des Staates.“ De Maizière bediene mit seinen Thesen „nur rechte Ressentiments“. Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) argumentierte ähnlich.

FDP-Chef Christian Lindner sagte der dpa, de Maizière wolle lediglich Wahlkampf machen: „Der Beitrag von Herrn de Maizière ist ein Ablenkungsmanöver. Die CDU bringt eine moderne Einwanderungspolitik mit gesetzlicher Grundlage nicht zustande. Stattdessen werden jetzt alte Debatten aufgewärmt.“

Der frühere Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) nannte im Kurznachrichtendienst Twitter den Vorstoß „pure rechte Stimmungsmache“. Aus Sicht von Grünen-Chefin Simone Peter braucht Deutschland keine Debatte über eine Leitkultur, sondern „eine neue Innenpolitik, die Integration voranbringt, rechte Netzwerke prüft und extremistische Gefährder im Auge hat“, wie sie im Kurznachrichtendienst verbreitete.

Die AfD-Vorsitzende Frauke Petry ging den Innenminister über Twitter persönlich an: „Modell de Maizière: Deutsche Leitkultur während der Legislatur torpedieren, zwei Wochen vor der Wahl den großen Kulturverteidiger spielen“, schrieb sie.

„Unsere Regeln stehen nicht in Boulevardblättern“

Auch der Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG), Bekir Altaş, äußerte sich zu den Thesen des Innenministers. „Die Thesen von Bundesinnenminister Thomas de Maizière markieren einen neuen Tiefpunkt in der ewiggestrigen Leitkultur-Debatte. Unsere Gesellschaft wird nicht von Regeln getragen, die in Boulevardblättern formuliert werden, sondern von Werten, die in unserer Verfassung stehen“, erklärt Bekir Altaş. Die Freiheitlichkeit eines Staates garantiere jedem Einzelnen die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.

Deutschland sei faktisch seit über sechzig Jahren ein Einwanderungsland mit immer vielfältigeren Lebensweisen und Einflüssen. Den Zusammenhalt der vielfältigen Gesellschaft garantiere der Respekt vor individueller Freiheit und eben keine Leitkultur. „Unsere Gesellschaft ist stark und selbstbewusst genug, sich keine vorformulierte Leitkultur überstülpen zu lassen“, so Altaş weiter.

Zuspruch aus den eigenen Reihen

Zustimmung kam aus CDU und CSU. CDU-Vize Thomas Strobl sagte der „Heilbronner Stimme“ (Dienstag): „Der Einwurf des Bundesinnenministers ist goldrichtig.“ Er fügte hinzu: „Wenn ich mir anschaue, wie die in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürger beim Referendum abgestimmt haben, muss ich sagen: Das ist auch eine Folge gescheiterter Integration.“ Deutschland habe in der Vergangenheit Integration zu wenig eingefordert.

CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer sagte der „Passauer Neuen Presse“ (Dienstag): „Es ist überfällig, dass die Debatte über Leitkultur endlich auch in Berlin geführt wird.“ Ohne gemeinsame Selbstverständlichkeiten zerfalle eine Gesellschaft; die deutsche Leitkultur sei viel mehr als das Grundgesetz.

Das CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn erklärte: „CDU und CSU stehen für ein klares Bekenntnis zu unserer Leitkultur. Gerade weil wir durch Zuwanderung und gesellschaftliche Offenheit vielfältiger werden, brauchen wir die Leitkultur als das einigende Band.“ (dpa, iQ)

 

