Koran

Viel Raum für Interpretationen

Die Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi, Mouhanad Khorchide und Bülent Uçar fordern eine kritische Lesart des Koran. Nur so lasse sich das Problem des Terrors im Namen der Religion an der Wurzel angehen.

20
01
2015

Eine historisch-kritische Lektüre des Koran fordert der Freiburger Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi. Nur so lasse sich das Problem des Terrors im Namen der Religion an der Wurzel angehen, schreibt der Leiter des Fachbereichs Islamische Theologie und Religionspädagogik der Pädagogischen Hochschule Freiburg in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung (Montag).

Humanistische Kraft des Islams

„Den Islamisten dienen als Handlungsanweisungen doch einige medinensische Koranpassagen und das Handeln des Propheten selbst, somit kanonische Quellen der islamischen Rechts- und Religionslehre“, so Ourghi. Einen Schnitt setzt der aus Algerien stammende Wissenschaftler im Jahre 624 an. Bis dahin habe Mohammed, der zwei Jahre zuvor von Mekka nach Medina auswanderte, eine „dialogische Verständigung“ mit den arabischen Heiden sowie den Juden und Christen gesucht. Nach und nach hätten dann jedoch politische Ziele die Verkündigung der göttlichen Botschaft verdrängt.

„In einem modernen Islam wird nicht die Gewalt eines Gottes gesucht, sondern ein Gott, der die Unantastbarkeit der Menschenwürde zu garantieren vermag“, fasst der Experte zusammen. „Diese unabdingbare Voraussetzung kann der Islam nur erfüllen, wenn er jeder Art von Gewalt entsagt und seine humanistische Kraft durch eine zeitgenössische Reformlektüre jenseits politischer Interessen erneuert.“

Gläubige Menschen sollen den demokratischen Staat mitprägen

Nach Einschätzung des Religionspädagogen Bülent Uçar kann die Weitergabe des Wissens von Theologen und Religionslehrern eine Radikalisierung von Muslimen verhindern. Es sei wichtig, dass sich Theologen mit den schwierigen Textstellen auseinandersetzen, damit sie sich glaubwürdig von den Terrorakten distanzieren und ihr Wissen an die Laien weitergeben könnten, sagte Uçar in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. „Wenn wir diese Themen nicht besprechen, würden wir das Feld den Extremisten, den Rattenfängern überlassen.“

Radikalisierte Muslime bezögen sich auf problematische Textstellen in den Primärquellen des Islam und der Tradition, „um im Namen des Islams Gewaltakte zu verüben“, führt der Islamwissenschaftler der Universität Osnabrück aus. Die Koranverse dürften jedoch nur vor dem damaligen historischen Hintergrund verstanden werden. Im siebten Jahrhundert sei Krieg auf der Arabischen Halbinsel der „Normalzustand“ gewesen. Muslime mussten aus Medina auswandern, hatten ihren eigenen Stadtstaat gegründet und wurden angegriffen. „Unter diesen Rahmenbedingungen haben sie zu den Waffen gegriffen, sich verteidigt und auch Präventivkriege geführt“, so Ucar. Dies schlage sich in den Koranversen nieder.

Der Prophet habe seinen Staat Medina nicht durch Zwang, Gewalt oder Terror begründet. Religion sei nicht dazu da, den Staat zu islamisieren. „Religionen sollen Menschen zu Gott führen“, sagte der Theologe. Gläubige Menschen sollen laut Uçar durch Teilnahme an Wahlen einen demokratischen Staat mitprägen.

Vereinbar mit pluraler Gesellschaft und Rechtsstaat

Der muslimische Theologe Mouhanad Khorchide kritisierte unterdessen eine „rückständige“ Lesart des Korans. „Wir muslimischen Theologen bekämpfen sie, und sie bekämpft uns. Aber man darf nicht sagen: Das ist der ganze Islam“, sagte der Münsteraner Professor dem Bonner General Anzeiger.

