Interview mit Henri Nickels

Islamfeindlichkeit: Viele Muslime melden Diskriminierung nicht

Haben Islamfeindlichkeit und Antisemitismus einiges gemeinsam? Wie gehen Muslime mit Diskriminierung um? Welche Projekte könnten helfen, Islamfeindlichkeit zu bekämpfen? Wir sprachen mit dem Experten Henri Nickels von der FRA über diese und weitere Themen.

02
11
2014
0

Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) ist ein Expertengremium, dass auch Themen wie Rassismus und Xenophobie in den Mitgliedsstaaten untersucht und die Entwicklung in Berichten festhält. Sie gibt der EU als unterstützendes Gremium Hinweise zu aktuellen Problemfeldern. Wir sprachen mit einem der wichtigsten Experten beim Themenfeld Islamophobie, Henri Nickels (PhD), über Islamfeindlichkeit und Antisemitismus.

IslamiQ: Herr Nickels, die rassistische Diskriminierung, unter der Juden in Europa seit Jahrhunderten leiden, verschärfte sich im letzten Jahrhundert. Das häufigste Argument für diese Diskriminierung war, dass Juden sich nicht in die Gesellschaft, in der sie lebten, einfügten und somit der jeweiligen Kultur gegenüber eine Bedrohung darstellten. Können wir in diesem Zusammenhang annehmen, dass es eine Vergleichbarkeit zwischen den damals vorgebrachten antisemitischen Argumenten und den islamfeindlichen Argumenten von heute gibt?

Henri Nickels: Rassistische und fremdenfeindliche Einstellungen in EU Mitgliedsstaaten werden weniger mit biologischen Merkmalen oder „traditionellen“ Erwägungen der Überlegenheit einer Rasse in Verbindung gebracht. Sie werden stattdessen in zunehmendem Maße durch kulturelle Überlegungen und Intoleranz gegenüber anderen dominiert, diese manifestieren sich z. B. im Ausdruck von Empfindungen, die gegen Roma, Juden, Muslime oder Migranten gerichtet sind. In diesen Fällen geben die rassistischen und fremdenfeindlichen Haltungen die Vorstellungen wieder, dass Roma, Juden, Muslime oder Migranten unfähig oder nicht gewillt sind, sich in die Gesellschaft zu integrieren und dass sie eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen.

Nach den Ergebnissen unserer Forschung ist es schwierig, ein exaktes Profil der Täter von Hassverbrechen zu bestimmen. Hassverbrechen sind Verbrechen, welche mit einer verzerrten Motivation, wie dem Antisemitismus oder der Islamfeindlichkeit begangen werden. Die Gründe hinter der Diskriminierung auf dieser Grundlage variieren zwischen den verschiedenen Tätertypen, aber es ist festzuhalten, dass die meisten Vorfälle der Gewalt oder Androhung solcher gegen Angehörige von Minderheiten oder ethnischen Gruppen nicht von Mitgliedern rechtsextremer Gruppen verübt werden. Angriffe wie diese werden mehr oder weniger durch diffuse Angstgefühle oder dem Rassismus von Menschen motiviert, die keinerlei Verbindungen zum Rechtsextremismus aufweisen. Nichtsdestotrotz können Elemente der rechtsextremen Ideologie und die damit verbundenen intoleranten Haltungen verteilt über alle Schichten der Gesamtbevölkerung gefunden werden, wie Berichte aus Österreich, Frankreich, Deutschland, der Slowakei und Schweden aufzeigen.

 

IslamiQ: Einige Wissenschaftler und Politiker behaupten, dass die lange Tradition des Hasses gegen Juden in Europa durch den Hass gegen Muslime ersetzt wurde und dass der Antisemitismus durch die Islamfeindlichkeit ersetzt wurde. Haben Sie nach den Forschungen, die Sie durchgeführt haben, solch eine Tendenz beobachtet? Können Sie diese Behauptungen begründen?

Henri Nickels: Die Entwicklungen, die wir in diesem Bereich beobachtet haben, deuten nicht auf eine Übertragung oder Umstellung vom Antisemitismus in Richtung Islamfeindlichkeit. Beide bleiben, wie die Forschungen der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) aufzeigen, Realitäten in der Europäischen Union. Trotz der lang anhaltenden Verpflichtungen und Bemühungen der EU-Mitgliedsstaaten, Verbrechen, die durch Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und der damit einhergehenden Intoleranz motiviert sind, entgegenzuwirken, finden diese Verbrechen weiterhin in der ganzen EU statt. Die EU-Institutionen und EU-Mitgliedsstaaten müssen ihre Bemühungen im Kampf gegen beide Formen von Vorurteilen fortsetzen. Zum Beispiel zeigen unsere neuesten Ergebnisse, bezogen auf den Antisemitismus, einen beunruhigenden Grad der Diskriminierung, insbesondere am Arbeitsplatz und in der Bildung, eine verbreitete Angst vor Viktimisierung und eine steigende Sorge über Antisemitismus im Internet.

