Integration

Die Rede von Parallelgesellschaften in Deutschland

Die Debatten um Parallelgesellschaften, in denen sich mutmaßlich Gruppen von der Gesellschaft abschotten, führen an den wahren Problemen der Integration vorbei. Rosemarie Sackmann zeigt, wie die Debatten auch genutzt werden, um die staatliche Autorität zu stärken.

09
06
2014

Die Rede von „Parallelgesellschaften“ begleitet uns bereits seit beinah einem Vierteljahrhundert. In die öffentliche Diskussion eingeführt wurde der Begriff Anfang der 1990er Jahre durch Wilhelm Heitmeyer, der damit die Folgen eines – seiner Wahrnehmung nach – steigenden Desinteresses türkischer Jugendlicher gegenüber der deutschen Gesellschaft bezeichnete. Das Desinteresse führte Heitmeyer dabei auf Integrationsprobleme zurück. Somit findet sich am Anfang der Verwendungsgeschichte des Begriffs der „Parallelgesellschaft“ ein Anschluss an sozialwissenschaftliche Forschungsstränge, in denen die Exklusion der Zuwanderer durch die Zuwanderungsgesellschaft thematisiert wurde. Allerdings ändert Heitmeyer dabei die Blickrichtung. Statt auf die unzureichende Integrationspolitik der Gesellschaft zu sehen, konzentriert er sich auf Des-Integration als Problem der Aufnahmegesellschaft. Damit wurde eine Bedrohung der deutschen Gesellschaft behauptet. Und was da drohte war – Gewalt.

Stark belebt wurde die Rede von der Parallelgesellschaft dann durch die Forderung nach Geltung einer deutschen Leitkultur, die vor allem von politischer Seite um die Jahrtausendwende aufgestellt wurde. Dies war ein starker Akzent in der Diskussion um das Gesellschaftsmodell der BRD. In der Folge wurden Vorschläge zur Ausbildung einer „multikulturellen“ Gesellschaftsordnung diskreditiert, wobei in den Diskussionen kaum Advokaten des Multikulturalismuskonzeptes auftraten. Der Grund dafür könnte sein, dass unter den Akteuren aus Politik und Gesellschaftswissenschaft, kaum jemand multikulturelle Gesellschaftsentwürfe festschreiben wollte. Je länger die Konzepte des Multikulturalismus diskutiert wurden, desto klarer wurde, dass das, was man eigentlich mit „Multikulti“ im Sinn gehabt hatte, so etwas wie Akzeptanz von kultureller Vielfalt war. Die, zumindest von einigen Akteuren spöttisch gemeinte, Bezeichnung „Multikulti“, traf die Intentionen wohl tatsächlich gut.

Akteure lenken gesellschaftliche Debatten

Einen zusätzlichen Akzent im Bedeutungsspektrum der Rede von der Parallelgesellschaft setzen Diskussionsteilnehmer wie Necla Kelek, die von sich behaupten, dass sie einen besonderen Einblick in ein ansonsten nur schwer durchschaubares Milieu mit wissenschaftlicher Expertise verbinden würden. Kelek kritisiert zwei Seiten: Zum einen männliche muslimische Einwanderer, die sich von der (fortschrittlichen) westlichen Kultur distanzieren würden, um so ihre von Gewalt geprägte patriarchale Herrschaft über Ehefrauen und Töchter aufrecht zu halten. Dass diese Darstellungen in dieser Form falsch sind, wurde bereits verschiedentlich angemerkt (beispielsweise von Rommelspacher 2009). Aber es gehört zur Natur dieser Art von Diskussionen, dass sie durch den Verweis auf Daten nicht wirklich beeinflussbar sind.