Leserkommentare

Johannes Disch sagt:
Die Leitkultur-Debatte ist ein alter Hut. Bassam Tibi hat sie vor bereits 20 Jahren geführt. Die aktuellen Reaktionen zeigen: Deutschland hat noch immer nix kapiert.
02.05.17
3:22
Ute Fabel sagt:
Religionen tragen großes Konfliktpotential in sich. Der hugenottische Familiennamen des Innenministers zeugt davon. Religionen sind ein Keil der Gesellschaft, der Kitt sollen sie gar nicht sein. Das steht im Widerspruch zur negativen Religionsfreiheit. Epikur hatte recht: Mach dir deine eigenen Götter und unterlasse es, dich mit einer schnöden Religion zu beflecken. Die Behauptung, dass kirchliche Feiertage den Rhythmus des Jahres prägen, stimmt nicht. Was man zu Fronleichnam und Maria Empfängnis eigentlich feiert, weiß kaum ein Taufscheinkatholik. Man freut sich einfach über einen arbeitsfreien Tag Auch der Sonntag hat klar vorchristliche Tradition: Bereits ab Caesar hieß der erste Tag, der der Sonne gewidmet war, "dies solis".
02.05.17
14:32
Andreas sagt:
Wenn diese Leitkultur sich inhaltlich mit dem Grundgesetz deckt, habe ich nichts dagegen. Leider wird damit aber immer etwas anderes gemeint. Dummerweise aber auch nicht immer das Gleiche. Es ist ein diffuser Begriff, der von jedem anders gefüllt werden kann. Vor allem kann man in einer modernen pluralen und offenen Gesellschaft die Leitkultur nicht auf eine Religion beziehen und gegen eine andere richten. Da muss man schon etwas anderes finden, das als gemeinsame Basis dienen kann. Und ich denke, die Werte des Grundgesetztes sind da eine gute Ausgangslage.
02.05.17
18:59
grege sagt:
In dem man das Kind mit dem Bade ausschüttet, werden Leitkultur und Islamkritik in diesem Land auf Basis eines falschen Toleranzverständnisses in die Rechte Ecke gerückt. Um sich in einem Land zu integrieren, reicht die Einhaltung der Gesetze in Verbindung mit der geltenden Verfassungsordnung leider nicht aus. Auch eine Identifikation mit dem Wertesystem und der daraus resultierden Lebenskultur ist mindestens genauso notwendig. In einem islamisch geprägten Land würden die dortigen Bewohner mich auch nicht als integrationsfähig einstufen, trotz Einhaltung dortiger Gesetze. Wer daher als Immigrant der hiesigen Lebenskultur ablehnend bis hasserfüllt gegenübersteht, hat sich die falsche Heimat ausgesucht
03.05.17
19:59
Johannes Disch sagt:
@Andreas Der Begriff "Leitkultur" ist keineswegs diffus. Es gebrauchen ihn leider nur viele Politiker, die nicht wissen, was damit gemeint ist. Zu einer "Europäischen Leitkultur" (keiner deutschen!) zählen u. a. das Individualitätsprinzip, individuelle (nicht kollektive) Menschenrechte, die Trennung von Religion und Politik, etc. Jürgen Habermas hat das Konzept vor nun fast 30 Jahren entwickelt und Bassam Tibi hat es vor etwa 20 Jahren auf die Integration angewendet-- und die deutsche Politik diskutiert noch immer darüber. Nun, manche brauchen eben etwas länger-- aber die Deutschen brauchen leider oft zu lange...
04.05.17
15:21
Johannes Disch sagt:
Es ist aber auch nicht richtig, de Maiziere in die rechte Ecke zu stellen, wie der Grüne Jürgen Trittin es tut. Ich stimme da überein mit "Andreas." Unser Grundgesetz gibt genügend Eckpfeiler für das, was mit "(Europäischer) Leitkultur gemeint ist. Man kann von einem viel beschäftigten Minister vielleicht nicht so viel Grundlagenwissen über kulturelle und historische Dinge erwarten. Aber von seinem Stab. Vielleicht sollten die Ministerien mal mehr Geistes-und Sozialwissenschaftler einstellen, statt nur Ökonomen und Juristen.
04.05.17
19:53
Manuel sagt:
Die europäische Kultur verträgt sich halt nur schwer mit der mittelalterlich-islamischen Gesellschaftsordnung!
05.05.17
15:19
Yavuz Hallac sagt:
Es würde mich interessieren, wie diese Leitkultur definiert werden soll. Soll es ganz im Sinne von Europa eine europäische Leitkultur geben? Wenn ja, nach welchem Land? Wenn nein, wie sieht dann das ganze in Europa aus. Muss dann jeder EU - Bürger einen Kurs belegen, wenn er von einem Land zum anderen hinzieht oder muss er erst seine bedingungeslose und uneingeschränkete Unterwerfung an die Leitkulutr beweisen. Ich vermute jedoch, dass es eine deutsche Leitkultur geben soll: Ob nun der Inhalt für das Leben in Berlin - Großstadt -, Memmingen - Provinzstadt -, oder gar für ein Dorf sein soll. Vor allem sollte doch jemand fragen, was der Innenminsiter da festhalten will. Etwas, was nicht in den Gesetzen steht? Nach "gefühl" oder nach "allgemeiner Auffassung"? Dann wird vermutlich die Bestrafung auch eine derartige sein. Ich bin auch der Meinung, dass dies ein Wink an die Rechte Ecke ist.
05.05.17
15:21
Ute Fabel sagt:
Das Deutsche Grundgesetz hat schon einige Jahre am Buckel. Moderne Rechtsquellen sind die Europäische Menschenrechtskonvention und die Europäische Grundrechtecharta, die nicht außer Acht zu lassen sind.
11.05.17
12:20
Johannes Disch sagt:
Die Europäische Menschenrechtskonvention hat auch schon einige Jahre auf dem Buckel. Sie wurde 1950 verabschiedet und ist damit fast genau so alt wie das deutsche GG.
19.05.17
19:37