Bezüglich Islamfeindlichkeit haben wir im Zuge unserer neuesten Studie festgestellt, dass die höchsten Grade der Diskriminierung am Arbeitsplatz auftreten. Es ist schwierig die umfassenden Gründe oder Motive zu erschließen, da eine überwältigende Mehrheit ihre Erfahrungen mit Rassismus nicht meldet. Im Durchschnitt haben 79 % der muslimischen Befragten, insbesondere Jugendliche, nach unseren letzten Umfrageergebnissen ihre Erfahrungen mit Diskriminierung nicht gemeldet. Dies bedeutet, dass Tausende Fälle von Diskriminierung und rassistischen Verbrechen unerkannt bleiben und deshalb nicht in offiziellen Beschwerden und Mechanismen zur amtlichen Datenerhebung im Bereich Strafverfolgung verzeichnet werden.

Menschen ohne die jeweilige Staatsangehörigkeit und jene, die in dem Land erst seit kürzester Zeit leben, melden Diskriminierungen am unwahrscheinlichsten. Bezüglich der Gründe, diese Vorfälle nicht zu melden, glauben 59 % der muslimischen Befragten, dass „durch das Melden nichts passiere oder sich ändern werde“ und 38 % sagen, dass „es die ganze Zeit geschieht“. Deshalb bemühen sie sich erst überhaupt nicht, Vorfälle zu melden.

Von diesen muslimischen Befragten, die Diskriminierung in den letzten 12 Monaten erfahren haben, glaubt die Mehrheit, dass diese hauptsächlich auf ihrem ethnischen Hintergrund beruht habe. Nur 10 % gaben an, dass sie denken, die Diskriminierung, die sie erfahren haben, beruhe allein auf ihrer Religion. Tatsächlich scheint das Tragen von religiöser Bekleidung (wie dem Kopftuch) nicht die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, diskriminiert zu werden.

 

IslamiQ: Trotz der jüngsten historischen Tragödie und bitteren Erfahrungen, wohin Intoleranz führen kann, gibt es weiterhin einen Anstieg in antisemitischen und anti-muslimischen Ressentiments in Europa. Was sind die Gründe für diese Entwicklung in den europäischen Gesellschaften?

Henri Nickels: Wie oben erwähnt, bleiben Antisemitismus und Islamfeindlichkeit beide Realitäten in der Europäischen Union, was teilweise darauf beruht, dass rassistische und fremdenfeindliche Einstellungen in den EU-Mitgliedsstaaten weniger mit biologischen Merkmalen oder „traditionellen“ Erwägungen der Überlegenheit einer Rasse verbunden sind. Stattdessen werden diese in zunehmendem Maße durch kulturelle Überlegungen dominiert, diese manifestieren sich z. B. im Ausdruck von Empfindungen, die gegen Roma, Juden, Muslime oder Migranten gerichtet sind. In diesen Fällen geben die rassistischen und fremdenfeindlichen Haltungen die Vorstellungen wieder, dass Roma, Juden, Muslime oder Migranten unfähig oder nicht gewillt sind, sich in die Gesellschaft zu integrieren und dass sie eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen.

Nach offiziell gemeldeten Daten, z. B. von Behörden aus Österreich, Dänemark, Finnland, Frankreich und Schweden, zu islamfeindlichen oder anti-muslimischen Verbrechen aus dem Jahr 2012 können wir einen Anstieg beider Verbrechensarten nicht bestätigen. Zum Beispiel meldeten die österreichischen Behörden einen Rückgang der islamfeindlichen/anti-muslimischen Verbrechen zwischen 2010 und 2011, während jene in Frankreich und Schweden in dieser Zeit einen Anstieg angaben. Die nationale Kommission für Menschenrechtsfragen (CNCDH) in Frankreich schreibt den größten Anstieg der verzeichneten anti-muslimischen Aktionen und Bedrohungen derselben Zeit der allgemeinen Umsetzung der Aufzeichnungsregeln zu. Dies ist ein deutlicher Indikator dafür, inwieweit Veränderungen der Zählweise die Analyse der Trends in verzeichneten Verbrechen beeinflussen kann. Die Quote der verzeichneten islamfeindlich/anti-muslimischen Verbrechen in Finnland ist über die Jahre konstant geblieben, mit 14 Fällen, die im Jahr 2009 verzeichnet wurden, 15 im Jahr 2010 und 14 im Jahr 2011. Aufgrund dieser Zahlen können wir keine Entwicklung zu einem Anstieg dieser Arten des Verbrechens in Europa bestätigen.

 

IslamiQ: Sie sammeln und analysieren nicht nur die Daten über den gegenwärtigen Stand bezüglich der Grundrechte der Menschen, die in Europa leben, sondern, teilen Ihre Ergebnisse und ihren fachlichen Rat mit verschiedenen Institutionen der Europäischen Union und Behörden der EU Mitgliedsstaaten. Finden Sie, dass sich die europäischen Entscheidungsträger hinreichend bemühen, fremdenfeindliche Ansichten, wie den anti-muslimischen Rassismus und den Antisemitismus zu verhindern?