Die zweite Seite, die Kelek kritisiert, sind deutsche Politiker, die entweder nicht sehen würden, was vorgeht, oder die sich gegen die muslimische Integrationsverweigerung nicht durchsetzen würden. Die Behauptung, Muslime in Deutschland wären mehrheitlich nicht an Integration interessiert, stimmt wiederum nicht mit den Daten überein (siehe Rommelspacher 2009). Hervorzuheben ist hier aber die Behauptung des Staatsversagens: Behauptet wird, dass der Staat allgemein die deutschen Werte nicht durchsetzen und verteidigen würde und speziell, dass er die Frauen der Zuwanderer nicht vor Unterdrückung schützen würde. Dieselbe doppelte Stoßrichtung von (durch Daten nicht gedeckten) Diffamierungen der Muslime und Anklagen gegenüber dem Staat (inklusive Wissenschaftlern und Politikern) findet sich auch in Thilo Sarrazins Beitrag zu diesen Diskussionen, allerdings betont er, dass die deutsche Gesellschaft nicht hinreichend geschützt würde. Die doppelte Kritik – die Warnung vor gefährlichen Elementen und vor dem Versagen des Staates –  verstärkt das Gefährdungsszenario.

Es geht um Einheit

Die Rede von ‚Parallelgesellschaften‘ erweckt zunächst den Eindruck, als ginge es um Unverbundenheit. Doch ist dies offenbar nicht der entscheidende Punkt, denn in den Diskussionen wird ja vor einer Gefährdung der deutschen Gesellschaft durch Parallelgesellschaften gewarnt. Es wird unterstellt, dass wesentliche Teile der deutschen Kultur von einigen Bevölkerungsgruppen nicht geteilt würden; man könne sich daher nicht darauf verlassen, dass grundlegende Regeln allgemeine Geltung hätten; und man könne sich auch nicht darauf verlassen, dass Staat, Justiz und Polizei über die Einhaltung der Regeln wachen würden.

Es geht bei Parallelgesellschaften also nicht um Unverbundenheit, sondern um „Einheit“. Auch der Gesellschaftsbegriff ist unpassend, weil Zuwanderer keine institutionell vollständigen Gesellschaften bilden können, wie dies beispielsweise den territorial weitgehend getrennten frankophonen und anglophonen Kanadiern möglich wäre. Tatsächlich geht es nicht um Gesellschaften, sondern um kulturell – durch Lebensformen, Religion und Sprache – definierte Gruppen. Nicht Gesellschaften, sondern Lebenswelten sind gemeint.

Vielfalt wird als Problem gesehen

Kulturelle Pluralisierung ist ein Merkmal westlich-moderner, funktional differenzierter, demokratisch verfasster politischer Gemeinschaften und kulturelle Pluralisierung nimmt durch die Einflüsse fortschreitender Individualisierungsprozesse (getragen von zunehmender Bildungsbeteiligung) und durch zunehmenden grenzüberschreitenden Austausch (im Zuge von Internationalisierung und Globalisierung) zu. Wir leben alle in relativ kleinen Lebenswelten und haben in eine große Zahl anderer Lebenswelten keinen direkten Einblick. Allerdings bekommen wir reale und fiktive Einblicke in nahezu jedes Milieu durch Reportagen, Filme und durch Gerüchte vermittelt. Man kann hier an die Milieus der gesellschaftlichen Hinterbühne denken (wie das „Rotlichtmilieu“); man kann aber auch an andere Milieus denken: gläubige Menschen (egal welcher Religion) sind fremd für Menschen, die Religion für Verblendung halten; Reiche und Arme haben keinen Umgang miteinander, usw.

Angesicht der Vielfalt der Lebenswelten liegt die Frage nahe, warum manche dieser Lebenswelten als problematisch angesehen werden und andere nicht? Warum wird die japanische Zuwanderergruppe in Deutschland nicht als Problem angesehen, wohl aber die türkische (beziehungsweise seit den 1990er Jahren zunehmend „die muslimische“)? Zwar kann man dafür Gründe anführen (beispielsweise: wohlhabende Gruppen gelten eher als unproblematisch), doch ist diese Art der Thematisierung von Problemgruppen letztlich nicht in der Natur der Gruppen begründet. Auch spezielle politische Interessen oder generelle Machtkämpfe sind nur Einflüsse aber nicht Ursachen. Tatsächlich könnten diese Diskussionen auf viele Gruppen (anhand ganz unterschiedlicher Merkmale) gerichtet sein. Warum ist das so und worum geht es in den Diskussionen überhaupt?