Es gebe viele andere Lesarten und Schulen des Islams, die mit pluraler Gesellschaft und Rechtsstaat vereinbar seien, fügte der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie hinzu. Der Koran lasse viel Raum für Interpretationen. Er könne nur lebendig erhalten werden, wenn er immer wieder neu in der jeweiligen aktuellen Situation befragt werde. Um den gewaltbereiten Positionen von Salafisten entgegenzutreten, sei ein „aufgeklärter Diskurs von unten“ nötig, so Khorchide. (KNA)

Leserkommentare

Salim Spohr sagt:
786 – Wenn der Freiburger Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi eine "historisch-kritische Lektüre des Koran" fordert, so halte ich dem entgegen, daß der Koran selbst nicht eine solche, ja überhaupt nicht irgendeine "Lektüre" fordert, sondern – und das tut er schon in seinem eigenen Namen "qur'ân" –, daß er rezitiert werde. Es gilt, dieses eigentümliche Wunder, daß der Koran ist, durch ihn selbst wirken zu lassen. So wie ein Dichter nach einem Wort Nietzsches nicht gelesen, nicht verstanden oder interpretiert, sondern auswendig gelernt werden will, so will der heilige Koran sein endloses Heil in seinem Klang entfalten. – Al-Hamdulillâh! – Und zur Lösung sozialer und politischer oder moralischer Probleme müssen wir uns an den Propheten, auf dem und dessen Leuten Frieden und Segen seien, und seine Sunna halten. Auf keinen Fall dürfen wir ein Opfer der Strategie des Britischen Geheimdienstes werden, der zum Zwecke einer Schwächung des Islams jene "Der-Koran-allein-ist-genug"-Lüge verbreitete. – Also, die Mittel, auch und gerade heute auf diesem Planeten glücklich zu sein, und den Herrn der Welten zufrieden mit uns zu machen, liegen in der Entschlossenheit, dem Weg des Propheten, Friede sei auf ihm, zu folgen, und uns vom Klang des Korans leiten und beglücken zu lassen. – Hört doch auf, das Wunderwerk in einem erbsenzählerischen Sinn "kritisch" analysieren und so "verstehen" zu wollen, statt ihn zu bitten, Verständnis mit euch zu haben, auf daß es euch leichtfalle, ihn klingen zu lassen und seinem Klang zu folgen. Und in Erinnerung einer Geschichte Sayyidina Mûsas, alayhi salam, bitten wir: "Yâ Allâh, gib, daß wir uns so verhalten, daß Du erfreut bist von uns und wir glücklich sind mit Dir!" – Fâtiha.
21.01.15
0:29
Amir Zaidan sagt:
Schön und notwendig wäre es, wenn freie und unabhängige qualifizierte Fachleute - mit mehr als einem Bachelor durch ein Fernstudium oder einem Abschluss der sogenannten Islamwissenschaft an deutschen Unis mit Schwerpunkt arabischer, türkischer oder persischer Philologie - islamische Quellen wissenschaftlich losgelöst von irgendwelchen Interessen interpretieren. In Deutschland darf jemand mit einem Bachelor-Abschluss ohne Lehramtstudium nicht mal an einer Grundschule unterrichten. Aber wenn es um die sogenannte "islamische Theologie" geht, dann darf so einer sogar an der Universität mit einem Professor-Titel lehren. Was an deutschen Unis z. Z. gemacht wird, ist die islamischen Quellen von Nicht-Fachleuten mit akademischen Titeln so zu interpretieren, wie es die Arbeits- und Auftraggeber erwarten. Denn eine anders geartete und den politischen Interessen der Arbeitgeber zuwiderlaufende Interpretation bedeutet in Ungnade zu fallen. Wir brauchen auch in Deutschland unabhängige Geldgeber für eine objektive freie Forschung der islamischen Quellen und dies ist nur durch Waqf-Stiftungen möglich. Diese fehlen jedoch bis heute gänzlich.
21.01.15
16:29
K.B. sagt:
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, die Entwicklung der Bibelinterpretation der Christen in Deutschland zu vergleichen : Der Marburger Theologe Bultmann reduzierte die Aussagen des Neuen Testamentes auf das, was sich an Leitsätzen über menschliche Befindlichleiten aus ihnen gewinnen ließ. Den Anspruch der Bibel, in allen ihren Aussagen die verbindliche und objektive Offenbarung Gottes zu sein, lehnte er als unzeitgemäß und unhaltbar ab. Die Grundsätze der von ihm propagierten Bibelauslegung wurden an den theologischen Fakultäten und Seminaren mit der Zeit als einzig erlaubte Methode monopolisiert „Erledigt sind ... die Geschichten von der Himmel- und Höllenfahrt Christi; erledigt ist die Erwartung des mit den Wolken des Himmels kommenden ‚Menschensohnes’ und des Entrafftwerdens der Gläubigen in die Luft ihm entgegen . Erledigt ist durch die Kenntnis der Kräfte und Gesetze der Natur der Geister- und Dämonenglaube .. Die Wunder des Neuen Testamentes sind damit als Wunder erledigt ... Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testamentes glauben.“ [Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Veründigung, in: Kerygma und Mythos I, Hrsg. H.W. Bartsch, Hamburg 1967, 17 f.]
23.04.16
5:03