Henri Nickels: Der Kampf gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und der damit einhergehenden Intoleranz erhielt im Januar 2013 auf höchster politischer Ebene Aufmerksamkeit. Der irische Vorsitz des Rates der Europäischen Union richtete ein informelles Treffen der Justiz- und Innenminister zu EU Aktionen gegen Hassverbrechen, Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit aus, gestützt auf FRA Belegen, die vom Direktor des FRA präsentiert wurden. Dieses Treffen bildete die Grundlage für das kommende Jahr und fokussierte die Aufmerksamkeit der politischen Führer auf ihre Pflicht diesem Phänomen entgegenzuwirken.

Das Europäische Parlament forderte im März 2013 ferner „die Mitgliedsstaaten dazu auf, alle nötigen Mittel zu ergreifen, um das Melden von Hassverbrechen und jeglicher rassistischer und fremdenfeindlicher Verbrechen zu fördern und um den adäquaten Schutz von Menschen, die Verbrechen melden, und von Opfern rassistischer und fremdenfeindlicher Verbrechen zu gewährleisten.“ Der Rat der Europäischen Union fokussierte in ihren Beschlüssen zu Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit vom Juni die Aufmerksamkeit auf den Bedarf, mehr konkrete Aktionen zu entwickeln, um „extremen Formen der Intoleranz, wie dem Rassismus, Antisemitismus, der Fremdenfeindlichkeit und Homophobie entgegenzuwirken.“

Die Minister der 17 EU-Mitgliedsstaaten trafen sich im September in Rom, um den Strom von rassistischen Angriffen, die gegen Cécile Kyenge, der ersten Ministerin in Italien mit afrikanischen Wurzeln, gerichtet waren, zu verurteilen. Sie riefen zu einer paneuropäischen Zusammenarbeit im Kampf gegen Rassismus durch die Förderung von Vielfältigkeit auf, wobei sie die besondere Verantwortung der politischen Führer hervorhoben. Alle 28 Mitgliedsstaaten unterzeichneten im November 2013 zu diesem Thema die sogenannte Deklaration von Rom.

 

IslamiQ: Welche Wirkung könnte Ihrer Meinung nach eine Kooperation zwischen Muslimen und Juden mit aktiver Beteiligung von jüdischen und muslimischen NGOs im Kampf gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit haben?

Henri Nickels: Ein direktes Beispiel ihres Einflusses ist ihre gemeinsame Unterstützung dafür, Hassverbrechen zu verurteilen, z. B. nach der Präsentation der letzten Antisemitismusumfrage der FRA, die auf Muslime als eine der Tätergruppen von Hassverbrechen gegen die jüdische Gemeinde hinwies. In ihrer gemeinsamen Presseerklärung verurteilten Vertreter sowohl jüdisch als auch muslimisch europäischer Gemeinden diese Art von Verbrechen und drängten auf ein gemeinsames Handeln.

Wir haben gesehen, dass NGOs von den guten Methoden des jeweils anderen lernen, einander unterstützen sowie gemeinsame Aktionen an politische Entscheidungsträger herantragen können. Zum Beispiel bleiben Beweise der Islamfeindlichkeit oder anti-muslimischer Ressentiments oft nur anekdotenhaft, obgleich Muslime häufig Opfer von rassistischen und fremdenfeindlichen Angriffen werden. Dies beruht darauf, dass lediglich sehr wenige Datenerhebungsverfahren diese Art des Vorurteils verzeichnen. Eines dieser Verfahren ist Tell MAMA, ein das Vereinigte Königreich umfassender „öffentlicher Dienst zur Erhebung und Überwachung von anti-muslimischen Angriffen.“

Es wurde von Faith Matters, einem Wohltätigkeitsverein, entwickelt, „welcher darauf hin arbeitet, Extremismus zu reduzieren und Plattformen für Diskurse und Interaktionen zwischen muslimischen, Sikh-, christlichen und jüdischen Gemeinden im gesamten Vereinigten Königreich zu entwickeln.“ Tell MAMA wird zum Teil durch das Ministerium für kommunale Angelegenheiten und örtliche Selbstverwaltung finanziert. Opfer von Verbrechen können diese über eine Reihe von Kanälen melden, einschließlich der Tell MAMA Internetseite, per Telefon, Textnachricht, E-Mail oder auf Plattformen sozialer Netzwerke, wie beispielsweise Facebook oder Twitter.

Der Community Security Trust, eine das Vereinigte Königreich weite jüdische Organisation mit weitreichender Erfahrung im Erfassen von antisemitischen Verbrechen, ist in der Beratergruppe der Tell MAMA vertreten und hilft bei der Entwicklung ihres Datenerhebungsverfahrens.

Das Gespräch führte Rahime Söylemez.