Politik hat Verdacht verstärkt

Meines Erachtens verweisen diese Diskussionen auf ein Problem westlich-moderner Gesellschaften, das in den letzten Jahrzehnten besonders virulent geworden ist: Bei realer Vielfalt und Unübersichtlichkeit werden zugleich nationale Homogenität und (staatliche) Kontrolle ihrer Aufrechterhaltung behauptet. Zweifel an der Gültigkeit dieser Behauptungen können jederzeit auftreten. Die Politik reagiert auf unterschiedliche Weise. In Deutschland wurde seit den 1990er Jahren seitens der Politik die Maschinerie von Zweifel und Verdacht gegenüber den Muslimen manches Mal eher noch angefeuert als abgebremst. Damit wurde aber auch der Zweifel der Bürger an der Kontrollmacht des Staates verstärkt. Während Aufklärung wenig Einfluss auf die Diskussionen hat, haben Verstärkungen der Verdachtsmaschinerie durchaus Effekte. Sie führen zur Radikalisierung der Einstellungen auf der Seite derjenigen, die meinen ein Problem identifiziert zu haben, um das sich offenbar niemand kümmert. Und im Gegenzug führen sie zu Rückzug oder Radikalisierung eines Teils derjenigen, die als Problemursache identifiziert wurden. Diese Entwicklungen lassen sich in Deutschland beobachten.

Wenn, wie erwähnt, Aufklärung zwar nicht nutzlos ist, aber doch wenig direkten Einfluss auf die Diskussionen hat, was kann man dann tun, um die fatale Situation zum Positiven zu verändern? Integrativ wirken vor allem gemeinsame Projekte. Potentielle Problemfelder dafür wären beispielsweise wachsender Rassismus und Antisemitismus unter Deutschen und Einwanderern. Gegen diese Entwicklungen sollte ein breiter gesellschaftlicher Zusammenschluss gebildet werden. Daneben sind weitere Projekte denkbar. Beispielsweise ist das Wirken muslimischer Streitschlichter in deutschen Städten ein interessantes Phänomen der Selbstorganisation (Schirrmacher 2013), das einerseits integratives Potential hat, das aber andererseits auch anfällig für Machtmissbrauch innerhalb der Zuwanderergruppe sein kann.  Seitens des Staates könnte – gemeinsam mit den entsprechenden Zuwanderergruppen – geklärt werden, wie man das integrative Potential dieser Praxisformen stützen und gleichzeitig Fehlentwicklungen entgegenwirken kann. In solchen gemeinsamen Projekten können alle Beteiligten, die staatlichen Institutionen wie die Zuwanderergruppen, ihre Handlungsfähigkeit und ihre Gemeinwohlorientierung demonstrieren. Solche Praxis kann den letztlich abstrakten Probleminszenierungen in der Diskussion um Parallelgesellschaften den Boden entziehen.

 

Literaturhinweise:

  • Rommelspacher, Birgit 2009: Integration der Muslime. Argumentationen und Streitpunkte. In: Eckert – Das Bulletin, Nr. 5, S. 4-11.
  • Schirrmacher, Christine 2013: Friedensrichter, Streitschlichter, Schariagerichtshöfe. Ist die Rolle der Vermittler auf den säkularen Rechtsstaat übertragbar? Rechtspolitisches Forum 62: Universität Trier, Institut für Rechtspolitik.

Leserkommentare

Chris sagt:
viele Leute denken ja die Türken, Südländer migranten oder wie man sie nennen mag, es toll finden in schlechte Gegenden zu ziehen, wenig geld zu haben usw. tatsächlich muss man Mechanismen wie DISKRIMINIERUNG auf dem Arbeitsmarkt und Wohnungsmarkt usw. bedenken ich habe selber miterlebt, wie die Personalverantwortlichen in den Betrieben sind es sind meistens weisse, blonde deutsche Frauen mit Vorurteilen und bestätigt durch diverse Studien Das sind dann solche Leute, die mittags sushi essen und einen Auslandsaufenthalt absolviert haben aber trotzdem Vorurteile haben leider oft gang und gäbe man schaue sich alleine mal REWE an dort in den Märkten sieht man viele Migranten und nichtdeutschaussehnde Menschen und blickt man in die Verwaltung und in andere Gefilde da sieht man nur deutsche Namen oder vielleicht ab und an mitteleuropäische Namen im Organgramm tja das ist nicht gerade toll. Dann schmücken sich solche Unternehmen mit Zahlen zu beschäftigten, die nichtdeutscher Herkunft sind
28.07.16
20:15